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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Sozialpolitik, Nationalökonomie und Reichsfinanzreform

quemte. Der finanzpolitische Zweck der Verbrauchssteuern wird trotz des
Minderverbrauchs erreicht. Nur darf man die Ertragsberechnungen nicht auf
eine falsche Basis stellen. Man muß davon ausgehen, daß zwar nicht der
Verbrauch, wohl aber der Aufwand für Tabak und Alkohol der gleiche bleibt.
Der Arbeiter wird ebensoviel Geld wie vorher für Tabak und Alkohol aus¬
geben, aber weniger an Qualität oder Quantität dafür empfangen. Die
Differenz erhält das Reich. Auf dieser Grundlage läßt sich der Ertrag der
Verbrauchssteuern mit der wünschenswertesten Sicherheit vorher berechnen.

Noch ein andrer Punkt spielt in den Erörterungen über die Verbrauchs¬
steuern eine große Rolle, die Rücksicht auf die Arbeitskräfte, die bei einer
Schädigung der Getränke- und Tabakindustrien ihr Brot verlieren würden. Auch
hier zeigt sich eine Trübung des nationalökonomischen Denkens durch das
soziale Empfinden. Man raucht und trinkt doch wahrlich nicht den Tabak- und
Brauindustrien zuliebe! Wenn der Minderverbrauch an Tabak und alkoholischen
Getränken einen nationalökonomischen Fortschritt bedeutet, und das steht außer
Zweifel, solange man nicht in dem Wachsen des nationalen Kapitals einen
ökonomischen Rückschritt sieht, so müssen auch die nachteiligen Folgen in den
Kauf genommen werden, die sich für einzelne aus dem Verlust ihrer Erwerbs-
tütigkeit ergeben, bis sie im gewerblichen Getriebe eine andre Beschäftigung
gefunden haben. Es ist nun einmal nicht anders, als daß jeder ökonomische
Fortschritt Arbeitskräfte entbehrlich macht. Wer wird deshalb den Fortschritt
ablehnen wollen? Man müßte denn jede arbeitsparende Maschine als soziales
Unglück beklagen. Und wenn von allen Seiten der Ruf nach sparsamerer Ver¬
waltung ertönt: glaubt man denn, diese Sparsamkeit lasse sich durchführen,
ohne daß zahlreichen von den Aufträgen und Arbeiten des Reiches lebenden
Personen die Verdienstmöglichkeit verkürzt oder genommen würde?

Die Neichsfinanzreform wird sich nicht auf verbrauchsvermindernde Ab¬
gaben beschränken. In einigen Steuervorschlägen, insbesondre der Nachlaßsteuer,
wird die Erhebung von Summen beantragt und wahrscheinlich auch beschlossen
werden, die andernfalls der Vermehrung von Kapitalvermögen gedient haben
würden. Das ist bei der heutigen wirtschaftlichen Lage der deutschen Nation
vom nationalökonomischen Standpunkt gesehn eine ungerechtfertigte und bedauer¬
liche Konzession an die soziale Gefühlspolitik. Die Kapitalbildung ist durch die
Einkommenbesteuerung der Einzelstaaten, deren progressive Sätze sich vornehmlich
auf die starken Schultern, das heißt die Mehrer des nationalen Kapitals legen,
in einer Weise belastet, die jedem sozialen Empfinden Genüge tun sollte. Auch
auf die Nachlaßsteuer sollte das Reich zugunsten der Einzelstaaten verzichten
können. Aber wie die parteipolitischer Verhältnisse heute liegen, muß man
sie hinnehmen, wenn man nicht die ganze Reichsfinanzreform scheitern lassen
will, und diese Eventualität vermöchte kein gewissenhafter Politiker zu verant¬
worten. Dann aber mache man sich noch eins klar. Die Verwendung von
Kapitalteilen, denn solche sind der Ertrag der Nachlaßsteuer, zu Konsumtiv-


Sozialpolitik, Nationalökonomie und Reichsfinanzreform

quemte. Der finanzpolitische Zweck der Verbrauchssteuern wird trotz des
Minderverbrauchs erreicht. Nur darf man die Ertragsberechnungen nicht auf
eine falsche Basis stellen. Man muß davon ausgehen, daß zwar nicht der
Verbrauch, wohl aber der Aufwand für Tabak und Alkohol der gleiche bleibt.
Der Arbeiter wird ebensoviel Geld wie vorher für Tabak und Alkohol aus¬
geben, aber weniger an Qualität oder Quantität dafür empfangen. Die
Differenz erhält das Reich. Auf dieser Grundlage läßt sich der Ertrag der
Verbrauchssteuern mit der wünschenswertesten Sicherheit vorher berechnen.

Noch ein andrer Punkt spielt in den Erörterungen über die Verbrauchs¬
steuern eine große Rolle, die Rücksicht auf die Arbeitskräfte, die bei einer
Schädigung der Getränke- und Tabakindustrien ihr Brot verlieren würden. Auch
hier zeigt sich eine Trübung des nationalökonomischen Denkens durch das
soziale Empfinden. Man raucht und trinkt doch wahrlich nicht den Tabak- und
Brauindustrien zuliebe! Wenn der Minderverbrauch an Tabak und alkoholischen
Getränken einen nationalökonomischen Fortschritt bedeutet, und das steht außer
Zweifel, solange man nicht in dem Wachsen des nationalen Kapitals einen
ökonomischen Rückschritt sieht, so müssen auch die nachteiligen Folgen in den
Kauf genommen werden, die sich für einzelne aus dem Verlust ihrer Erwerbs-
tütigkeit ergeben, bis sie im gewerblichen Getriebe eine andre Beschäftigung
gefunden haben. Es ist nun einmal nicht anders, als daß jeder ökonomische
Fortschritt Arbeitskräfte entbehrlich macht. Wer wird deshalb den Fortschritt
ablehnen wollen? Man müßte denn jede arbeitsparende Maschine als soziales
Unglück beklagen. Und wenn von allen Seiten der Ruf nach sparsamerer Ver¬
waltung ertönt: glaubt man denn, diese Sparsamkeit lasse sich durchführen,
ohne daß zahlreichen von den Aufträgen und Arbeiten des Reiches lebenden
Personen die Verdienstmöglichkeit verkürzt oder genommen würde?

Die Neichsfinanzreform wird sich nicht auf verbrauchsvermindernde Ab¬
gaben beschränken. In einigen Steuervorschlägen, insbesondre der Nachlaßsteuer,
wird die Erhebung von Summen beantragt und wahrscheinlich auch beschlossen
werden, die andernfalls der Vermehrung von Kapitalvermögen gedient haben
würden. Das ist bei der heutigen wirtschaftlichen Lage der deutschen Nation
vom nationalökonomischen Standpunkt gesehn eine ungerechtfertigte und bedauer¬
liche Konzession an die soziale Gefühlspolitik. Die Kapitalbildung ist durch die
Einkommenbesteuerung der Einzelstaaten, deren progressive Sätze sich vornehmlich
auf die starken Schultern, das heißt die Mehrer des nationalen Kapitals legen,
in einer Weise belastet, die jedem sozialen Empfinden Genüge tun sollte. Auch
auf die Nachlaßsteuer sollte das Reich zugunsten der Einzelstaaten verzichten
können. Aber wie die parteipolitischer Verhältnisse heute liegen, muß man
sie hinnehmen, wenn man nicht die ganze Reichsfinanzreform scheitern lassen
will, und diese Eventualität vermöchte kein gewissenhafter Politiker zu verant¬
worten. Dann aber mache man sich noch eins klar. Die Verwendung von
Kapitalteilen, denn solche sind der Ertrag der Nachlaßsteuer, zu Konsumtiv-


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[0374] Sozialpolitik, Nationalökonomie und Reichsfinanzreform quemte. Der finanzpolitische Zweck der Verbrauchssteuern wird trotz des Minderverbrauchs erreicht. Nur darf man die Ertragsberechnungen nicht auf eine falsche Basis stellen. Man muß davon ausgehen, daß zwar nicht der Verbrauch, wohl aber der Aufwand für Tabak und Alkohol der gleiche bleibt. Der Arbeiter wird ebensoviel Geld wie vorher für Tabak und Alkohol aus¬ geben, aber weniger an Qualität oder Quantität dafür empfangen. Die Differenz erhält das Reich. Auf dieser Grundlage läßt sich der Ertrag der Verbrauchssteuern mit der wünschenswertesten Sicherheit vorher berechnen. Noch ein andrer Punkt spielt in den Erörterungen über die Verbrauchs¬ steuern eine große Rolle, die Rücksicht auf die Arbeitskräfte, die bei einer Schädigung der Getränke- und Tabakindustrien ihr Brot verlieren würden. Auch hier zeigt sich eine Trübung des nationalökonomischen Denkens durch das soziale Empfinden. Man raucht und trinkt doch wahrlich nicht den Tabak- und Brauindustrien zuliebe! Wenn der Minderverbrauch an Tabak und alkoholischen Getränken einen nationalökonomischen Fortschritt bedeutet, und das steht außer Zweifel, solange man nicht in dem Wachsen des nationalen Kapitals einen ökonomischen Rückschritt sieht, so müssen auch die nachteiligen Folgen in den Kauf genommen werden, die sich für einzelne aus dem Verlust ihrer Erwerbs- tütigkeit ergeben, bis sie im gewerblichen Getriebe eine andre Beschäftigung gefunden haben. Es ist nun einmal nicht anders, als daß jeder ökonomische Fortschritt Arbeitskräfte entbehrlich macht. Wer wird deshalb den Fortschritt ablehnen wollen? Man müßte denn jede arbeitsparende Maschine als soziales Unglück beklagen. Und wenn von allen Seiten der Ruf nach sparsamerer Ver¬ waltung ertönt: glaubt man denn, diese Sparsamkeit lasse sich durchführen, ohne daß zahlreichen von den Aufträgen und Arbeiten des Reiches lebenden Personen die Verdienstmöglichkeit verkürzt oder genommen würde? Die Neichsfinanzreform wird sich nicht auf verbrauchsvermindernde Ab¬ gaben beschränken. In einigen Steuervorschlägen, insbesondre der Nachlaßsteuer, wird die Erhebung von Summen beantragt und wahrscheinlich auch beschlossen werden, die andernfalls der Vermehrung von Kapitalvermögen gedient haben würden. Das ist bei der heutigen wirtschaftlichen Lage der deutschen Nation vom nationalökonomischen Standpunkt gesehn eine ungerechtfertigte und bedauer¬ liche Konzession an die soziale Gefühlspolitik. Die Kapitalbildung ist durch die Einkommenbesteuerung der Einzelstaaten, deren progressive Sätze sich vornehmlich auf die starken Schultern, das heißt die Mehrer des nationalen Kapitals legen, in einer Weise belastet, die jedem sozialen Empfinden Genüge tun sollte. Auch auf die Nachlaßsteuer sollte das Reich zugunsten der Einzelstaaten verzichten können. Aber wie die parteipolitischer Verhältnisse heute liegen, muß man sie hinnehmen, wenn man nicht die ganze Reichsfinanzreform scheitern lassen will, und diese Eventualität vermöchte kein gewissenhafter Politiker zu verant¬ worten. Dann aber mache man sich noch eins klar. Die Verwendung von Kapitalteilen, denn solche sind der Ertrag der Nachlaßsteuer, zu Konsumtiv-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/374>, abgerufen am 22.07.2024.