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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Sozialpolitik, Nationalökonomie und Reichsfinanzrefvrm

durch den demokratischen Sozialismus sacht in den Hintergrund geschoben
worden.

Solche Wandlungen haben ihr Gutes, aber auch ihr Böses. Der extreme
Liberalismus, der den Staat auf die Rolle des Nachtwächters verweisen
wollte, hat sich unter dem Einfluß des sozialen Gedankens zu einer frucht¬
bareren Auffassung von den Pflichten des Staates bekannt. Andrerseits ist
freilich der Klang der hochgestimmten liberalen Weltanschauung, wie sie im
dritten Viertel des vorigen Jahrhunderts das geistige Leben Deutschlands
beherrschte, in unsern Parlamenten mehr und mehr verhallt. Die Vorliebe
der heutigen Liberalen für direkte Steuern, deren Verwaltung das Eindringen
des Staates in die private Rechtssphäre der Bürger fordert, hat einen
durchaus illiberalen Charakter, und das Wehgeheul, das sich in freisinnigen
Blättern erhebt, wenn die Masse belastet werden soll, hat ganz den Übeln
Beigeschmack des Demagogentums, das nur von Volksrechten, nicht von Volks¬
pflichten weiß.

Den ihre Zeit beherrschenden geistigen Strömungen wohnt die Tendenz
inne, die Grenzen ihres eigentlichen Gebiets zu überschreiten und den Blick
zu trüben für eine objektive Betrachtung benachbarter Dinge. So entsteh"
die seltsamen Vorurteile und Irrtümer der Zeiten, über die sich die Nachwelt
nicht genug wundern kann. Wie hat in vergangnen Jahrhunderten der
religiöse Trieb erobert und geblendet; wie hat er hinübergegriffen auf die
Gebiete der Wissenschaft, der Justiz, der Politik und selbst die besten Köpfe
ihrer Zeit in einen Nebel von Torheit und Wahn gehüllt. Hier wird die
Geschichte zur Lehrmeisterin. Sie möge uns mahnen, die Lieblingsideen
unsrer Zeit kritisch zu betrachten. Der soziale Gedanke darf nicht zu kritik¬
loser Gefühlsduselei werden. Es gilt, ihn begrifflich klar zu erfassen und
die Grenzen zu bestimmen, die er nicht überschreiten darf. Denn schon be¬
ginnt er, sich ein Nachbargebiet zu unterwerfen; er dringt in die National¬
ökonomie ein. Bei der Beurteilung der Neichsfincmzreform legt sich der soziale
Gedanke wie ein Schleier vor das nationalökonomische Gesichtsfeld.

Daß die Neichfincmzreform eine spezifisch nationalökonomische Seite hat,
wird vor lauter Sozialpolitik regelmäßig übersehen. Wer die Reden und
Schriften über die große Frage durchblättert, findet das Thema nur unter
zwei Gesichtspunken abgehandelt. Zunächst unter den" finanzpolitischen:
Wieviel braucht das Reich? Sodann unter dem sozialpolitischen: Wie wird
die Summe unter möglichster Schonung der Schwachen aufgebracht? Aber
niemand fragt nach der Wirkung auf das nationale Vermögen. Die Wahl
der Besteuerungsart nach nationalökonomischen Motiven kommt kaum jemandem
in den Sinn.

Und doch fordert hierzu gerade die bisherige Finanzwirtschaft in der be¬
redtesten Weise auf. Daß das Reich eine Schuldenlast von vier Milliarden
Mark hat, ist an sich nichts Beunruhigendes. Sind doch die englischen und


Sozialpolitik, Nationalökonomie und Reichsfinanzrefvrm

durch den demokratischen Sozialismus sacht in den Hintergrund geschoben
worden.

Solche Wandlungen haben ihr Gutes, aber auch ihr Böses. Der extreme
Liberalismus, der den Staat auf die Rolle des Nachtwächters verweisen
wollte, hat sich unter dem Einfluß des sozialen Gedankens zu einer frucht¬
bareren Auffassung von den Pflichten des Staates bekannt. Andrerseits ist
freilich der Klang der hochgestimmten liberalen Weltanschauung, wie sie im
dritten Viertel des vorigen Jahrhunderts das geistige Leben Deutschlands
beherrschte, in unsern Parlamenten mehr und mehr verhallt. Die Vorliebe
der heutigen Liberalen für direkte Steuern, deren Verwaltung das Eindringen
des Staates in die private Rechtssphäre der Bürger fordert, hat einen
durchaus illiberalen Charakter, und das Wehgeheul, das sich in freisinnigen
Blättern erhebt, wenn die Masse belastet werden soll, hat ganz den Übeln
Beigeschmack des Demagogentums, das nur von Volksrechten, nicht von Volks¬
pflichten weiß.

Den ihre Zeit beherrschenden geistigen Strömungen wohnt die Tendenz
inne, die Grenzen ihres eigentlichen Gebiets zu überschreiten und den Blick
zu trüben für eine objektive Betrachtung benachbarter Dinge. So entsteh»
die seltsamen Vorurteile und Irrtümer der Zeiten, über die sich die Nachwelt
nicht genug wundern kann. Wie hat in vergangnen Jahrhunderten der
religiöse Trieb erobert und geblendet; wie hat er hinübergegriffen auf die
Gebiete der Wissenschaft, der Justiz, der Politik und selbst die besten Köpfe
ihrer Zeit in einen Nebel von Torheit und Wahn gehüllt. Hier wird die
Geschichte zur Lehrmeisterin. Sie möge uns mahnen, die Lieblingsideen
unsrer Zeit kritisch zu betrachten. Der soziale Gedanke darf nicht zu kritik¬
loser Gefühlsduselei werden. Es gilt, ihn begrifflich klar zu erfassen und
die Grenzen zu bestimmen, die er nicht überschreiten darf. Denn schon be¬
ginnt er, sich ein Nachbargebiet zu unterwerfen; er dringt in die National¬
ökonomie ein. Bei der Beurteilung der Neichsfincmzreform legt sich der soziale
Gedanke wie ein Schleier vor das nationalökonomische Gesichtsfeld.

Daß die Neichfincmzreform eine spezifisch nationalökonomische Seite hat,
wird vor lauter Sozialpolitik regelmäßig übersehen. Wer die Reden und
Schriften über die große Frage durchblättert, findet das Thema nur unter
zwei Gesichtspunken abgehandelt. Zunächst unter den» finanzpolitischen:
Wieviel braucht das Reich? Sodann unter dem sozialpolitischen: Wie wird
die Summe unter möglichster Schonung der Schwachen aufgebracht? Aber
niemand fragt nach der Wirkung auf das nationale Vermögen. Die Wahl
der Besteuerungsart nach nationalökonomischen Motiven kommt kaum jemandem
in den Sinn.

Und doch fordert hierzu gerade die bisherige Finanzwirtschaft in der be¬
redtesten Weise auf. Daß das Reich eine Schuldenlast von vier Milliarden
Mark hat, ist an sich nichts Beunruhigendes. Sind doch die englischen und


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[0370] Sozialpolitik, Nationalökonomie und Reichsfinanzrefvrm durch den demokratischen Sozialismus sacht in den Hintergrund geschoben worden. Solche Wandlungen haben ihr Gutes, aber auch ihr Böses. Der extreme Liberalismus, der den Staat auf die Rolle des Nachtwächters verweisen wollte, hat sich unter dem Einfluß des sozialen Gedankens zu einer frucht¬ bareren Auffassung von den Pflichten des Staates bekannt. Andrerseits ist freilich der Klang der hochgestimmten liberalen Weltanschauung, wie sie im dritten Viertel des vorigen Jahrhunderts das geistige Leben Deutschlands beherrschte, in unsern Parlamenten mehr und mehr verhallt. Die Vorliebe der heutigen Liberalen für direkte Steuern, deren Verwaltung das Eindringen des Staates in die private Rechtssphäre der Bürger fordert, hat einen durchaus illiberalen Charakter, und das Wehgeheul, das sich in freisinnigen Blättern erhebt, wenn die Masse belastet werden soll, hat ganz den Übeln Beigeschmack des Demagogentums, das nur von Volksrechten, nicht von Volks¬ pflichten weiß. Den ihre Zeit beherrschenden geistigen Strömungen wohnt die Tendenz inne, die Grenzen ihres eigentlichen Gebiets zu überschreiten und den Blick zu trüben für eine objektive Betrachtung benachbarter Dinge. So entsteh» die seltsamen Vorurteile und Irrtümer der Zeiten, über die sich die Nachwelt nicht genug wundern kann. Wie hat in vergangnen Jahrhunderten der religiöse Trieb erobert und geblendet; wie hat er hinübergegriffen auf die Gebiete der Wissenschaft, der Justiz, der Politik und selbst die besten Köpfe ihrer Zeit in einen Nebel von Torheit und Wahn gehüllt. Hier wird die Geschichte zur Lehrmeisterin. Sie möge uns mahnen, die Lieblingsideen unsrer Zeit kritisch zu betrachten. Der soziale Gedanke darf nicht zu kritik¬ loser Gefühlsduselei werden. Es gilt, ihn begrifflich klar zu erfassen und die Grenzen zu bestimmen, die er nicht überschreiten darf. Denn schon be¬ ginnt er, sich ein Nachbargebiet zu unterwerfen; er dringt in die National¬ ökonomie ein. Bei der Beurteilung der Neichsfincmzreform legt sich der soziale Gedanke wie ein Schleier vor das nationalökonomische Gesichtsfeld. Daß die Neichfincmzreform eine spezifisch nationalökonomische Seite hat, wird vor lauter Sozialpolitik regelmäßig übersehen. Wer die Reden und Schriften über die große Frage durchblättert, findet das Thema nur unter zwei Gesichtspunken abgehandelt. Zunächst unter den» finanzpolitischen: Wieviel braucht das Reich? Sodann unter dem sozialpolitischen: Wie wird die Summe unter möglichster Schonung der Schwachen aufgebracht? Aber niemand fragt nach der Wirkung auf das nationale Vermögen. Die Wahl der Besteuerungsart nach nationalökonomischen Motiven kommt kaum jemandem in den Sinn. Und doch fordert hierzu gerade die bisherige Finanzwirtschaft in der be¬ redtesten Weise auf. Daß das Reich eine Schuldenlast von vier Milliarden Mark hat, ist an sich nichts Beunruhigendes. Sind doch die englischen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/370>, abgerufen am 22.07.2024.