Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Oberlehrer Hau?

Dichtung hineintragen, weil ihm zu viel fehlt, Sophokleische Höhe zu erreichen.
Und noch eine Voraussetzung Vaumgarts ist falsch; er spricht von der nihilistischen
Stimmung mancher modernster Kunstpropheten, die jeder ästhetischen Norm das
Recht abspricht und sich auf den einzigen Satz zurückzieht: berechtigt ist, was
sich bei dem Publikum als wirkungskräftig durchsetzt. Baumgart sieht da falsch;
die Leute, die er meint, haben ja gerade den Grundsatz, verkappt oder unver¬
kappt, daß das, was sich beim Publikum durchsetzt, schlecht ist. Das zu belegen,
würde hier zu weit führen. Aber zwei Beispiele sollen wenigstens augedeutet
sein: der ganze, zum Teil geradezu verrückte Haß gegen Sudermann gründet
sich zum großen Teil gar nicht auf ästhetische Bedenken, sondern darauf, daß
der Mann dem Publikum gefiel; und, so lautet das stille Argument, weil
"Charleys Tante" dem Publikum auch gefällt, setze ich heute Sudermann und
vor zwanzig Jahren Schiller gleich Charleys Tante (ganz grob ausgedrückt).
Das zweite Beispiel ist Maeterlinck, der sich mit der "Monna Varna" gar nicht
weit von seiner Linie entfernte, aber nun, weil das Publikum das Stück an¬
nahm, ein schlechtes Stück geschrieben haben sollte. Im übrigen ist Baumgarts
kleine Schrift schon deshalb interessant, weil sie mit vollem Nachdruck die Ge¬
meinsamkeit des Goethischen und des Schillerschen Kunstideals hervorhebt. Das
ist nötig, denn gerade, wenn man weiß, wo die beiden Größten auseinandergehn,
muß man betonen, wo sie immer wieder eine Einheit bilden.




Oberlehrer Haut
Roman von Lernt Lie (Fortsetzung)

>n der Küche zündete Svend Bugge eine Lampe an und nahm sie mit.
Dann ging er oben von Zimmer zu Zimmer. Und in dem einen
Mansardenstübchen fand er endlich die beiden Mädchen. Die eine lag
auf den Knien über einem Stuhl, den Kopf in den Armen, die andre
saß unter der Lampe und las laut aus einem Gesangbuch vor.

Svend Bugge stand in der Türöffnung.

Was ist das für eine Manier! Hier renne ich durch das ganze Haus nach
einem Menschen, der mir behilflich sein kann! Kommen Sie augenblicklich herunter
und tun Sie Ihre Pflicht! Ach, was -- Unsinn! Stehn Sie auf und kommen
Sie. Ich muß schnell etwas Wein haben. Und es ist schon neun Uhr!

Das Mädchen, das an der Erde lag, stand auf, und sie gingen beide mit
ihm hinunter. Die eine verschwand in der Küche, die andre ging mit ihm in den
Keller hinab. Hier beleuchtete sie mit einer Laterne ein Bord mit Flaschen. Svend
Bugge suchte eine Flasche Portwein heraus und nahm sie mit nach oben. Das
Mädchen zeigte ihm die Gläser, die im Büfett im Eßzimmer standen.

Er zog die Flasche auf, füllte erst ein Glas und leerte es in einem Zuge.
Dann steckte er zwei Gläser in die Tasche und ging zu Berry in das Zimmer.
Sie lag auf dem Sofa und schluchzte leise.

Sehen Sie hier, Fräulein Berry! Trinken Sie dies! Das wird Ihnen
gut tun.


Oberlehrer Hau?

Dichtung hineintragen, weil ihm zu viel fehlt, Sophokleische Höhe zu erreichen.
Und noch eine Voraussetzung Vaumgarts ist falsch; er spricht von der nihilistischen
Stimmung mancher modernster Kunstpropheten, die jeder ästhetischen Norm das
Recht abspricht und sich auf den einzigen Satz zurückzieht: berechtigt ist, was
sich bei dem Publikum als wirkungskräftig durchsetzt. Baumgart sieht da falsch;
die Leute, die er meint, haben ja gerade den Grundsatz, verkappt oder unver¬
kappt, daß das, was sich beim Publikum durchsetzt, schlecht ist. Das zu belegen,
würde hier zu weit führen. Aber zwei Beispiele sollen wenigstens augedeutet
sein: der ganze, zum Teil geradezu verrückte Haß gegen Sudermann gründet
sich zum großen Teil gar nicht auf ästhetische Bedenken, sondern darauf, daß
der Mann dem Publikum gefiel; und, so lautet das stille Argument, weil
„Charleys Tante" dem Publikum auch gefällt, setze ich heute Sudermann und
vor zwanzig Jahren Schiller gleich Charleys Tante (ganz grob ausgedrückt).
Das zweite Beispiel ist Maeterlinck, der sich mit der „Monna Varna" gar nicht
weit von seiner Linie entfernte, aber nun, weil das Publikum das Stück an¬
nahm, ein schlechtes Stück geschrieben haben sollte. Im übrigen ist Baumgarts
kleine Schrift schon deshalb interessant, weil sie mit vollem Nachdruck die Ge¬
meinsamkeit des Goethischen und des Schillerschen Kunstideals hervorhebt. Das
ist nötig, denn gerade, wenn man weiß, wo die beiden Größten auseinandergehn,
muß man betonen, wo sie immer wieder eine Einheit bilden.




Oberlehrer Haut
Roman von Lernt Lie (Fortsetzung)

>n der Küche zündete Svend Bugge eine Lampe an und nahm sie mit.
Dann ging er oben von Zimmer zu Zimmer. Und in dem einen
Mansardenstübchen fand er endlich die beiden Mädchen. Die eine lag
auf den Knien über einem Stuhl, den Kopf in den Armen, die andre
saß unter der Lampe und las laut aus einem Gesangbuch vor.

Svend Bugge stand in der Türöffnung.

Was ist das für eine Manier! Hier renne ich durch das ganze Haus nach
einem Menschen, der mir behilflich sein kann! Kommen Sie augenblicklich herunter
und tun Sie Ihre Pflicht! Ach, was — Unsinn! Stehn Sie auf und kommen
Sie. Ich muß schnell etwas Wein haben. Und es ist schon neun Uhr!

Das Mädchen, das an der Erde lag, stand auf, und sie gingen beide mit
ihm hinunter. Die eine verschwand in der Küche, die andre ging mit ihm in den
Keller hinab. Hier beleuchtete sie mit einer Laterne ein Bord mit Flaschen. Svend
Bugge suchte eine Flasche Portwein heraus und nahm sie mit nach oben. Das
Mädchen zeigte ihm die Gläser, die im Büfett im Eßzimmer standen.

Er zog die Flasche auf, füllte erst ein Glas und leerte es in einem Zuge.
Dann steckte er zwei Gläser in die Tasche und ging zu Berry in das Zimmer.
Sie lag auf dem Sofa und schluchzte leise.

Sehen Sie hier, Fräulein Berry! Trinken Sie dies! Das wird Ihnen
gut tun.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0354" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/310765"/>
          <fw type="header" place="top"> Oberlehrer Hau?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1795" prev="#ID_1794"> Dichtung hineintragen, weil ihm zu viel fehlt, Sophokleische Höhe zu erreichen.<lb/>
Und noch eine Voraussetzung Vaumgarts ist falsch; er spricht von der nihilistischen<lb/>
Stimmung mancher modernster Kunstpropheten, die jeder ästhetischen Norm das<lb/>
Recht abspricht und sich auf den einzigen Satz zurückzieht: berechtigt ist, was<lb/>
sich bei dem Publikum als wirkungskräftig durchsetzt. Baumgart sieht da falsch;<lb/>
die Leute, die er meint, haben ja gerade den Grundsatz, verkappt oder unver¬<lb/>
kappt, daß das, was sich beim Publikum durchsetzt, schlecht ist. Das zu belegen,<lb/>
würde hier zu weit führen. Aber zwei Beispiele sollen wenigstens augedeutet<lb/>
sein: der ganze, zum Teil geradezu verrückte Haß gegen Sudermann gründet<lb/>
sich zum großen Teil gar nicht auf ästhetische Bedenken, sondern darauf, daß<lb/>
der Mann dem Publikum gefiel; und, so lautet das stille Argument, weil<lb/>
&#x201E;Charleys Tante" dem Publikum auch gefällt, setze ich heute Sudermann und<lb/>
vor zwanzig Jahren Schiller gleich Charleys Tante (ganz grob ausgedrückt).<lb/>
Das zweite Beispiel ist Maeterlinck, der sich mit der &#x201E;Monna Varna" gar nicht<lb/>
weit von seiner Linie entfernte, aber nun, weil das Publikum das Stück an¬<lb/>
nahm, ein schlechtes Stück geschrieben haben sollte. Im übrigen ist Baumgarts<lb/>
kleine Schrift schon deshalb interessant, weil sie mit vollem Nachdruck die Ge¬<lb/>
meinsamkeit des Goethischen und des Schillerschen Kunstideals hervorhebt. Das<lb/>
ist nötig, denn gerade, wenn man weiß, wo die beiden Größten auseinandergehn,<lb/>
muß man betonen, wo sie immer wieder eine Einheit bilden.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Oberlehrer Haut<lb/><note type="byline"> Roman von Lernt Lie</note> (Fortsetzung)</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1796"> &gt;n der Küche zündete Svend Bugge eine Lampe an und nahm sie mit.<lb/>
Dann ging er oben von Zimmer zu Zimmer.  Und in dem einen<lb/>
Mansardenstübchen fand er endlich die beiden Mädchen. Die eine lag<lb/>
auf den Knien über einem Stuhl, den Kopf in den Armen, die andre<lb/>
saß unter der Lampe und las laut aus einem Gesangbuch vor.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1797"> Svend Bugge stand in der Türöffnung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1798"> Was ist das für eine Manier!  Hier renne ich durch das ganze Haus nach<lb/>
einem Menschen, der mir behilflich sein kann! Kommen Sie augenblicklich herunter<lb/>
und tun Sie Ihre Pflicht!  Ach, was &#x2014; Unsinn!  Stehn Sie auf und kommen<lb/>
Sie.  Ich muß schnell etwas Wein haben.  Und es ist schon neun Uhr!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1799"> Das Mädchen, das an der Erde lag, stand auf, und sie gingen beide mit<lb/>
ihm hinunter. Die eine verschwand in der Küche, die andre ging mit ihm in den<lb/>
Keller hinab. Hier beleuchtete sie mit einer Laterne ein Bord mit Flaschen. Svend<lb/>
Bugge suchte eine Flasche Portwein heraus und nahm sie mit nach oben. Das<lb/>
Mädchen zeigte ihm die Gläser, die im Büfett im Eßzimmer standen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1800"> Er zog die Flasche auf, füllte erst ein Glas und leerte es in einem Zuge.<lb/>
Dann steckte er zwei Gläser in die Tasche und ging zu Berry in das Zimmer.<lb/>
Sie lag auf dem Sofa und schluchzte leise.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1801"> Sehen Sie hier, Fräulein Berry! Trinken Sie dies! Das wird Ihnen<lb/>
gut tun.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0354] Oberlehrer Hau? Dichtung hineintragen, weil ihm zu viel fehlt, Sophokleische Höhe zu erreichen. Und noch eine Voraussetzung Vaumgarts ist falsch; er spricht von der nihilistischen Stimmung mancher modernster Kunstpropheten, die jeder ästhetischen Norm das Recht abspricht und sich auf den einzigen Satz zurückzieht: berechtigt ist, was sich bei dem Publikum als wirkungskräftig durchsetzt. Baumgart sieht da falsch; die Leute, die er meint, haben ja gerade den Grundsatz, verkappt oder unver¬ kappt, daß das, was sich beim Publikum durchsetzt, schlecht ist. Das zu belegen, würde hier zu weit führen. Aber zwei Beispiele sollen wenigstens augedeutet sein: der ganze, zum Teil geradezu verrückte Haß gegen Sudermann gründet sich zum großen Teil gar nicht auf ästhetische Bedenken, sondern darauf, daß der Mann dem Publikum gefiel; und, so lautet das stille Argument, weil „Charleys Tante" dem Publikum auch gefällt, setze ich heute Sudermann und vor zwanzig Jahren Schiller gleich Charleys Tante (ganz grob ausgedrückt). Das zweite Beispiel ist Maeterlinck, der sich mit der „Monna Varna" gar nicht weit von seiner Linie entfernte, aber nun, weil das Publikum das Stück an¬ nahm, ein schlechtes Stück geschrieben haben sollte. Im übrigen ist Baumgarts kleine Schrift schon deshalb interessant, weil sie mit vollem Nachdruck die Ge¬ meinsamkeit des Goethischen und des Schillerschen Kunstideals hervorhebt. Das ist nötig, denn gerade, wenn man weiß, wo die beiden Größten auseinandergehn, muß man betonen, wo sie immer wieder eine Einheit bilden. Oberlehrer Haut Roman von Lernt Lie (Fortsetzung) >n der Küche zündete Svend Bugge eine Lampe an und nahm sie mit. Dann ging er oben von Zimmer zu Zimmer. Und in dem einen Mansardenstübchen fand er endlich die beiden Mädchen. Die eine lag auf den Knien über einem Stuhl, den Kopf in den Armen, die andre saß unter der Lampe und las laut aus einem Gesangbuch vor. Svend Bugge stand in der Türöffnung. Was ist das für eine Manier! Hier renne ich durch das ganze Haus nach einem Menschen, der mir behilflich sein kann! Kommen Sie augenblicklich herunter und tun Sie Ihre Pflicht! Ach, was — Unsinn! Stehn Sie auf und kommen Sie. Ich muß schnell etwas Wein haben. Und es ist schon neun Uhr! Das Mädchen, das an der Erde lag, stand auf, und sie gingen beide mit ihm hinunter. Die eine verschwand in der Küche, die andre ging mit ihm in den Keller hinab. Hier beleuchtete sie mit einer Laterne ein Bord mit Flaschen. Svend Bugge suchte eine Flasche Portwein heraus und nahm sie mit nach oben. Das Mädchen zeigte ihm die Gläser, die im Büfett im Eßzimmer standen. Er zog die Flasche auf, füllte erst ein Glas und leerte es in einem Zuge. Dann steckte er zwei Gläser in die Tasche und ging zu Berry in das Zimmer. Sie lag auf dem Sofa und schluchzte leise. Sehen Sie hier, Fräulein Berry! Trinken Sie dies! Das wird Ihnen gut tun.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/354
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/354>, abgerufen am 22.07.2024.