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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Das Theater als Aivche

läßt, kriegst du draußen eine Ohrfeige!" Und es gibt auch heute noch so
naive Theaterbesucher, sogar, wo man sie am wenigsten suchen würde, in
Paris. Der Deutschpariser Karl Eugen Schmidt schildert in einem Feuilleton
der Wiener Zeit das Theater des Arbeiterviertels Belleville. Das Publikum
sei nach Wochentagen verschieden. Am Sonnabend und Sonntag, wo viel
Arbeiter kommen, gehe es mitunter laut und ungezogen zu. "Die bösen
Menschen oben im Olymp machen sich über die guten Menschen unten im
Hause lustig und äffen allzusentimentale Reden der tugendhaften Helden und
Heldinnen spottend nach. Aber an den fünf andern Tagen gibt es keine
Spötter im Theater von Belleville. Alle Zuschauer sind gekommen, um sich
die Alltagsseele auszuspülen in einem Bade voll Erhabenheit und Tugend.
Die Stücke, die hier gegeben werden, haben mit der Lasterhaftigkeit der
Pariser Bühne nichts zu tun, und moderne Stücke werden nur gespielt, wenn
sie den Anforderungen der kleinbürgerlichen Moral entsprechen, was bekanntlich
selten der Fall ist. Nein, im Theater von Belleville werden überaus tugend¬
hafte und ritterliche Reden geführt, redliche Zuschauer schleudern dem Bühnen¬
schurken entrüstete Donnerworte zu, schämige Krämerstöchter spenden errötend
den erhabnen Gefühlsäußerungen des Helden Beifall, junge Leute verlieben
sich aus platonischer Entfernung in die im bürgerlichen Leben fünfundvierzig
Lenze zählende jugendliche Liebhaberin, und Tugendbolde und Sittenwächter
nehmen mit Genugtuung wahr, daß wenigstens auf diesen die Welt bedeutenden
Brettern die Tugend immer siegt und das Laster immer seine Strafe empfängt.
Man muß diese Vorstadttheater, deren es in Paris ein halbes Dutzend gibt,
besuchen, um sich davon zu überzeugen, daß von der Unsittlichkeit, die man
so gern den Parisern aufbürdet, wenigstens in den Kreisen der kleinen
Bourgeoisie und der Arbeiterschaft nichts zu merken ist. Wollte man hier
eins der Stücke aufführen, die die Boulevardtheater füllen, und die mit löb¬
lichem Eifer sofort nach der ersten Aufführung und mitunter schon vorher
verdeutscht und auf die deutsche Bühne gebracht werden jauch auf kleine
Provinzbühnen, also vor Besucher aus der Bevölkerungsschicht, die in Paris
solche Stücke ablehnt!, so würde der Unternehmer gar bald bankrott machen.
In den Pariser Vorstädten ist man so tugendhaft wie in irgendeiner fran¬
zösischen oder deutschen Kleinstadt." So haben sich denn wirklich die Pariser
Kleinbürger im Theater einen Ersatz für die zertrümmerte Kirche geschaffen.
Eine Bemerkung Schmidts über Subventionen verdient noch angeführt zu
werden. "Der Staat subventioniert die Theater der reiche,? Leute, die armen
Leute müssen für die ihrigen selbst sorgen. Die Große Oper, die nur von
Leuten im Frack und in Abendtoilette besucht wird, zu deren Stammpublikum
alle französischen Millionäre und Milliardäre gehören, kostet den französischen
Staat falso die Steuerzahlers jährlich anderthalb oder zwei Millionen, das
ausschließlich von Arbeitern und Angehörigen der kleinen Bourgeoisie be¬
suchte Theater von Belleville aber muß sich selbst erhalten. Und dabei


Das Theater als Aivche

läßt, kriegst du draußen eine Ohrfeige!" Und es gibt auch heute noch so
naive Theaterbesucher, sogar, wo man sie am wenigsten suchen würde, in
Paris. Der Deutschpariser Karl Eugen Schmidt schildert in einem Feuilleton
der Wiener Zeit das Theater des Arbeiterviertels Belleville. Das Publikum
sei nach Wochentagen verschieden. Am Sonnabend und Sonntag, wo viel
Arbeiter kommen, gehe es mitunter laut und ungezogen zu. „Die bösen
Menschen oben im Olymp machen sich über die guten Menschen unten im
Hause lustig und äffen allzusentimentale Reden der tugendhaften Helden und
Heldinnen spottend nach. Aber an den fünf andern Tagen gibt es keine
Spötter im Theater von Belleville. Alle Zuschauer sind gekommen, um sich
die Alltagsseele auszuspülen in einem Bade voll Erhabenheit und Tugend.
Die Stücke, die hier gegeben werden, haben mit der Lasterhaftigkeit der
Pariser Bühne nichts zu tun, und moderne Stücke werden nur gespielt, wenn
sie den Anforderungen der kleinbürgerlichen Moral entsprechen, was bekanntlich
selten der Fall ist. Nein, im Theater von Belleville werden überaus tugend¬
hafte und ritterliche Reden geführt, redliche Zuschauer schleudern dem Bühnen¬
schurken entrüstete Donnerworte zu, schämige Krämerstöchter spenden errötend
den erhabnen Gefühlsäußerungen des Helden Beifall, junge Leute verlieben
sich aus platonischer Entfernung in die im bürgerlichen Leben fünfundvierzig
Lenze zählende jugendliche Liebhaberin, und Tugendbolde und Sittenwächter
nehmen mit Genugtuung wahr, daß wenigstens auf diesen die Welt bedeutenden
Brettern die Tugend immer siegt und das Laster immer seine Strafe empfängt.
Man muß diese Vorstadttheater, deren es in Paris ein halbes Dutzend gibt,
besuchen, um sich davon zu überzeugen, daß von der Unsittlichkeit, die man
so gern den Parisern aufbürdet, wenigstens in den Kreisen der kleinen
Bourgeoisie und der Arbeiterschaft nichts zu merken ist. Wollte man hier
eins der Stücke aufführen, die die Boulevardtheater füllen, und die mit löb¬
lichem Eifer sofort nach der ersten Aufführung und mitunter schon vorher
verdeutscht und auf die deutsche Bühne gebracht werden jauch auf kleine
Provinzbühnen, also vor Besucher aus der Bevölkerungsschicht, die in Paris
solche Stücke ablehnt!, so würde der Unternehmer gar bald bankrott machen.
In den Pariser Vorstädten ist man so tugendhaft wie in irgendeiner fran¬
zösischen oder deutschen Kleinstadt." So haben sich denn wirklich die Pariser
Kleinbürger im Theater einen Ersatz für die zertrümmerte Kirche geschaffen.
Eine Bemerkung Schmidts über Subventionen verdient noch angeführt zu
werden. „Der Staat subventioniert die Theater der reiche,? Leute, die armen
Leute müssen für die ihrigen selbst sorgen. Die Große Oper, die nur von
Leuten im Frack und in Abendtoilette besucht wird, zu deren Stammpublikum
alle französischen Millionäre und Milliardäre gehören, kostet den französischen
Staat falso die Steuerzahlers jährlich anderthalb oder zwei Millionen, das
ausschließlich von Arbeitern und Angehörigen der kleinen Bourgeoisie be¬
suchte Theater von Belleville aber muß sich selbst erhalten. Und dabei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/342>, abgerufen am 22.07.2024.