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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Das Theater als Airche

die zu allen Zeiten mit der frohen Botschaft einer neuen, leichtern und an¬
genehmem Moral oder Unmoral locken, ihr unerschütterliches Veto entgegen¬
setzt, das ist ihr Verdienst. Mit all dem zusammen gibt sie dem Leben einen
das Gemüt befriedigenden Sinn, eine bestimmte Form und einen festen Halt,
und im Sonntagsgottesdienst erfahren diese Grundideen ihre regelmäßige Auf¬
frischung. Stärkung und Befestigung. Wie Goethe fordert: wer Kunst und
Wissenschaft nicht hat. der habe Religion! (die andre Hälfte des Aphorismus
ist falsch; wer Kunst und Wissenschaft hat. der hat damit noch nicht Religion,
sondern nur einen Ersatz dafür), so bekennt auch E. von Hartmann, daß Religion
das einzige ist. was im gemeinen Manne die Einsicht lebendig erhält, daß es
ideale Güter gibt, die höher stehn als ..Fressen. Saufen und sich Begatten".
Und man würde sich täuschen, wenn man glaubte, die Religion leiste diese
Dienste bloß denen, die die Kirche besuchen (diese sind, nebenbei bemerkt, in
den angelsächsischen Staaten und sogar auch in Deutschland weit zahlreicher,
als deutsche Großstädter glauben). Die oben angeführten Grundideen be¬
herrschen unsre Staatseinrichtungen und beeinflussen dadurch das Leben der
Unkirchlichen, die. mögen sie auch in Büchern und Zeitschriften gegen die alte
Moral kämpfen, diese doch selbst beobachten und ihre Beobachtung sehr ent¬
schieden von ihren Gattinnen und Kindern verlangen.

Untersuchen wir nun. ob das Theater dasselbe zu leisten vermag. Nur
eben diese Leistung traue ich ihm nicht zu; seinen Kulturwert spreche ich ihm
'"ehe ab. Wie könnte ich das? Es ist eine Art der Erholung und des Ver¬
gnügens, und auf die Art und Weise, wie sich ein Volk, ein Geschlecht erholt
und vergnügt, kommt sehr viel an für seine Kultur. Man denke nur daran,
daß vom spätern Mittelalter an bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts
Autos da Fe und Hinrichtungen der scheußlichsten Art nicht allein der soge¬
nannten Gerechtigkeit, sondern auch der Befriedigung der Schaulust der Menge
dienten! Wie viel harmloser nicht bloß, sondern edler und bildender ist das
Vergnügen, das im Theater geboten wird! Der Gedankengehalt guter Stücke
kaun ja allerdings nur bei der Lektüre, die das Unterbrechen. Nachdenken.
Wiederholen gestattet, angeeignet und dadurch wirksam werden (e.ne augen¬
blicklich durchschlagende Wirkung wie die der Stummen von Portici am
25- August 1830 in Brüssel ereignet sich ja glücklicherweise nicht oft), aber
^ gibt Leute genug, die nicht gern lesen, und solche nehmen aus einer
Klassikeraufführung wenigstens einige gute Gedanken mit nach Haus. Und
jedes Stück, es mag sein, wie es will, regt doch Gedanken an. beschäftigt das
Nachdenken eine wenn auch vielleicht nur sehr kurze Zeit lang, erfüllt die
Phantasie mit Bildern von Personen. Charakteren. Situationen, bereichert
also das Seelenleben. Dazu kommen bei Opern die Wirkung einer guten
Musik, bei Ausstattungsstücken und Balletten die Erhebung in eme Idealwelt
leuchtender, blühender Farben und schöner Gestalten, die sich auf einem pracht¬
vollen Hintergrunde anmutig bewegen, was alles die Seele heiter stimmt und


Das Theater als Airche

die zu allen Zeiten mit der frohen Botschaft einer neuen, leichtern und an¬
genehmem Moral oder Unmoral locken, ihr unerschütterliches Veto entgegen¬
setzt, das ist ihr Verdienst. Mit all dem zusammen gibt sie dem Leben einen
das Gemüt befriedigenden Sinn, eine bestimmte Form und einen festen Halt,
und im Sonntagsgottesdienst erfahren diese Grundideen ihre regelmäßige Auf¬
frischung. Stärkung und Befestigung. Wie Goethe fordert: wer Kunst und
Wissenschaft nicht hat. der habe Religion! (die andre Hälfte des Aphorismus
ist falsch; wer Kunst und Wissenschaft hat. der hat damit noch nicht Religion,
sondern nur einen Ersatz dafür), so bekennt auch E. von Hartmann, daß Religion
das einzige ist. was im gemeinen Manne die Einsicht lebendig erhält, daß es
ideale Güter gibt, die höher stehn als ..Fressen. Saufen und sich Begatten".
Und man würde sich täuschen, wenn man glaubte, die Religion leiste diese
Dienste bloß denen, die die Kirche besuchen (diese sind, nebenbei bemerkt, in
den angelsächsischen Staaten und sogar auch in Deutschland weit zahlreicher,
als deutsche Großstädter glauben). Die oben angeführten Grundideen be¬
herrschen unsre Staatseinrichtungen und beeinflussen dadurch das Leben der
Unkirchlichen, die. mögen sie auch in Büchern und Zeitschriften gegen die alte
Moral kämpfen, diese doch selbst beobachten und ihre Beobachtung sehr ent¬
schieden von ihren Gattinnen und Kindern verlangen.

Untersuchen wir nun. ob das Theater dasselbe zu leisten vermag. Nur
eben diese Leistung traue ich ihm nicht zu; seinen Kulturwert spreche ich ihm
'"ehe ab. Wie könnte ich das? Es ist eine Art der Erholung und des Ver¬
gnügens, und auf die Art und Weise, wie sich ein Volk, ein Geschlecht erholt
und vergnügt, kommt sehr viel an für seine Kultur. Man denke nur daran,
daß vom spätern Mittelalter an bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts
Autos da Fe und Hinrichtungen der scheußlichsten Art nicht allein der soge¬
nannten Gerechtigkeit, sondern auch der Befriedigung der Schaulust der Menge
dienten! Wie viel harmloser nicht bloß, sondern edler und bildender ist das
Vergnügen, das im Theater geboten wird! Der Gedankengehalt guter Stücke
kaun ja allerdings nur bei der Lektüre, die das Unterbrechen. Nachdenken.
Wiederholen gestattet, angeeignet und dadurch wirksam werden (e.ne augen¬
blicklich durchschlagende Wirkung wie die der Stummen von Portici am
25- August 1830 in Brüssel ereignet sich ja glücklicherweise nicht oft), aber
^ gibt Leute genug, die nicht gern lesen, und solche nehmen aus einer
Klassikeraufführung wenigstens einige gute Gedanken mit nach Haus. Und
jedes Stück, es mag sein, wie es will, regt doch Gedanken an. beschäftigt das
Nachdenken eine wenn auch vielleicht nur sehr kurze Zeit lang, erfüllt die
Phantasie mit Bildern von Personen. Charakteren. Situationen, bereichert
also das Seelenleben. Dazu kommen bei Opern die Wirkung einer guten
Musik, bei Ausstattungsstücken und Balletten die Erhebung in eme Idealwelt
leuchtender, blühender Farben und schöner Gestalten, die sich auf einem pracht¬
vollen Hintergrunde anmutig bewegen, was alles die Seele heiter stimmt und


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[0339] Das Theater als Airche die zu allen Zeiten mit der frohen Botschaft einer neuen, leichtern und an¬ genehmem Moral oder Unmoral locken, ihr unerschütterliches Veto entgegen¬ setzt, das ist ihr Verdienst. Mit all dem zusammen gibt sie dem Leben einen das Gemüt befriedigenden Sinn, eine bestimmte Form und einen festen Halt, und im Sonntagsgottesdienst erfahren diese Grundideen ihre regelmäßige Auf¬ frischung. Stärkung und Befestigung. Wie Goethe fordert: wer Kunst und Wissenschaft nicht hat. der habe Religion! (die andre Hälfte des Aphorismus ist falsch; wer Kunst und Wissenschaft hat. der hat damit noch nicht Religion, sondern nur einen Ersatz dafür), so bekennt auch E. von Hartmann, daß Religion das einzige ist. was im gemeinen Manne die Einsicht lebendig erhält, daß es ideale Güter gibt, die höher stehn als ..Fressen. Saufen und sich Begatten". Und man würde sich täuschen, wenn man glaubte, die Religion leiste diese Dienste bloß denen, die die Kirche besuchen (diese sind, nebenbei bemerkt, in den angelsächsischen Staaten und sogar auch in Deutschland weit zahlreicher, als deutsche Großstädter glauben). Die oben angeführten Grundideen be¬ herrschen unsre Staatseinrichtungen und beeinflussen dadurch das Leben der Unkirchlichen, die. mögen sie auch in Büchern und Zeitschriften gegen die alte Moral kämpfen, diese doch selbst beobachten und ihre Beobachtung sehr ent¬ schieden von ihren Gattinnen und Kindern verlangen. Untersuchen wir nun. ob das Theater dasselbe zu leisten vermag. Nur eben diese Leistung traue ich ihm nicht zu; seinen Kulturwert spreche ich ihm '"ehe ab. Wie könnte ich das? Es ist eine Art der Erholung und des Ver¬ gnügens, und auf die Art und Weise, wie sich ein Volk, ein Geschlecht erholt und vergnügt, kommt sehr viel an für seine Kultur. Man denke nur daran, daß vom spätern Mittelalter an bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts Autos da Fe und Hinrichtungen der scheußlichsten Art nicht allein der soge¬ nannten Gerechtigkeit, sondern auch der Befriedigung der Schaulust der Menge dienten! Wie viel harmloser nicht bloß, sondern edler und bildender ist das Vergnügen, das im Theater geboten wird! Der Gedankengehalt guter Stücke kaun ja allerdings nur bei der Lektüre, die das Unterbrechen. Nachdenken. Wiederholen gestattet, angeeignet und dadurch wirksam werden (e.ne augen¬ blicklich durchschlagende Wirkung wie die der Stummen von Portici am 25- August 1830 in Brüssel ereignet sich ja glücklicherweise nicht oft), aber ^ gibt Leute genug, die nicht gern lesen, und solche nehmen aus einer Klassikeraufführung wenigstens einige gute Gedanken mit nach Haus. Und jedes Stück, es mag sein, wie es will, regt doch Gedanken an. beschäftigt das Nachdenken eine wenn auch vielleicht nur sehr kurze Zeit lang, erfüllt die Phantasie mit Bildern von Personen. Charakteren. Situationen, bereichert also das Seelenleben. Dazu kommen bei Opern die Wirkung einer guten Musik, bei Ausstattungsstücken und Balletten die Erhebung in eme Idealwelt leuchtender, blühender Farben und schöner Gestalten, die sich auf einem pracht¬ vollen Hintergrunde anmutig bewegen, was alles die Seele heiter stimmt und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/339>, abgerufen am 22.07.2024.