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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Das Theater als Kirche

Präses, darf ich mit dem Hut auf dem Kopf hereinkommen? Und wenn die
Antwort nun lautete: Aber das wissen Sie doch, daß man nicht mit dem Hut
auf dem Kopf in ein fremdes Zimmer tritt, so war die halbe Freude am Spiel
dahin. Doch alle solche Erfahrungen betreffen ja nicht das Theater, sondern
Menschen einer gewissen Kategorie, und wollte ich über dramaturgische und
Negieangelegenheiten, über Inszenierung oder über die Auffassung gewisser
Rollen sprechen, Gegenstände, über die uns Stellanus -- möchte er es öfter
tun! (je weniger man ein Vergnügen haben kann, desto lieber liest man
davon) -- so angenehm unterhält, so würde ich mich bloß lächerlich machen.

Die Frage jedoch, um die es sich hier handelt, hat mit der Bühnentechnik
so wenig zu tun, daß man sie beantworten kann, ohne je im Theater gewesen
zu sein; es ist die Frage: Kann und wird das Theater die Kirche ersetzen?
Unsre "Intellektuellen", die das Fortbestehn der Kirche für einen Anachronismus
halten, müssen sie bejahen. Denn das Volk braucht eine Institution, von der
es seine Weltanschauung, ein klares, begrenztes Weltbild, damit die Möglichkeit
des Zusammenklangs im Fühlen und Handeln empfängt, und einen Ort, wo
es sich in erhebender Feier dieses Zusammenklangs bewußt wird und zu ein¬
mütigem weiteren Handeln und Streben begeistert. Welche andre Institution
sollte das leisten? Die Schule? Die Universität? Sie ist eine Arena er¬
bitterter Kämpfe, und ihre spärlichen, kalten, trocknen Feste sind keine Volks¬
feste. Patriotische, Vereins-, Klubfeste? Sie sind Parteifeste, einigen also
nicht, sondern entzweien, und sie sind keine stetig wirkende Institution. Das¬
selbe gilt von Festmahlzeiten und Kommersen, die außerdem für die Pflege
des Idealismus -- zu naß sind. Also bleibt als Ersatz der Kirche wirklich
nur das Theater übrig. Jene leistet, trotz allem häßlichen Zank der Kon¬
fessionen, vorläufig im großen und ganzen immer noch, was oben, lediglich
vom Standpunkte des Nationalinteresses aus, als ihre Aufgabe bezeichnet
wurde. Im einzelnen betrachtet mag ihr Wirken sehr anfechtbar erscheinen,
den Religionsunterricht zum Beispiel habe ich selbst sehr scharf kritisiert, und
die Wirkung der Predigt hängt von dem Zufall ab, der manchmal den richtigen
Mann auf die richtige Kanzel stellt, öfter jedoch das nicht tut. Aber beide
Konfessionen verkündigen, wenn anch in getrennten Kirchen und Schulen, daß
es eine göttliche Vorsehung gibt, auf die sich der Mensch verlassen darf, wenn
er seine Schuldigkeit tut, daß es ein göttliches Gericht gibt, dem keiner ent¬
fliehen kann, und daß das Ziel des Erdenlebens ewige Glückseligkeit ist, die
durch treue Pflichterfüllung und Standhaftigkeit im Erdulden der Erdenmühsal
gesichert wird. Und wenn wir die Forderung einer heroischen Tugend, die
das Neue Testament den Auserwählten zumutet, als belanglos für die Masse
beiseite lassen, so ist zwar die christliche Moral keine andre als die natürliche
Vernunftmoral, die auch die edlern Heiden zu allen Zeiten gekannt und geübt
haben, aber daß die Kirche diese Moral als den unwandelbaren Willen eines
Gottes verkündigt, der nicht mit sich feilschen läßt, und daß sie den Sophisten,


Das Theater als Kirche

Präses, darf ich mit dem Hut auf dem Kopf hereinkommen? Und wenn die
Antwort nun lautete: Aber das wissen Sie doch, daß man nicht mit dem Hut
auf dem Kopf in ein fremdes Zimmer tritt, so war die halbe Freude am Spiel
dahin. Doch alle solche Erfahrungen betreffen ja nicht das Theater, sondern
Menschen einer gewissen Kategorie, und wollte ich über dramaturgische und
Negieangelegenheiten, über Inszenierung oder über die Auffassung gewisser
Rollen sprechen, Gegenstände, über die uns Stellanus — möchte er es öfter
tun! (je weniger man ein Vergnügen haben kann, desto lieber liest man
davon) — so angenehm unterhält, so würde ich mich bloß lächerlich machen.

Die Frage jedoch, um die es sich hier handelt, hat mit der Bühnentechnik
so wenig zu tun, daß man sie beantworten kann, ohne je im Theater gewesen
zu sein; es ist die Frage: Kann und wird das Theater die Kirche ersetzen?
Unsre „Intellektuellen", die das Fortbestehn der Kirche für einen Anachronismus
halten, müssen sie bejahen. Denn das Volk braucht eine Institution, von der
es seine Weltanschauung, ein klares, begrenztes Weltbild, damit die Möglichkeit
des Zusammenklangs im Fühlen und Handeln empfängt, und einen Ort, wo
es sich in erhebender Feier dieses Zusammenklangs bewußt wird und zu ein¬
mütigem weiteren Handeln und Streben begeistert. Welche andre Institution
sollte das leisten? Die Schule? Die Universität? Sie ist eine Arena er¬
bitterter Kämpfe, und ihre spärlichen, kalten, trocknen Feste sind keine Volks¬
feste. Patriotische, Vereins-, Klubfeste? Sie sind Parteifeste, einigen also
nicht, sondern entzweien, und sie sind keine stetig wirkende Institution. Das¬
selbe gilt von Festmahlzeiten und Kommersen, die außerdem für die Pflege
des Idealismus — zu naß sind. Also bleibt als Ersatz der Kirche wirklich
nur das Theater übrig. Jene leistet, trotz allem häßlichen Zank der Kon¬
fessionen, vorläufig im großen und ganzen immer noch, was oben, lediglich
vom Standpunkte des Nationalinteresses aus, als ihre Aufgabe bezeichnet
wurde. Im einzelnen betrachtet mag ihr Wirken sehr anfechtbar erscheinen,
den Religionsunterricht zum Beispiel habe ich selbst sehr scharf kritisiert, und
die Wirkung der Predigt hängt von dem Zufall ab, der manchmal den richtigen
Mann auf die richtige Kanzel stellt, öfter jedoch das nicht tut. Aber beide
Konfessionen verkündigen, wenn anch in getrennten Kirchen und Schulen, daß
es eine göttliche Vorsehung gibt, auf die sich der Mensch verlassen darf, wenn
er seine Schuldigkeit tut, daß es ein göttliches Gericht gibt, dem keiner ent¬
fliehen kann, und daß das Ziel des Erdenlebens ewige Glückseligkeit ist, die
durch treue Pflichterfüllung und Standhaftigkeit im Erdulden der Erdenmühsal
gesichert wird. Und wenn wir die Forderung einer heroischen Tugend, die
das Neue Testament den Auserwählten zumutet, als belanglos für die Masse
beiseite lassen, so ist zwar die christliche Moral keine andre als die natürliche
Vernunftmoral, die auch die edlern Heiden zu allen Zeiten gekannt und geübt
haben, aber daß die Kirche diese Moral als den unwandelbaren Willen eines
Gottes verkündigt, der nicht mit sich feilschen läßt, und daß sie den Sophisten,


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[0338] Das Theater als Kirche Präses, darf ich mit dem Hut auf dem Kopf hereinkommen? Und wenn die Antwort nun lautete: Aber das wissen Sie doch, daß man nicht mit dem Hut auf dem Kopf in ein fremdes Zimmer tritt, so war die halbe Freude am Spiel dahin. Doch alle solche Erfahrungen betreffen ja nicht das Theater, sondern Menschen einer gewissen Kategorie, und wollte ich über dramaturgische und Negieangelegenheiten, über Inszenierung oder über die Auffassung gewisser Rollen sprechen, Gegenstände, über die uns Stellanus — möchte er es öfter tun! (je weniger man ein Vergnügen haben kann, desto lieber liest man davon) — so angenehm unterhält, so würde ich mich bloß lächerlich machen. Die Frage jedoch, um die es sich hier handelt, hat mit der Bühnentechnik so wenig zu tun, daß man sie beantworten kann, ohne je im Theater gewesen zu sein; es ist die Frage: Kann und wird das Theater die Kirche ersetzen? Unsre „Intellektuellen", die das Fortbestehn der Kirche für einen Anachronismus halten, müssen sie bejahen. Denn das Volk braucht eine Institution, von der es seine Weltanschauung, ein klares, begrenztes Weltbild, damit die Möglichkeit des Zusammenklangs im Fühlen und Handeln empfängt, und einen Ort, wo es sich in erhebender Feier dieses Zusammenklangs bewußt wird und zu ein¬ mütigem weiteren Handeln und Streben begeistert. Welche andre Institution sollte das leisten? Die Schule? Die Universität? Sie ist eine Arena er¬ bitterter Kämpfe, und ihre spärlichen, kalten, trocknen Feste sind keine Volks¬ feste. Patriotische, Vereins-, Klubfeste? Sie sind Parteifeste, einigen also nicht, sondern entzweien, und sie sind keine stetig wirkende Institution. Das¬ selbe gilt von Festmahlzeiten und Kommersen, die außerdem für die Pflege des Idealismus — zu naß sind. Also bleibt als Ersatz der Kirche wirklich nur das Theater übrig. Jene leistet, trotz allem häßlichen Zank der Kon¬ fessionen, vorläufig im großen und ganzen immer noch, was oben, lediglich vom Standpunkte des Nationalinteresses aus, als ihre Aufgabe bezeichnet wurde. Im einzelnen betrachtet mag ihr Wirken sehr anfechtbar erscheinen, den Religionsunterricht zum Beispiel habe ich selbst sehr scharf kritisiert, und die Wirkung der Predigt hängt von dem Zufall ab, der manchmal den richtigen Mann auf die richtige Kanzel stellt, öfter jedoch das nicht tut. Aber beide Konfessionen verkündigen, wenn anch in getrennten Kirchen und Schulen, daß es eine göttliche Vorsehung gibt, auf die sich der Mensch verlassen darf, wenn er seine Schuldigkeit tut, daß es ein göttliches Gericht gibt, dem keiner ent¬ fliehen kann, und daß das Ziel des Erdenlebens ewige Glückseligkeit ist, die durch treue Pflichterfüllung und Standhaftigkeit im Erdulden der Erdenmühsal gesichert wird. Und wenn wir die Forderung einer heroischen Tugend, die das Neue Testament den Auserwählten zumutet, als belanglos für die Masse beiseite lassen, so ist zwar die christliche Moral keine andre als die natürliche Vernunftmoral, die auch die edlern Heiden zu allen Zeiten gekannt und geübt haben, aber daß die Kirche diese Moral als den unwandelbaren Willen eines Gottes verkündigt, der nicht mit sich feilschen läßt, und daß sie den Sophisten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/338>, abgerufen am 22.07.2024.