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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Das Wesen der Freimaurerei

der Platoniker bis zu den Akademien und Sozietäten des Mittelalters --, die
lange vor dem Aufkommen der heutigen Freimaurerorgauisationen den Humam-
tätsgedanken in Pflege genommen haben.

Welches aber ist der Inhalt dieses Gedankens, dieser uralten Humani¬
tären Welt- und Lebensanschauung, die das Wesentliche aller wahren Frei¬
maurerei ausmacht? Darüber gibt der Begriff "Humanität", wie er heute
vielfach gefaßt wird, nicht ohne weiteres Auskunft. Die heutige vieldeutig
schillernde -- und, nebenbei bemerkt, bei vielen arg in Mißkredit geratne --
Humanitütsvorstelluug ist nicht gleichbedeutend mit dem freimaurerischen Humani¬
tätsgedanken.

Der Humanitätsgedauke der Freimaurer ist ein Erziehungsgedanke. Er
wird charakterisiert durch eine bestimmte Vorstellung von der Art und Weise,
wie die Menschen erzogen werden sollen. Die Erziehung -- so sagen die
Anhänger dieses Gedankens, die Humanisten -- muß bestehn in einer Ent¬
faltung des "Menschentums". Es herrscht hier, im Gegensatz zu andern Er-
ziehungsvorstellungen, die Anschauung, daß der Mensch nicht von Natur
verderbt und sündhaft sei, vielmehr die Anlage zum Sittlichsein in sich trage.
Diese natürliche Anlage soll nach Ansicht des Humanismus gepflegt werden
durch Gewissenswcckung, durch Übung und Ausbildung der intuitiver Fähig¬
keiten des Menschen, die in seinem "höhern Bedürfnis", seinem Interesse für
das Gute, das Wahre, das Schöne zur Geltung kommen. Dabei wird die
Auffassung vertreten, daß die sittlichen Ideen, denen das seelische Bedürfnis
zustrebt, der Inhalt eines Gotteswillens, einer in der Ewigkeit und Unend¬
lichkeit wirkenden Absicht sind, und es wird demgemäß in der Humanitätslehre
die pädagogische Forderung zur Geltung gebracht, daß als Gegenstand der
Gewissenserkenntnis, als Substrat des sittlichen Empfindens des Menschen eine
"sittliche Weltordnung" bezeichnet werden muß. die sich als das Göttliche, das
Gottesreich in der Welt durchzusetzen sucht.

Diese vom Humanitätsgedaukcn begehrte religiöse Erziehung nimmt zum
idealen Ziel die möglichst hoch entwickelte eigne Gotteserkenntuis des einzelnen,
das durch bewußte Betätigung sich mehrende eigne religiöse Empfinden und
religiöse Erleben aller. Die bloße Gewöhnung der Menschen unter die Herrschaft
fremder Glaubenslehre wird hier als Ideal verworfen. Man hält diese dogmatische
Eingewöhnung für einen Religionszustaud, der mehr und mehr überwunden
werden muß und bei rechtem Menschheitsfortschritt immer mehr an praktischer
Berechtigung verliert. Erziehung zur eignen religiösen Intelligenz unter Sicherung
völliger Gewissensfreiheit erscheint hier als das Ziel der Humanitären Be¬
strebungen. Der Gedanke, als ob unter der Herrschaft eines religiösen Dogmatismus
das Heil der Menschheit auf die Dauer am besten geborgen sei, wird von der
Weltanschauung des Humanismus abgelehnt.

Neben der Entwicklung der eignen religiösen Intelligenz aber verlangt der
Humanitütsgedanke weiter die höchste Entwicklung auch des sonstigen eignen
Gre


nzboten IV 1908 4
Das Wesen der Freimaurerei

der Platoniker bis zu den Akademien und Sozietäten des Mittelalters —, die
lange vor dem Aufkommen der heutigen Freimaurerorgauisationen den Humam-
tätsgedanken in Pflege genommen haben.

Welches aber ist der Inhalt dieses Gedankens, dieser uralten Humani¬
tären Welt- und Lebensanschauung, die das Wesentliche aller wahren Frei¬
maurerei ausmacht? Darüber gibt der Begriff „Humanität", wie er heute
vielfach gefaßt wird, nicht ohne weiteres Auskunft. Die heutige vieldeutig
schillernde — und, nebenbei bemerkt, bei vielen arg in Mißkredit geratne —
Humanitütsvorstelluug ist nicht gleichbedeutend mit dem freimaurerischen Humani¬
tätsgedanken.

Der Humanitätsgedauke der Freimaurer ist ein Erziehungsgedanke. Er
wird charakterisiert durch eine bestimmte Vorstellung von der Art und Weise,
wie die Menschen erzogen werden sollen. Die Erziehung — so sagen die
Anhänger dieses Gedankens, die Humanisten — muß bestehn in einer Ent¬
faltung des „Menschentums". Es herrscht hier, im Gegensatz zu andern Er-
ziehungsvorstellungen, die Anschauung, daß der Mensch nicht von Natur
verderbt und sündhaft sei, vielmehr die Anlage zum Sittlichsein in sich trage.
Diese natürliche Anlage soll nach Ansicht des Humanismus gepflegt werden
durch Gewissenswcckung, durch Übung und Ausbildung der intuitiver Fähig¬
keiten des Menschen, die in seinem „höhern Bedürfnis", seinem Interesse für
das Gute, das Wahre, das Schöne zur Geltung kommen. Dabei wird die
Auffassung vertreten, daß die sittlichen Ideen, denen das seelische Bedürfnis
zustrebt, der Inhalt eines Gotteswillens, einer in der Ewigkeit und Unend¬
lichkeit wirkenden Absicht sind, und es wird demgemäß in der Humanitätslehre
die pädagogische Forderung zur Geltung gebracht, daß als Gegenstand der
Gewissenserkenntnis, als Substrat des sittlichen Empfindens des Menschen eine
„sittliche Weltordnung" bezeichnet werden muß. die sich als das Göttliche, das
Gottesreich in der Welt durchzusetzen sucht.

Diese vom Humanitätsgedaukcn begehrte religiöse Erziehung nimmt zum
idealen Ziel die möglichst hoch entwickelte eigne Gotteserkenntuis des einzelnen,
das durch bewußte Betätigung sich mehrende eigne religiöse Empfinden und
religiöse Erleben aller. Die bloße Gewöhnung der Menschen unter die Herrschaft
fremder Glaubenslehre wird hier als Ideal verworfen. Man hält diese dogmatische
Eingewöhnung für einen Religionszustaud, der mehr und mehr überwunden
werden muß und bei rechtem Menschheitsfortschritt immer mehr an praktischer
Berechtigung verliert. Erziehung zur eignen religiösen Intelligenz unter Sicherung
völliger Gewissensfreiheit erscheint hier als das Ziel der Humanitären Be¬
strebungen. Der Gedanke, als ob unter der Herrschaft eines religiösen Dogmatismus
das Heil der Menschheit auf die Dauer am besten geborgen sei, wird von der
Weltanschauung des Humanismus abgelehnt.

Neben der Entwicklung der eignen religiösen Intelligenz aber verlangt der
Humanitütsgedanke weiter die höchste Entwicklung auch des sonstigen eignen
Gre


nzboten IV 1908 4
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[0033] Das Wesen der Freimaurerei der Platoniker bis zu den Akademien und Sozietäten des Mittelalters —, die lange vor dem Aufkommen der heutigen Freimaurerorgauisationen den Humam- tätsgedanken in Pflege genommen haben. Welches aber ist der Inhalt dieses Gedankens, dieser uralten Humani¬ tären Welt- und Lebensanschauung, die das Wesentliche aller wahren Frei¬ maurerei ausmacht? Darüber gibt der Begriff „Humanität", wie er heute vielfach gefaßt wird, nicht ohne weiteres Auskunft. Die heutige vieldeutig schillernde — und, nebenbei bemerkt, bei vielen arg in Mißkredit geratne — Humanitütsvorstelluug ist nicht gleichbedeutend mit dem freimaurerischen Humani¬ tätsgedanken. Der Humanitätsgedauke der Freimaurer ist ein Erziehungsgedanke. Er wird charakterisiert durch eine bestimmte Vorstellung von der Art und Weise, wie die Menschen erzogen werden sollen. Die Erziehung — so sagen die Anhänger dieses Gedankens, die Humanisten — muß bestehn in einer Ent¬ faltung des „Menschentums". Es herrscht hier, im Gegensatz zu andern Er- ziehungsvorstellungen, die Anschauung, daß der Mensch nicht von Natur verderbt und sündhaft sei, vielmehr die Anlage zum Sittlichsein in sich trage. Diese natürliche Anlage soll nach Ansicht des Humanismus gepflegt werden durch Gewissenswcckung, durch Übung und Ausbildung der intuitiver Fähig¬ keiten des Menschen, die in seinem „höhern Bedürfnis", seinem Interesse für das Gute, das Wahre, das Schöne zur Geltung kommen. Dabei wird die Auffassung vertreten, daß die sittlichen Ideen, denen das seelische Bedürfnis zustrebt, der Inhalt eines Gotteswillens, einer in der Ewigkeit und Unend¬ lichkeit wirkenden Absicht sind, und es wird demgemäß in der Humanitätslehre die pädagogische Forderung zur Geltung gebracht, daß als Gegenstand der Gewissenserkenntnis, als Substrat des sittlichen Empfindens des Menschen eine „sittliche Weltordnung" bezeichnet werden muß. die sich als das Göttliche, das Gottesreich in der Welt durchzusetzen sucht. Diese vom Humanitätsgedaukcn begehrte religiöse Erziehung nimmt zum idealen Ziel die möglichst hoch entwickelte eigne Gotteserkenntuis des einzelnen, das durch bewußte Betätigung sich mehrende eigne religiöse Empfinden und religiöse Erleben aller. Die bloße Gewöhnung der Menschen unter die Herrschaft fremder Glaubenslehre wird hier als Ideal verworfen. Man hält diese dogmatische Eingewöhnung für einen Religionszustaud, der mehr und mehr überwunden werden muß und bei rechtem Menschheitsfortschritt immer mehr an praktischer Berechtigung verliert. Erziehung zur eignen religiösen Intelligenz unter Sicherung völliger Gewissensfreiheit erscheint hier als das Ziel der Humanitären Be¬ strebungen. Der Gedanke, als ob unter der Herrschaft eines religiösen Dogmatismus das Heil der Menschheit auf die Dauer am besten geborgen sei, wird von der Weltanschauung des Humanismus abgelehnt. Neben der Entwicklung der eignen religiösen Intelligenz aber verlangt der Humanitütsgedanke weiter die höchste Entwicklung auch des sonstigen eignen Gre nzboten IV 1908 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/33>, abgerufen am 22.07.2024.