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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Hchülerselbstmorde

mes einzigen, eines allereinzigen Falles erinnere ich mich aus
meiner Kindheit. Es war wenige Wochen vor der Konfirmation,
da lief durch das fränkische Städtchen das Gerücht, man hätte
aus dem "Beckenwciher" eine Leiche gefischt, einen Knaben, der
nach dem Schulunterricht nicht ins Elternhaus zurückgekehrt war.
Was lag zugrunde? Näschereien, Kleinigkeiten, nichts Ernstliches, nichts
Gravierendes. Aber wer kennt die Psyche eines Kindes? Wars Furcht vor
Strafe, wars übertriebnes Schamgefühl? Niemand konnte Antwort geben.
Trostlos die Eltern, außer sich die Geschwister, starr wir Kameraden, weil wir
nicht wußten, was wir denken sollten. Dazu eine Grabrede mit vielen Ent¬
gleisungen, eine scharfe, allzuscharfe Straf- und Mahnpredigt für die Mitschüler,
die ganz unschuldig an dem Unglück waren. Immer wieder sehe ich die Leiche
im Totenhaus, den Kiudersarg vor mir, sobald ich in der Zeitung von ähn¬
lichen Lebensausgängen lese. Vergeht doch kaum eine Woche ohne solche
Unglücksbotschaft. Wohin sind wir gekommen, die wir uns auf Fortschritt und
Kultur so viel zugute tun? Was ist es doch für ein tieftrauriges Zeichen
unsrer Zeit, unsrer heutigem Zustünde, was ist es doch für eine schwere Anklage
gegen unsre ganze Gesellschaft, daß wir so überaus häufig von Selbstmord¬
fällen uuerwachsuer junger Leute hören, die noch auf der Schulbank sitzen!
Bald ist es ein dürftiges Schulzeugnis, bald die Verweigerung zum Vorrücken
in eine höhere Klasse, jetzt liegt übertriebner Ehrgeiz zugrunde, jetzt gekränktes
Ehrgefühl oder vermeintliche Beleidigung, und das traurige Ende des traurigen
Liedes ist, daß der junge Mensch ohne jede Rücksicht auf sich, auf Eltern und
Geschwister, auf die Schule sein Leben hinwirft, als handle es sich um ein
nichts. Ja mehr noch, Kinder sogar, die in der Nacht nicht über den dunkeln
Gang zu gehn sich getrauen, die bei der geringsten Gefahr zu den Erwachsnen
flüchten, sie schrecken nicht zurück vor dem finstersten Weg in unbekannte Tiefen,
Kinderhnnde, bisher nor mit Spiel und Tand beschäftigt, klopfen todesmutig
an der ehernen Pforte an, vor der die Lebenssatten und Altersmüden mit
Zittern und Zagen stehn. Ist das nicht zum Verzweifeln traurig? ist es nicht
ganz ungeheuerlich?

Die öffentliche Meinung gibt sich in der Regel keine besondre Mühe, bei
solch traurig-ernsten Vorkommnissen auf den Grund zu sehn. Handelt es sich
um Schüler, dann muß die Hauptschuld an dem Lehrer liegen, dann wird die




Hchülerselbstmorde

mes einzigen, eines allereinzigen Falles erinnere ich mich aus
meiner Kindheit. Es war wenige Wochen vor der Konfirmation,
da lief durch das fränkische Städtchen das Gerücht, man hätte
aus dem „Beckenwciher" eine Leiche gefischt, einen Knaben, der
nach dem Schulunterricht nicht ins Elternhaus zurückgekehrt war.
Was lag zugrunde? Näschereien, Kleinigkeiten, nichts Ernstliches, nichts
Gravierendes. Aber wer kennt die Psyche eines Kindes? Wars Furcht vor
Strafe, wars übertriebnes Schamgefühl? Niemand konnte Antwort geben.
Trostlos die Eltern, außer sich die Geschwister, starr wir Kameraden, weil wir
nicht wußten, was wir denken sollten. Dazu eine Grabrede mit vielen Ent¬
gleisungen, eine scharfe, allzuscharfe Straf- und Mahnpredigt für die Mitschüler,
die ganz unschuldig an dem Unglück waren. Immer wieder sehe ich die Leiche
im Totenhaus, den Kiudersarg vor mir, sobald ich in der Zeitung von ähn¬
lichen Lebensausgängen lese. Vergeht doch kaum eine Woche ohne solche
Unglücksbotschaft. Wohin sind wir gekommen, die wir uns auf Fortschritt und
Kultur so viel zugute tun? Was ist es doch für ein tieftrauriges Zeichen
unsrer Zeit, unsrer heutigem Zustünde, was ist es doch für eine schwere Anklage
gegen unsre ganze Gesellschaft, daß wir so überaus häufig von Selbstmord¬
fällen uuerwachsuer junger Leute hören, die noch auf der Schulbank sitzen!
Bald ist es ein dürftiges Schulzeugnis, bald die Verweigerung zum Vorrücken
in eine höhere Klasse, jetzt liegt übertriebner Ehrgeiz zugrunde, jetzt gekränktes
Ehrgefühl oder vermeintliche Beleidigung, und das traurige Ende des traurigen
Liedes ist, daß der junge Mensch ohne jede Rücksicht auf sich, auf Eltern und
Geschwister, auf die Schule sein Leben hinwirft, als handle es sich um ein
nichts. Ja mehr noch, Kinder sogar, die in der Nacht nicht über den dunkeln
Gang zu gehn sich getrauen, die bei der geringsten Gefahr zu den Erwachsnen
flüchten, sie schrecken nicht zurück vor dem finstersten Weg in unbekannte Tiefen,
Kinderhnnde, bisher nor mit Spiel und Tand beschäftigt, klopfen todesmutig
an der ehernen Pforte an, vor der die Lebenssatten und Altersmüden mit
Zittern und Zagen stehn. Ist das nicht zum Verzweifeln traurig? ist es nicht
ganz ungeheuerlich?

Die öffentliche Meinung gibt sich in der Regel keine besondre Mühe, bei
solch traurig-ernsten Vorkommnissen auf den Grund zu sehn. Handelt es sich
um Schüler, dann muß die Hauptschuld an dem Lehrer liegen, dann wird die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/283>, abgerufen am 22.07.2024.