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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Junge Richter und junge Rechtsanwälte

von, Getreide und andern Früchten sowie von Fleisch oder auch Schlachttiere
zu liefern hat; aus diesen Lebensmitteln bestreitet der Verkäufer seinen Unter¬
halt abgesondert von der Haushaltung des Käufers. Jetzt erscheint der Leib¬
gedinger vor dem Rechtsanwalt und beschwert sich darüber, daß der Käufer
(Hofbesitzer) von diesen Leistungen nichts geliefert habe. Ist der Rechtsanwalt
ein erfahrner, praktisch geschulter Mann, so erwägt er sofort, daß der Leib-
gedinger während des verflossenen Jahres doch nicht von der Luft gelebt
habe, daß aber nach einer in der bäuerlichen Bevölkerung weit verbreiteten
Übung der Leibgedinger seinen Unterhalt am Tisch des Bauern, wie ein Mit¬
glied der Familie, erhält und dann die ihm verschriebnen Leistungen nicht
fordert. Über die Rechtsfolgen des so bethätigten Verhaltens wird unter den
Beteiligten kein Wort gewechselt; die Rechtsbegriffe der Angabe an Zahlungs
Statt und des Verzichts kommen den Beteiligten gar nicht zum Bewußtsein.
Der praktisch geschulte Jurist aber findet in dem geschilderten Verhalten einen
stillschweigenden Vertrag, wonach der Leibgedinger an Stelle der ihm ge¬
schuldeten einzelnen Leistungen Unterhalt am Tisch des Hofbesitzers erhält.
Sofern also der Leibgedinger dem Anwalt auf Befragen einräumt, daß der
geschilderte Sachverhalt vorliege, wird der Anwalt den Anspruch als unbe¬
gründet bezeichnen und die Erhebung der Klage ablehnen. Anders der jüngere,
praktisch nicht geschulte Anwalt; er erhebt die Klage. Und ist der zur Ent¬
scheidung berufne Richter ebenfalls unerfahren, und bringt der beklagte Hof¬
besitzer gegen den Klageanspruch nur die oben erwähnte Tatsache vor, daß er
an seinem Tisch dem Leibgedinger vollständigen Unterhalt gewährt habe, so
läuft er Gefahr, daß dies sein Vordringen vom Richter als unerheblich be¬
zeichnet wird, weil ein ausdrücklicher Verzicht des Leibgedingers auf die ein¬
geklagten Leistungen vom Beklagten nicht behauptet werde, dieser danach zu
den eingeklagten Leistungen verpflichtet sei und höchstens vom Leibgedinger den
Wert des ihm gewährten Unterhalts in Geld erstattet verlangen könne. Dem
unerfahrnen, praktisch nicht geschulten Juristen geht eben die Fähigkeit ab,
aus dem geschilderten Sachverhalt die Rechtsfolge des stillschweigenden
Vertrags über Hingabe an Zahlungs Statt zu ziehen.

Ein Beispiel in andrer Art. Der Bauer ist vom Schneider auf Zahlung
des Arbeitslohns für einen Anzug verklagt, vom Viehverschneider auf Zahlung
des Kastrierlohns. Zur Begründung seiner Zahlungsweigerung trügt der
Bauer dem Amtsrichter vor: der Schneider habe den Anzug verpaßt, sodaß
er nicht zu tragen sei; der Viehverschneider habe fahrlässig den Tod des ver-
schnittnem Tieres herbeigeführt; zum Beweis für seine Behauptungen beruft
sich der Bauer auf das Gutachten eines am Ort wohnenden andern Schneiders
oder eines in der Gegend wohnhaften andern Viehverschneiders. Ist der
Amtsrichter ein erfahrner Richter, so erwägt er, daß nicht bloß auf dem Ge¬
biet der Wissenschaft, sondern auch auf dem des rein handwerksmüßigen Be¬
triebes über die Frage, wie eine Arbeit richtig auszuführen ist, und ob den


Junge Richter und junge Rechtsanwälte

von, Getreide und andern Früchten sowie von Fleisch oder auch Schlachttiere
zu liefern hat; aus diesen Lebensmitteln bestreitet der Verkäufer seinen Unter¬
halt abgesondert von der Haushaltung des Käufers. Jetzt erscheint der Leib¬
gedinger vor dem Rechtsanwalt und beschwert sich darüber, daß der Käufer
(Hofbesitzer) von diesen Leistungen nichts geliefert habe. Ist der Rechtsanwalt
ein erfahrner, praktisch geschulter Mann, so erwägt er sofort, daß der Leib-
gedinger während des verflossenen Jahres doch nicht von der Luft gelebt
habe, daß aber nach einer in der bäuerlichen Bevölkerung weit verbreiteten
Übung der Leibgedinger seinen Unterhalt am Tisch des Bauern, wie ein Mit¬
glied der Familie, erhält und dann die ihm verschriebnen Leistungen nicht
fordert. Über die Rechtsfolgen des so bethätigten Verhaltens wird unter den
Beteiligten kein Wort gewechselt; die Rechtsbegriffe der Angabe an Zahlungs
Statt und des Verzichts kommen den Beteiligten gar nicht zum Bewußtsein.
Der praktisch geschulte Jurist aber findet in dem geschilderten Verhalten einen
stillschweigenden Vertrag, wonach der Leibgedinger an Stelle der ihm ge¬
schuldeten einzelnen Leistungen Unterhalt am Tisch des Hofbesitzers erhält.
Sofern also der Leibgedinger dem Anwalt auf Befragen einräumt, daß der
geschilderte Sachverhalt vorliege, wird der Anwalt den Anspruch als unbe¬
gründet bezeichnen und die Erhebung der Klage ablehnen. Anders der jüngere,
praktisch nicht geschulte Anwalt; er erhebt die Klage. Und ist der zur Ent¬
scheidung berufne Richter ebenfalls unerfahren, und bringt der beklagte Hof¬
besitzer gegen den Klageanspruch nur die oben erwähnte Tatsache vor, daß er
an seinem Tisch dem Leibgedinger vollständigen Unterhalt gewährt habe, so
läuft er Gefahr, daß dies sein Vordringen vom Richter als unerheblich be¬
zeichnet wird, weil ein ausdrücklicher Verzicht des Leibgedingers auf die ein¬
geklagten Leistungen vom Beklagten nicht behauptet werde, dieser danach zu
den eingeklagten Leistungen verpflichtet sei und höchstens vom Leibgedinger den
Wert des ihm gewährten Unterhalts in Geld erstattet verlangen könne. Dem
unerfahrnen, praktisch nicht geschulten Juristen geht eben die Fähigkeit ab,
aus dem geschilderten Sachverhalt die Rechtsfolge des stillschweigenden
Vertrags über Hingabe an Zahlungs Statt zu ziehen.

Ein Beispiel in andrer Art. Der Bauer ist vom Schneider auf Zahlung
des Arbeitslohns für einen Anzug verklagt, vom Viehverschneider auf Zahlung
des Kastrierlohns. Zur Begründung seiner Zahlungsweigerung trügt der
Bauer dem Amtsrichter vor: der Schneider habe den Anzug verpaßt, sodaß
er nicht zu tragen sei; der Viehverschneider habe fahrlässig den Tod des ver-
schnittnem Tieres herbeigeführt; zum Beweis für seine Behauptungen beruft
sich der Bauer auf das Gutachten eines am Ort wohnenden andern Schneiders
oder eines in der Gegend wohnhaften andern Viehverschneiders. Ist der
Amtsrichter ein erfahrner Richter, so erwägt er, daß nicht bloß auf dem Ge¬
biet der Wissenschaft, sondern auch auf dem des rein handwerksmüßigen Be¬
triebes über die Frage, wie eine Arbeit richtig auszuführen ist, und ob den


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[0280] Junge Richter und junge Rechtsanwälte von, Getreide und andern Früchten sowie von Fleisch oder auch Schlachttiere zu liefern hat; aus diesen Lebensmitteln bestreitet der Verkäufer seinen Unter¬ halt abgesondert von der Haushaltung des Käufers. Jetzt erscheint der Leib¬ gedinger vor dem Rechtsanwalt und beschwert sich darüber, daß der Käufer (Hofbesitzer) von diesen Leistungen nichts geliefert habe. Ist der Rechtsanwalt ein erfahrner, praktisch geschulter Mann, so erwägt er sofort, daß der Leib- gedinger während des verflossenen Jahres doch nicht von der Luft gelebt habe, daß aber nach einer in der bäuerlichen Bevölkerung weit verbreiteten Übung der Leibgedinger seinen Unterhalt am Tisch des Bauern, wie ein Mit¬ glied der Familie, erhält und dann die ihm verschriebnen Leistungen nicht fordert. Über die Rechtsfolgen des so bethätigten Verhaltens wird unter den Beteiligten kein Wort gewechselt; die Rechtsbegriffe der Angabe an Zahlungs Statt und des Verzichts kommen den Beteiligten gar nicht zum Bewußtsein. Der praktisch geschulte Jurist aber findet in dem geschilderten Verhalten einen stillschweigenden Vertrag, wonach der Leibgedinger an Stelle der ihm ge¬ schuldeten einzelnen Leistungen Unterhalt am Tisch des Hofbesitzers erhält. Sofern also der Leibgedinger dem Anwalt auf Befragen einräumt, daß der geschilderte Sachverhalt vorliege, wird der Anwalt den Anspruch als unbe¬ gründet bezeichnen und die Erhebung der Klage ablehnen. Anders der jüngere, praktisch nicht geschulte Anwalt; er erhebt die Klage. Und ist der zur Ent¬ scheidung berufne Richter ebenfalls unerfahren, und bringt der beklagte Hof¬ besitzer gegen den Klageanspruch nur die oben erwähnte Tatsache vor, daß er an seinem Tisch dem Leibgedinger vollständigen Unterhalt gewährt habe, so läuft er Gefahr, daß dies sein Vordringen vom Richter als unerheblich be¬ zeichnet wird, weil ein ausdrücklicher Verzicht des Leibgedingers auf die ein¬ geklagten Leistungen vom Beklagten nicht behauptet werde, dieser danach zu den eingeklagten Leistungen verpflichtet sei und höchstens vom Leibgedinger den Wert des ihm gewährten Unterhalts in Geld erstattet verlangen könne. Dem unerfahrnen, praktisch nicht geschulten Juristen geht eben die Fähigkeit ab, aus dem geschilderten Sachverhalt die Rechtsfolge des stillschweigenden Vertrags über Hingabe an Zahlungs Statt zu ziehen. Ein Beispiel in andrer Art. Der Bauer ist vom Schneider auf Zahlung des Arbeitslohns für einen Anzug verklagt, vom Viehverschneider auf Zahlung des Kastrierlohns. Zur Begründung seiner Zahlungsweigerung trügt der Bauer dem Amtsrichter vor: der Schneider habe den Anzug verpaßt, sodaß er nicht zu tragen sei; der Viehverschneider habe fahrlässig den Tod des ver- schnittnem Tieres herbeigeführt; zum Beweis für seine Behauptungen beruft sich der Bauer auf das Gutachten eines am Ort wohnenden andern Schneiders oder eines in der Gegend wohnhaften andern Viehverschneiders. Ist der Amtsrichter ein erfahrner Richter, so erwägt er, daß nicht bloß auf dem Ge¬ biet der Wissenschaft, sondern auch auf dem des rein handwerksmüßigen Be¬ triebes über die Frage, wie eine Arbeit richtig auszuführen ist, und ob den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/280>, abgerufen am 22.07.2024.