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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Junge Richter und junge Rechtsanwälte

nicht gelernt hat, einen Rechtsfall richtig zu beurteilen, wird es auch nicht
erlernen, wenn er fünfunddreißig oder vierzig oder fünfzig Jahre alt ge¬
worden ist", so äußert sich wörtlich Gerichtsassessor Beinert in der Deutschen
Juristenzeitung von 1908, S. 358. Spreche man dem jungen Richter die
Fähigkeit zum Zivilrichter ab, dann müsse man folgerichtig dafür eintreten,
daß ihm überhaupt noch nicht die selbständige Wahrnehmung richterlicher Ge¬
schäfte anvertraut werde; denn bei den übrigen Zweigen der amtsgerichtlichen
Tätigkeit komme es auf praktische Lebenserfahrung des Richters mindestens
in gleicher Weise an wie im Zivilprozeß. Auch ist mehrfach auf die Gefahren
hingewiesen, die dem Nichterstande drohen, wenn der Richter noch später als
jetzt in die Lage kommt, unter eigner Verantwortung zu arbeiten.

Doch sind auch aus richterlichen Kreisen entgegengesetzte Ansichten ge¬
äußert, und es ist zum Beispiel vorgeschlagen worden, die Assessoren erst zwei
Jahre lang bei Anwälten und in privaten Betrieben zu beschäftigen oder den
Assessoren lediglich die schriftliche Absetzung von Urteilen, die von erfahrnen
Richtern mündlich verkündet sind, zu übertragen.

Äußerst leicht gleitet die Begründung zu dem oben erwähnten Entwurf
des Gesetzes betreffend Änderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes über unsre
Frage hinweg; sie begnügt sich S. 18 mit der kurzen Bemerkung: "Die Be¬
sorgnis, daß der deutsche Amtsrichter sich den ihm zu übertragenden größern
Aufgaben nicht im vollen Umfange gewachsen zeigen werde, ist nach den Er¬
fahrungen der Justizverwaltungen unbegründet. Es darf in ihn das Ver¬
trauen gesetzt werden, daß er ebenso wie in andern Ländern, in denen die
Zuständigkeit der Einzelrichter vielfach weit über die Grenzen des deutschen
Gerichtsverfassungsgesetzes hinausgeht, imstande sein wird, auch die ihm bei
erweiterter Zuständigkeit zufallenden Streitsachen sachgemäß zu entscheiden.
Schon jetzt hat der Einzelrichter auf dem Gebiete der freiwilligen Gerichts¬
barkeit sowie in Zwangsvollstreckungs-, Arrest- und Konkurssachen über un¬
begrenzte Werte weittragende Entscheidungen zu treffen. Daß er auf diesen
Gebieten den Anforderungen nicht genügt hätte, darüber sind berechtigte
Klagen nicht laut geworden. Die Justizverwaltungen werden überall eine
hinreichende Zahl von Persönlichkeiten zu finden wissen, die zur Verhandlung
und Entscheidung von Prozessen mit einem größern Streitwerte in der
Stellung als Einzelrichter befähigt sind, und es darf erwartet werden, daß
diese Auswahl "ach Erhöhung der Zuständigkeitsgrenze mit besondrer Umsicht
getroffen werden wird."

Die oben erwähnte Frage ist eine der schwierigsten unter all den zahl¬
reichen Fragen, die gegenwärtig bei der beabsichtigten Änderung der Gesetz¬
gebung erörtert werden; denn sie fordert die Besprechung von Dingen, die
bald auf der einen, bald auf der andern Seite nicht gern gehört werden.



") Vgl. Landrichter Winter, "Rechtspflege, Richter und Publikum in Deutschland" (1907);
Oberlandesgerichtspräsident Holtgrefen, "Vorschläge zur Justizreform" (1907).
Junge Richter und junge Rechtsanwälte

nicht gelernt hat, einen Rechtsfall richtig zu beurteilen, wird es auch nicht
erlernen, wenn er fünfunddreißig oder vierzig oder fünfzig Jahre alt ge¬
worden ist", so äußert sich wörtlich Gerichtsassessor Beinert in der Deutschen
Juristenzeitung von 1908, S. 358. Spreche man dem jungen Richter die
Fähigkeit zum Zivilrichter ab, dann müsse man folgerichtig dafür eintreten,
daß ihm überhaupt noch nicht die selbständige Wahrnehmung richterlicher Ge¬
schäfte anvertraut werde; denn bei den übrigen Zweigen der amtsgerichtlichen
Tätigkeit komme es auf praktische Lebenserfahrung des Richters mindestens
in gleicher Weise an wie im Zivilprozeß. Auch ist mehrfach auf die Gefahren
hingewiesen, die dem Nichterstande drohen, wenn der Richter noch später als
jetzt in die Lage kommt, unter eigner Verantwortung zu arbeiten.

Doch sind auch aus richterlichen Kreisen entgegengesetzte Ansichten ge¬
äußert, und es ist zum Beispiel vorgeschlagen worden, die Assessoren erst zwei
Jahre lang bei Anwälten und in privaten Betrieben zu beschäftigen oder den
Assessoren lediglich die schriftliche Absetzung von Urteilen, die von erfahrnen
Richtern mündlich verkündet sind, zu übertragen.

Äußerst leicht gleitet die Begründung zu dem oben erwähnten Entwurf
des Gesetzes betreffend Änderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes über unsre
Frage hinweg; sie begnügt sich S. 18 mit der kurzen Bemerkung: „Die Be¬
sorgnis, daß der deutsche Amtsrichter sich den ihm zu übertragenden größern
Aufgaben nicht im vollen Umfange gewachsen zeigen werde, ist nach den Er¬
fahrungen der Justizverwaltungen unbegründet. Es darf in ihn das Ver¬
trauen gesetzt werden, daß er ebenso wie in andern Ländern, in denen die
Zuständigkeit der Einzelrichter vielfach weit über die Grenzen des deutschen
Gerichtsverfassungsgesetzes hinausgeht, imstande sein wird, auch die ihm bei
erweiterter Zuständigkeit zufallenden Streitsachen sachgemäß zu entscheiden.
Schon jetzt hat der Einzelrichter auf dem Gebiete der freiwilligen Gerichts¬
barkeit sowie in Zwangsvollstreckungs-, Arrest- und Konkurssachen über un¬
begrenzte Werte weittragende Entscheidungen zu treffen. Daß er auf diesen
Gebieten den Anforderungen nicht genügt hätte, darüber sind berechtigte
Klagen nicht laut geworden. Die Justizverwaltungen werden überall eine
hinreichende Zahl von Persönlichkeiten zu finden wissen, die zur Verhandlung
und Entscheidung von Prozessen mit einem größern Streitwerte in der
Stellung als Einzelrichter befähigt sind, und es darf erwartet werden, daß
diese Auswahl »ach Erhöhung der Zuständigkeitsgrenze mit besondrer Umsicht
getroffen werden wird."

Die oben erwähnte Frage ist eine der schwierigsten unter all den zahl¬
reichen Fragen, die gegenwärtig bei der beabsichtigten Änderung der Gesetz¬
gebung erörtert werden; denn sie fordert die Besprechung von Dingen, die
bald auf der einen, bald auf der andern Seite nicht gern gehört werden.



") Vgl. Landrichter Winter, „Rechtspflege, Richter und Publikum in Deutschland" (1907);
Oberlandesgerichtspräsident Holtgrefen, „Vorschläge zur Justizreform" (1907).
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/278>, abgerufen am 22.07.2024.