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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Julius Wolfs exakte Nationalökonomie

Produzenten über die Konjunktur schlecht unterrichtet sind, oder weil sie, in
der Hoffnung auf Besserung, den Betrieb nicht einstellen wollen -- eine Zeit
lang, nicht aber auf die Dauer produziert werden. Wenn die Lohnarbeiter,
die doch im modernen Staat durchschnittlich mindestens die Hülste der Be¬
völkerung ausmachen, sich nicht einmal satt essen und ordentlich kleiden können,
wie sollen da die Landwirtschaft und die Fabrikanten von Kleiderstoffen bestehn,
vom wohlfeilen Luxus gar nicht zu reden. Durch Export vielleicht. In der
Tat ist das eine ganze Periode hindurch möglich gewesen. Die englischen
Kattunfabrikanten sind reich geworden in einer Zeit, wo, mit Carlyle zu
reden, die Leute, die den Hemdenkattun machten, kein Hemd auf dem Leibe
hatten. Aber heute, wo viele Länder ebenso wohlfeilen Hemdenkattun pro¬
duzieren wie England, würde die Industrie von Lancashire übel daran sein,
wenn sich ihre Arbeiter nicht durch einen jahrzehntelang währenden Lohnkampf
in den Stand gesetzt hätten, nicht bloß selbst Hemden zu trage", sondern sie
auch so oft zu wechseln, als es die Reinlichkeit fordert. Daß die Fabrikanten
Wolfs Standpunkt einnehmen, ist ihnen nicht zu verargen. Jeder Mensch
wahrt seinen augenblicklichen Vorteil und verteidigt sein Einkommen. Am
berechtigtsten ist der Widerstand solcher Fabrikanten, die nicht zu hoffen haben,
daß ihr Verlust mit der Zeit in Gewinn umschlagen werde, was nur bei
Produzenten von Gütern des Massenverbrauchs der Fall sein kann. Dem
Fabrikanten kostbarer Spitzen nutzt es nichts, wenn sich das Einkommen der
Lohnarbeiter, der Handwerker, der Bauern, der kleinen Beamten erhöht, denn
dieser Leute Frauen und Töchter tragen keine echten Spitzen. Also der
Widerstand jedes einzelnen Unternehmers gegen Lohnerhöhungen ist erklärlich
und in vielen Fällen gerechtfertigt, aber Gesellschaft und Staat dürfen sich so
wenig wie die Nationalökonomie auf den Standpunkt des einzelnen Unter¬
nehmers stellen. Wolf scheint die Richtigkeit unsrer Auffassung bedingungs¬
weise und mit Einschränkungen zuzugeben, denn er fährt an der oben an¬
geführten Stelle fort: "Eine Vermehrung der Kaufkraft könnte nur mittelbar
aus andrer Verwendung des anders verteilten Einkommens entspringen."
In der Tat, auf die andre Verwendung kommt es an, darauf, daß mehr
Brot, Fleisch, Obst, Gemüse, Kleider, gewöhnliche Hausgeräte gekauft, mehr
gesunde Wohnungen für kleine Leute gebaut werden, auf die Gefahr hin, daß
etwas weniger kostspieliger Luxus produziert und etwas weniger Einkommen¬
überschuß kapitalisiert wird, welche Wirkung übrigens, wie die Wirtschafts¬
geschichte des letzten Jahrzehnts beweist, durchaus nicht notwendigerweise ein¬
zutreten braucht. In einem Satze, den ich nicht verstehe, fügt Wolf seinem
Zugeständnis die Einschränkung bei, es geschehe das nur selten. Vielmehr
ist es, wie die rasche Zunahme des Volksvermögens aller Kulturstaaten in den
letzten Jahrzehnten beweist, ganz allgemein der Fall. Natürlich läßt sich, wie
schon mehrfach angedeutet wurde, die Wechselwirkung der einzelnen Ver¬
änderungen, die sich beim Aufschwung wie beim Niedergang einer Volkswirt-


Julius Wolfs exakte Nationalökonomie

Produzenten über die Konjunktur schlecht unterrichtet sind, oder weil sie, in
der Hoffnung auf Besserung, den Betrieb nicht einstellen wollen — eine Zeit
lang, nicht aber auf die Dauer produziert werden. Wenn die Lohnarbeiter,
die doch im modernen Staat durchschnittlich mindestens die Hülste der Be¬
völkerung ausmachen, sich nicht einmal satt essen und ordentlich kleiden können,
wie sollen da die Landwirtschaft und die Fabrikanten von Kleiderstoffen bestehn,
vom wohlfeilen Luxus gar nicht zu reden. Durch Export vielleicht. In der
Tat ist das eine ganze Periode hindurch möglich gewesen. Die englischen
Kattunfabrikanten sind reich geworden in einer Zeit, wo, mit Carlyle zu
reden, die Leute, die den Hemdenkattun machten, kein Hemd auf dem Leibe
hatten. Aber heute, wo viele Länder ebenso wohlfeilen Hemdenkattun pro¬
duzieren wie England, würde die Industrie von Lancashire übel daran sein,
wenn sich ihre Arbeiter nicht durch einen jahrzehntelang währenden Lohnkampf
in den Stand gesetzt hätten, nicht bloß selbst Hemden zu trage», sondern sie
auch so oft zu wechseln, als es die Reinlichkeit fordert. Daß die Fabrikanten
Wolfs Standpunkt einnehmen, ist ihnen nicht zu verargen. Jeder Mensch
wahrt seinen augenblicklichen Vorteil und verteidigt sein Einkommen. Am
berechtigtsten ist der Widerstand solcher Fabrikanten, die nicht zu hoffen haben,
daß ihr Verlust mit der Zeit in Gewinn umschlagen werde, was nur bei
Produzenten von Gütern des Massenverbrauchs der Fall sein kann. Dem
Fabrikanten kostbarer Spitzen nutzt es nichts, wenn sich das Einkommen der
Lohnarbeiter, der Handwerker, der Bauern, der kleinen Beamten erhöht, denn
dieser Leute Frauen und Töchter tragen keine echten Spitzen. Also der
Widerstand jedes einzelnen Unternehmers gegen Lohnerhöhungen ist erklärlich
und in vielen Fällen gerechtfertigt, aber Gesellschaft und Staat dürfen sich so
wenig wie die Nationalökonomie auf den Standpunkt des einzelnen Unter¬
nehmers stellen. Wolf scheint die Richtigkeit unsrer Auffassung bedingungs¬
weise und mit Einschränkungen zuzugeben, denn er fährt an der oben an¬
geführten Stelle fort: „Eine Vermehrung der Kaufkraft könnte nur mittelbar
aus andrer Verwendung des anders verteilten Einkommens entspringen."
In der Tat, auf die andre Verwendung kommt es an, darauf, daß mehr
Brot, Fleisch, Obst, Gemüse, Kleider, gewöhnliche Hausgeräte gekauft, mehr
gesunde Wohnungen für kleine Leute gebaut werden, auf die Gefahr hin, daß
etwas weniger kostspieliger Luxus produziert und etwas weniger Einkommen¬
überschuß kapitalisiert wird, welche Wirkung übrigens, wie die Wirtschafts¬
geschichte des letzten Jahrzehnts beweist, durchaus nicht notwendigerweise ein¬
zutreten braucht. In einem Satze, den ich nicht verstehe, fügt Wolf seinem
Zugeständnis die Einschränkung bei, es geschehe das nur selten. Vielmehr
ist es, wie die rasche Zunahme des Volksvermögens aller Kulturstaaten in den
letzten Jahrzehnten beweist, ganz allgemein der Fall. Natürlich läßt sich, wie
schon mehrfach angedeutet wurde, die Wechselwirkung der einzelnen Ver¬
änderungen, die sich beim Aufschwung wie beim Niedergang einer Volkswirt-


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[0238] Julius Wolfs exakte Nationalökonomie Produzenten über die Konjunktur schlecht unterrichtet sind, oder weil sie, in der Hoffnung auf Besserung, den Betrieb nicht einstellen wollen — eine Zeit lang, nicht aber auf die Dauer produziert werden. Wenn die Lohnarbeiter, die doch im modernen Staat durchschnittlich mindestens die Hülste der Be¬ völkerung ausmachen, sich nicht einmal satt essen und ordentlich kleiden können, wie sollen da die Landwirtschaft und die Fabrikanten von Kleiderstoffen bestehn, vom wohlfeilen Luxus gar nicht zu reden. Durch Export vielleicht. In der Tat ist das eine ganze Periode hindurch möglich gewesen. Die englischen Kattunfabrikanten sind reich geworden in einer Zeit, wo, mit Carlyle zu reden, die Leute, die den Hemdenkattun machten, kein Hemd auf dem Leibe hatten. Aber heute, wo viele Länder ebenso wohlfeilen Hemdenkattun pro¬ duzieren wie England, würde die Industrie von Lancashire übel daran sein, wenn sich ihre Arbeiter nicht durch einen jahrzehntelang währenden Lohnkampf in den Stand gesetzt hätten, nicht bloß selbst Hemden zu trage», sondern sie auch so oft zu wechseln, als es die Reinlichkeit fordert. Daß die Fabrikanten Wolfs Standpunkt einnehmen, ist ihnen nicht zu verargen. Jeder Mensch wahrt seinen augenblicklichen Vorteil und verteidigt sein Einkommen. Am berechtigtsten ist der Widerstand solcher Fabrikanten, die nicht zu hoffen haben, daß ihr Verlust mit der Zeit in Gewinn umschlagen werde, was nur bei Produzenten von Gütern des Massenverbrauchs der Fall sein kann. Dem Fabrikanten kostbarer Spitzen nutzt es nichts, wenn sich das Einkommen der Lohnarbeiter, der Handwerker, der Bauern, der kleinen Beamten erhöht, denn dieser Leute Frauen und Töchter tragen keine echten Spitzen. Also der Widerstand jedes einzelnen Unternehmers gegen Lohnerhöhungen ist erklärlich und in vielen Fällen gerechtfertigt, aber Gesellschaft und Staat dürfen sich so wenig wie die Nationalökonomie auf den Standpunkt des einzelnen Unter¬ nehmers stellen. Wolf scheint die Richtigkeit unsrer Auffassung bedingungs¬ weise und mit Einschränkungen zuzugeben, denn er fährt an der oben an¬ geführten Stelle fort: „Eine Vermehrung der Kaufkraft könnte nur mittelbar aus andrer Verwendung des anders verteilten Einkommens entspringen." In der Tat, auf die andre Verwendung kommt es an, darauf, daß mehr Brot, Fleisch, Obst, Gemüse, Kleider, gewöhnliche Hausgeräte gekauft, mehr gesunde Wohnungen für kleine Leute gebaut werden, auf die Gefahr hin, daß etwas weniger kostspieliger Luxus produziert und etwas weniger Einkommen¬ überschuß kapitalisiert wird, welche Wirkung übrigens, wie die Wirtschafts¬ geschichte des letzten Jahrzehnts beweist, durchaus nicht notwendigerweise ein¬ zutreten braucht. In einem Satze, den ich nicht verstehe, fügt Wolf seinem Zugeständnis die Einschränkung bei, es geschehe das nur selten. Vielmehr ist es, wie die rasche Zunahme des Volksvermögens aller Kulturstaaten in den letzten Jahrzehnten beweist, ganz allgemein der Fall. Natürlich läßt sich, wie schon mehrfach angedeutet wurde, die Wechselwirkung der einzelnen Ver¬ änderungen, die sich beim Aufschwung wie beim Niedergang einer Volkswirt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/238>, abgerufen am 22.07.2024.