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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Julius Wolfs exakte Nationalökonomie

auch andre schlimme Wirkungen übt, daß demnach die Volksvermehrung an
der Unvermehrbarkeit des Bodens ihre Grenze finden muß, was zunächst zwar
nur in einzelnen übervölkerten Territorien hervortritt, nach Vollendung des
Weltverkehrs und vollständiger Besiedlung der ganzen Erdoberfläche aber für
diese gelten wird, das alles kann nur von Phantasten der Fortschrittsbegeisterung
bestritten oder bezweifelt werden.

Das zweite, was Wolfs Fachgenossen nötigen wird, seiner National¬
ökonomie Beachtung zu schenken, ist ihr Anspruch, als exakt anerkannt zu
werden. Wolf mustert die verschiednen Definitionen von Exaktheit, deren
wichtigste die von Kant ist, wonach eine Wissenschaft nur so weit exakt sein
kann, als sie die Anwendung von Mathematik zuläßt. Wolf dagegen will
sich die "Vulgärdefinitivn" zu eigen machen und nennt eine Wissenschaft exakt,
"die vermöge ihrer Natur zu abschließenden, durch neue Untersuchung und
neues Material nicht in Frage zu stellenden Resultaten zu gelangen vermag,
und deren Formulierungen damit eine Schärfe und Sicherheit zulassen, die
von jener der mathematischen Formel nur durch das Mitteilungsmittcl ab¬
weicht". Ich vermute, Wolf wollte sagen: deren Formeln sich von den
mathematischen nicht dnrch einen geringern Grad von Schärfe und Sicherheit,
sondern nur dadurch unterscheiden, daß sie sich der Worte bedienen statt der
Zeichen und Zahlen. Ich gebe zu, daß die Nationalökonomie dieser Art von
Exaktheit in größerm Maße fähig ist als irgendeine andre der Geisteswissen¬
schaften, halte es aber doch für bedenklich, den Kantischen Begriff der Exakt¬
heit preiszugeben. Dieser Begriff grenzt das wissenschaftliche Gebiet ab, in
dem kein Irrtum möglich ist. Verrechnen schon, aber unter der Voraussetzung,
daß richtig gerechnet wird, kein Irrtum. Die Mathematik selbst und die
Astronomie, die am vollständigsten von der Mathematik beherrscht wird, sind
irrtumslosc Wissenschaften. Ebenso die Mechanik. Die übrigen Teile der
Physik und die Chemie sind es nach Abrechnung ihrer hypothetischen Bestand¬
teile. Doch muß die Kantische Definition noch durch den Zusatz ergänzt
werden: "und Abbildung". Auch die beschreibende Mineralogie, Botanik und
Zoologie sind exakte Wissenschaften. Daß das Gold gelb ist, und daß das
Pferd nicht sechs, sondern vier Beine hat, auch darin ist ein Irrtum nicht
möglich. Dagegen sind die Geologie und die Biologie so wenig exakt wie
etwa die Psychologie oder die Geschichte. Jrrtumslosigkeit bedeutet aber Über¬
einstimmung. Mathematische Grund- und Lehrsätze können höchstens von Ver¬
rückten bestritten oder angezweifelt werden, und in der Physik beschränken sich
die Meinungsverschiedenheiten auf noch nicht hinlänglich untersuchte Er¬
scheinungen und auf die Hypothesen, mit deren Hilfe man die Erscheinungen
zu erklären und miteinander in Verbindung zu bringen versucht. In der
Nationalökonomie gibt es nun zwar eine Anzahl von Sätzen, zum Beispiel, daß
der Warenpreis in der Regel von dem Verhältnis des Angebots zur Nachfrage
abhängt, die nur noch von Sonderlingen bestritten werden (zu ihnen gehört der


Julius Wolfs exakte Nationalökonomie

auch andre schlimme Wirkungen übt, daß demnach die Volksvermehrung an
der Unvermehrbarkeit des Bodens ihre Grenze finden muß, was zunächst zwar
nur in einzelnen übervölkerten Territorien hervortritt, nach Vollendung des
Weltverkehrs und vollständiger Besiedlung der ganzen Erdoberfläche aber für
diese gelten wird, das alles kann nur von Phantasten der Fortschrittsbegeisterung
bestritten oder bezweifelt werden.

Das zweite, was Wolfs Fachgenossen nötigen wird, seiner National¬
ökonomie Beachtung zu schenken, ist ihr Anspruch, als exakt anerkannt zu
werden. Wolf mustert die verschiednen Definitionen von Exaktheit, deren
wichtigste die von Kant ist, wonach eine Wissenschaft nur so weit exakt sein
kann, als sie die Anwendung von Mathematik zuläßt. Wolf dagegen will
sich die „Vulgärdefinitivn" zu eigen machen und nennt eine Wissenschaft exakt,
„die vermöge ihrer Natur zu abschließenden, durch neue Untersuchung und
neues Material nicht in Frage zu stellenden Resultaten zu gelangen vermag,
und deren Formulierungen damit eine Schärfe und Sicherheit zulassen, die
von jener der mathematischen Formel nur durch das Mitteilungsmittcl ab¬
weicht". Ich vermute, Wolf wollte sagen: deren Formeln sich von den
mathematischen nicht dnrch einen geringern Grad von Schärfe und Sicherheit,
sondern nur dadurch unterscheiden, daß sie sich der Worte bedienen statt der
Zeichen und Zahlen. Ich gebe zu, daß die Nationalökonomie dieser Art von
Exaktheit in größerm Maße fähig ist als irgendeine andre der Geisteswissen¬
schaften, halte es aber doch für bedenklich, den Kantischen Begriff der Exakt¬
heit preiszugeben. Dieser Begriff grenzt das wissenschaftliche Gebiet ab, in
dem kein Irrtum möglich ist. Verrechnen schon, aber unter der Voraussetzung,
daß richtig gerechnet wird, kein Irrtum. Die Mathematik selbst und die
Astronomie, die am vollständigsten von der Mathematik beherrscht wird, sind
irrtumslosc Wissenschaften. Ebenso die Mechanik. Die übrigen Teile der
Physik und die Chemie sind es nach Abrechnung ihrer hypothetischen Bestand¬
teile. Doch muß die Kantische Definition noch durch den Zusatz ergänzt
werden: „und Abbildung". Auch die beschreibende Mineralogie, Botanik und
Zoologie sind exakte Wissenschaften. Daß das Gold gelb ist, und daß das
Pferd nicht sechs, sondern vier Beine hat, auch darin ist ein Irrtum nicht
möglich. Dagegen sind die Geologie und die Biologie so wenig exakt wie
etwa die Psychologie oder die Geschichte. Jrrtumslosigkeit bedeutet aber Über¬
einstimmung. Mathematische Grund- und Lehrsätze können höchstens von Ver¬
rückten bestritten oder angezweifelt werden, und in der Physik beschränken sich
die Meinungsverschiedenheiten auf noch nicht hinlänglich untersuchte Er¬
scheinungen und auf die Hypothesen, mit deren Hilfe man die Erscheinungen
zu erklären und miteinander in Verbindung zu bringen versucht. In der
Nationalökonomie gibt es nun zwar eine Anzahl von Sätzen, zum Beispiel, daß
der Warenpreis in der Regel von dem Verhältnis des Angebots zur Nachfrage
abhängt, die nur noch von Sonderlingen bestritten werden (zu ihnen gehört der


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[0236] Julius Wolfs exakte Nationalökonomie auch andre schlimme Wirkungen übt, daß demnach die Volksvermehrung an der Unvermehrbarkeit des Bodens ihre Grenze finden muß, was zunächst zwar nur in einzelnen übervölkerten Territorien hervortritt, nach Vollendung des Weltverkehrs und vollständiger Besiedlung der ganzen Erdoberfläche aber für diese gelten wird, das alles kann nur von Phantasten der Fortschrittsbegeisterung bestritten oder bezweifelt werden. Das zweite, was Wolfs Fachgenossen nötigen wird, seiner National¬ ökonomie Beachtung zu schenken, ist ihr Anspruch, als exakt anerkannt zu werden. Wolf mustert die verschiednen Definitionen von Exaktheit, deren wichtigste die von Kant ist, wonach eine Wissenschaft nur so weit exakt sein kann, als sie die Anwendung von Mathematik zuläßt. Wolf dagegen will sich die „Vulgärdefinitivn" zu eigen machen und nennt eine Wissenschaft exakt, „die vermöge ihrer Natur zu abschließenden, durch neue Untersuchung und neues Material nicht in Frage zu stellenden Resultaten zu gelangen vermag, und deren Formulierungen damit eine Schärfe und Sicherheit zulassen, die von jener der mathematischen Formel nur durch das Mitteilungsmittcl ab¬ weicht". Ich vermute, Wolf wollte sagen: deren Formeln sich von den mathematischen nicht dnrch einen geringern Grad von Schärfe und Sicherheit, sondern nur dadurch unterscheiden, daß sie sich der Worte bedienen statt der Zeichen und Zahlen. Ich gebe zu, daß die Nationalökonomie dieser Art von Exaktheit in größerm Maße fähig ist als irgendeine andre der Geisteswissen¬ schaften, halte es aber doch für bedenklich, den Kantischen Begriff der Exakt¬ heit preiszugeben. Dieser Begriff grenzt das wissenschaftliche Gebiet ab, in dem kein Irrtum möglich ist. Verrechnen schon, aber unter der Voraussetzung, daß richtig gerechnet wird, kein Irrtum. Die Mathematik selbst und die Astronomie, die am vollständigsten von der Mathematik beherrscht wird, sind irrtumslosc Wissenschaften. Ebenso die Mechanik. Die übrigen Teile der Physik und die Chemie sind es nach Abrechnung ihrer hypothetischen Bestand¬ teile. Doch muß die Kantische Definition noch durch den Zusatz ergänzt werden: „und Abbildung". Auch die beschreibende Mineralogie, Botanik und Zoologie sind exakte Wissenschaften. Daß das Gold gelb ist, und daß das Pferd nicht sechs, sondern vier Beine hat, auch darin ist ein Irrtum nicht möglich. Dagegen sind die Geologie und die Biologie so wenig exakt wie etwa die Psychologie oder die Geschichte. Jrrtumslosigkeit bedeutet aber Über¬ einstimmung. Mathematische Grund- und Lehrsätze können höchstens von Ver¬ rückten bestritten oder angezweifelt werden, und in der Physik beschränken sich die Meinungsverschiedenheiten auf noch nicht hinlänglich untersuchte Er¬ scheinungen und auf die Hypothesen, mit deren Hilfe man die Erscheinungen zu erklären und miteinander in Verbindung zu bringen versucht. In der Nationalökonomie gibt es nun zwar eine Anzahl von Sätzen, zum Beispiel, daß der Warenpreis in der Regel von dem Verhältnis des Angebots zur Nachfrage abhängt, die nur noch von Sonderlingen bestritten werden (zu ihnen gehört der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/236>, abgerufen am 22.07.2024.