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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Goethes letztes Lebensjahr

das noch nicht Gedruckte vom Dichter oder von Ottilie vorgelesen, was Anlaß
zu manchen Nachbesserungen gibt (Tagebuch vom 14. und 24. Januar).

Hätte Goethe 1831 anstatt des getreuen Eckermanns einen Schiller oder
Herder zur Seite gehabt, würde er sich schwerlich im letzten Lebensjahre,
teilweise doch invitg. Mnerva, mit dem vierten Akte mühselig abgeplackt haben.
Vielleicht hätten diese ihm auch angeraten, die klassische Walpurgisnacht, wie
die Helena von 1828, nur als "Zwischenspiel" zum Faust einzuführen unter
Verzicht auf die Führerrolle des rätselhaften Homunkulus. Den vierten Akt,
der in der Hauptsache nur die Belehnung Fausts mit der Meeresküste be¬
gründen soll, würde meines Erachtens niemand vermißt haben. Bei dem
phantastischen Charakter des ganzen zweiten Teils würde sich kein Leser,
Hütte Mephistos Zaubermantel Fausten von Arkadien direkt an den Meeres¬
strand befördert, darüber Gedanken gemacht haben, mit welchem Recht sich dieser
besagten Strandes als Herr bemächtigt habe.

Aber verständlich ist durchaus, warum dem Greise diese seine Lebens¬
dichtung seit 1827 keine Ruhe mehr ließ. Das 1828 Veröffentlichte (Ein¬
gang, Szene am Kaiserhof, der langausgesponnene Mummenschanz) ließ doch
nicht im entferntesten ahnen, ans welchen Wegen der Dichter seinen Titanen
weiter zu führen gedachte und zu welchem Ziele. Über das letztere war er
sich aber schon um 1824 völlig klar; wie die Wanderjahre, sollte auch Faust
in gemeinnütziger Wirksamkeit großen Stils den Abschluß finden; diese sollte
der Weisheit letzter Schluß sein, dem Unersättlichen mehr Befriedigung bieten
als alles bisher Geschaute und Genossene. Zwischen der Kerkerszene des
ersten Teils einerseits, dem Eingange und dem fünften Akte des zweiten
mußte der Held des Stückes doch noch mancherlei Großes und Bedeutendes
erleben, sollte Mephisto die Wette nicht klüglich verlieren. Wie der Dichter
nach den Erwägungen langer Jahre das Dazwischenliegende durch allerlei
Symbolik und Phantasmagorie mehr angedeutet als ausgeführt hat, weiß
jeder Leser des Faust. Hier gilt es nicht Kritik zu üben, sondern nur fest¬
zustellen, wie höchst umfängliche und bedeutende Zutaten zu Faust das Jahr 1831
geliefert hat.

Auffällig kann es nicht sein, daß neben jener Riesenleistung in besagtem
Jahre nur wenige dichterische Kleinigkeiten entstanden sind, Stammbuchverse,
kleine Danksagungen, Beglückwünschungen u. tgi., von denen ein großer Teil
im zweiten Jahrgang von Ottiliens origineller Sonntagszeitschrift Chaos ab¬
gedruckt worden ist.*)



*) Wenige Wochen vor dem Tode finden wir den Unermüdlichen aber noch beschäftigt
mit einer eingehenden Besprechung des von Jouy verfaßten Textbuches zu der Oper "Die
Athenienserinnen" vom Generalmusikdirektor Ritter Spontini in Berlin. Das Schema dazu
H. 29, 707 usw. Siehe auch das Tagebuch vom 6. und 10. Februar 1832 und die Briefe an
Zelter vom 14. Januar, an Spontini vom 19. Januar und 20. Februar.
Goethes letztes Lebensjahr

das noch nicht Gedruckte vom Dichter oder von Ottilie vorgelesen, was Anlaß
zu manchen Nachbesserungen gibt (Tagebuch vom 14. und 24. Januar).

Hätte Goethe 1831 anstatt des getreuen Eckermanns einen Schiller oder
Herder zur Seite gehabt, würde er sich schwerlich im letzten Lebensjahre,
teilweise doch invitg. Mnerva, mit dem vierten Akte mühselig abgeplackt haben.
Vielleicht hätten diese ihm auch angeraten, die klassische Walpurgisnacht, wie
die Helena von 1828, nur als „Zwischenspiel" zum Faust einzuführen unter
Verzicht auf die Führerrolle des rätselhaften Homunkulus. Den vierten Akt,
der in der Hauptsache nur die Belehnung Fausts mit der Meeresküste be¬
gründen soll, würde meines Erachtens niemand vermißt haben. Bei dem
phantastischen Charakter des ganzen zweiten Teils würde sich kein Leser,
Hütte Mephistos Zaubermantel Fausten von Arkadien direkt an den Meeres¬
strand befördert, darüber Gedanken gemacht haben, mit welchem Recht sich dieser
besagten Strandes als Herr bemächtigt habe.

Aber verständlich ist durchaus, warum dem Greise diese seine Lebens¬
dichtung seit 1827 keine Ruhe mehr ließ. Das 1828 Veröffentlichte (Ein¬
gang, Szene am Kaiserhof, der langausgesponnene Mummenschanz) ließ doch
nicht im entferntesten ahnen, ans welchen Wegen der Dichter seinen Titanen
weiter zu führen gedachte und zu welchem Ziele. Über das letztere war er
sich aber schon um 1824 völlig klar; wie die Wanderjahre, sollte auch Faust
in gemeinnütziger Wirksamkeit großen Stils den Abschluß finden; diese sollte
der Weisheit letzter Schluß sein, dem Unersättlichen mehr Befriedigung bieten
als alles bisher Geschaute und Genossene. Zwischen der Kerkerszene des
ersten Teils einerseits, dem Eingange und dem fünften Akte des zweiten
mußte der Held des Stückes doch noch mancherlei Großes und Bedeutendes
erleben, sollte Mephisto die Wette nicht klüglich verlieren. Wie der Dichter
nach den Erwägungen langer Jahre das Dazwischenliegende durch allerlei
Symbolik und Phantasmagorie mehr angedeutet als ausgeführt hat, weiß
jeder Leser des Faust. Hier gilt es nicht Kritik zu üben, sondern nur fest¬
zustellen, wie höchst umfängliche und bedeutende Zutaten zu Faust das Jahr 1831
geliefert hat.

Auffällig kann es nicht sein, daß neben jener Riesenleistung in besagtem
Jahre nur wenige dichterische Kleinigkeiten entstanden sind, Stammbuchverse,
kleine Danksagungen, Beglückwünschungen u. tgi., von denen ein großer Teil
im zweiten Jahrgang von Ottiliens origineller Sonntagszeitschrift Chaos ab¬
gedruckt worden ist.*)



*) Wenige Wochen vor dem Tode finden wir den Unermüdlichen aber noch beschäftigt
mit einer eingehenden Besprechung des von Jouy verfaßten Textbuches zu der Oper „Die
Athenienserinnen" vom Generalmusikdirektor Ritter Spontini in Berlin. Das Schema dazu
H. 29, 707 usw. Siehe auch das Tagebuch vom 6. und 10. Februar 1832 und die Briefe an
Zelter vom 14. Januar, an Spontini vom 19. Januar und 20. Februar.
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[0186] Goethes letztes Lebensjahr das noch nicht Gedruckte vom Dichter oder von Ottilie vorgelesen, was Anlaß zu manchen Nachbesserungen gibt (Tagebuch vom 14. und 24. Januar). Hätte Goethe 1831 anstatt des getreuen Eckermanns einen Schiller oder Herder zur Seite gehabt, würde er sich schwerlich im letzten Lebensjahre, teilweise doch invitg. Mnerva, mit dem vierten Akte mühselig abgeplackt haben. Vielleicht hätten diese ihm auch angeraten, die klassische Walpurgisnacht, wie die Helena von 1828, nur als „Zwischenspiel" zum Faust einzuführen unter Verzicht auf die Führerrolle des rätselhaften Homunkulus. Den vierten Akt, der in der Hauptsache nur die Belehnung Fausts mit der Meeresküste be¬ gründen soll, würde meines Erachtens niemand vermißt haben. Bei dem phantastischen Charakter des ganzen zweiten Teils würde sich kein Leser, Hütte Mephistos Zaubermantel Fausten von Arkadien direkt an den Meeres¬ strand befördert, darüber Gedanken gemacht haben, mit welchem Recht sich dieser besagten Strandes als Herr bemächtigt habe. Aber verständlich ist durchaus, warum dem Greise diese seine Lebens¬ dichtung seit 1827 keine Ruhe mehr ließ. Das 1828 Veröffentlichte (Ein¬ gang, Szene am Kaiserhof, der langausgesponnene Mummenschanz) ließ doch nicht im entferntesten ahnen, ans welchen Wegen der Dichter seinen Titanen weiter zu führen gedachte und zu welchem Ziele. Über das letztere war er sich aber schon um 1824 völlig klar; wie die Wanderjahre, sollte auch Faust in gemeinnütziger Wirksamkeit großen Stils den Abschluß finden; diese sollte der Weisheit letzter Schluß sein, dem Unersättlichen mehr Befriedigung bieten als alles bisher Geschaute und Genossene. Zwischen der Kerkerszene des ersten Teils einerseits, dem Eingange und dem fünften Akte des zweiten mußte der Held des Stückes doch noch mancherlei Großes und Bedeutendes erleben, sollte Mephisto die Wette nicht klüglich verlieren. Wie der Dichter nach den Erwägungen langer Jahre das Dazwischenliegende durch allerlei Symbolik und Phantasmagorie mehr angedeutet als ausgeführt hat, weiß jeder Leser des Faust. Hier gilt es nicht Kritik zu üben, sondern nur fest¬ zustellen, wie höchst umfängliche und bedeutende Zutaten zu Faust das Jahr 1831 geliefert hat. Auffällig kann es nicht sein, daß neben jener Riesenleistung in besagtem Jahre nur wenige dichterische Kleinigkeiten entstanden sind, Stammbuchverse, kleine Danksagungen, Beglückwünschungen u. tgi., von denen ein großer Teil im zweiten Jahrgang von Ottiliens origineller Sonntagszeitschrift Chaos ab¬ gedruckt worden ist.*) *) Wenige Wochen vor dem Tode finden wir den Unermüdlichen aber noch beschäftigt mit einer eingehenden Besprechung des von Jouy verfaßten Textbuches zu der Oper „Die Athenienserinnen" vom Generalmusikdirektor Ritter Spontini in Berlin. Das Schema dazu H. 29, 707 usw. Siehe auch das Tagebuch vom 6. und 10. Februar 1832 und die Briefe an Zelter vom 14. Januar, an Spontini vom 19. Januar und 20. Februar.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/186>, abgerufen am 22.07.2024.