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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Goethes letztes Lebensjahr

vierzig Sedezbänden vollständig vor (von der Parallelausgabe in Oktav schon
dreißig Bände), dazu je zwei Bände "zur Naturwissenschaft überhaupt"
und "zur Morphologie", endlich der Briefwechsel mit Schiller. Seit dem
22, Januar 1831 war das unter Kanzler Müllers Beirat aufgesetzte Testa¬
ment nebst Kodizill*) mit Bestimmungen auch wegen des literarischen Nach¬
lasses an Amtsstelle niedergelegt. Wünschenswert mußte noch erscheinen,
Vereinbarungen mit Riemer wegen der spätern Herausgabe des Briefwechsels
mit Zelter und mit Eckermann wegen des weitern Gebarens mit dem
sonstigen seit Anfang Juni in drei wohlverschlossenen Kisten verwahrten
literarischen Nachlasse. Diese Vereinbarungen haben in aller Umständlichkeit
stattgefunden. Die wenigsten Achtzigjährigen würden schon dies haben leisten
können. Der nie rastende, nie ermattende Geist Goethes begnügte sich aber
nicht mit diesen Abschlüssen. Wie in den Jahrzehnten vorher ist er auch 1831
beflissen, tagtäglich neues auf allen Gebieten hinzuzulernen, Lücken auszu¬
füllen, Irrtümer zu berichtigen, sein Weltbild zu vervollständigen und zu ver¬
tiefen. Aber nicht genug damit. Er müht sich damit ab, verschiedne noch
unfertige Arbeiten zum Abschluß zu bringen.**) Sei zunächst von solchen die
Rede, die dem literarisch-dichterischen Gebiete zugehören. In der Anzeige
vom 1. Mürz 1826 hatte der Dichter einen fünften Band von "Dichtung und
Wahrheit" im voraus angekündigt, der bis in den September 1786 reichen,
somit den Anschluß an die "Italienische Reise, die Campagne von 1790
und 1792" und an die "Annalen" vermitteln sollte. Das Vorhaben, die
Weimarische Zeit von 1776 bis 1736 eingehend zu behandeln, hatte er aus
begreiflichen Gründen bald aufgegeben. Aber den bis zur Abreise nach
Weimar reichenden vierten Band, für den er in den Jahren von 1816 bis
1825 schon mancherlei vorgearbeitet hatte, zum Abschlüsse zu bringen, konnte
und mochte er sich nicht versagen. Am Tage vor dem Eintreffen der er¬
schütternden Todesnachricht aus Rom, am 9. November 1830, hat er den
Anfang dazu gemacht. Nach Ausweis des Tagebuchs hat die Arbeit ihn im
ersten Drittel von 1831 viel beschäftigt; zuletzt wird sie erwähnt unter
dem 12. Oktober. Gedruckt erschien sie bekanntlich erst im Jahre nach des
Dichters Tode.

Wer ein Gefühl für Stil hat im weitesten Sinne des Wortes, wird das
1831 Eingefügte leicht von dem früher Entworfnen unterscheiden. Das hohe
Alter neigt zur Umständlichkeit, zu behäbiger Breite, zu pedantischen Schnörkeln.




*) Das interessante auf den spätern Verkauf der Originalbriefe zur Korrespondenz mit
Schiller zugunsten der Erben sich beziehende Kodizill ist im Goethe-Jahrbuch VIII, 283 ab¬
gedruckt.
**) Ganz summarisch wird hierüber berichtet in der noch 1S32 erschienenen Schrift von
Dr. Karl Wilhelm Müller. Goethes letzte literarische Tätigkeit usw. Auch war diesem vieles
von des Dichters Werken aus später Zeit unbekannt, was uns jetzt vorliegt. ,
Goethes letztes Lebensjahr

vierzig Sedezbänden vollständig vor (von der Parallelausgabe in Oktav schon
dreißig Bände), dazu je zwei Bände „zur Naturwissenschaft überhaupt"
und „zur Morphologie", endlich der Briefwechsel mit Schiller. Seit dem
22, Januar 1831 war das unter Kanzler Müllers Beirat aufgesetzte Testa¬
ment nebst Kodizill*) mit Bestimmungen auch wegen des literarischen Nach¬
lasses an Amtsstelle niedergelegt. Wünschenswert mußte noch erscheinen,
Vereinbarungen mit Riemer wegen der spätern Herausgabe des Briefwechsels
mit Zelter und mit Eckermann wegen des weitern Gebarens mit dem
sonstigen seit Anfang Juni in drei wohlverschlossenen Kisten verwahrten
literarischen Nachlasse. Diese Vereinbarungen haben in aller Umständlichkeit
stattgefunden. Die wenigsten Achtzigjährigen würden schon dies haben leisten
können. Der nie rastende, nie ermattende Geist Goethes begnügte sich aber
nicht mit diesen Abschlüssen. Wie in den Jahrzehnten vorher ist er auch 1831
beflissen, tagtäglich neues auf allen Gebieten hinzuzulernen, Lücken auszu¬
füllen, Irrtümer zu berichtigen, sein Weltbild zu vervollständigen und zu ver¬
tiefen. Aber nicht genug damit. Er müht sich damit ab, verschiedne noch
unfertige Arbeiten zum Abschluß zu bringen.**) Sei zunächst von solchen die
Rede, die dem literarisch-dichterischen Gebiete zugehören. In der Anzeige
vom 1. Mürz 1826 hatte der Dichter einen fünften Band von „Dichtung und
Wahrheit" im voraus angekündigt, der bis in den September 1786 reichen,
somit den Anschluß an die „Italienische Reise, die Campagne von 1790
und 1792" und an die „Annalen" vermitteln sollte. Das Vorhaben, die
Weimarische Zeit von 1776 bis 1736 eingehend zu behandeln, hatte er aus
begreiflichen Gründen bald aufgegeben. Aber den bis zur Abreise nach
Weimar reichenden vierten Band, für den er in den Jahren von 1816 bis
1825 schon mancherlei vorgearbeitet hatte, zum Abschlüsse zu bringen, konnte
und mochte er sich nicht versagen. Am Tage vor dem Eintreffen der er¬
schütternden Todesnachricht aus Rom, am 9. November 1830, hat er den
Anfang dazu gemacht. Nach Ausweis des Tagebuchs hat die Arbeit ihn im
ersten Drittel von 1831 viel beschäftigt; zuletzt wird sie erwähnt unter
dem 12. Oktober. Gedruckt erschien sie bekanntlich erst im Jahre nach des
Dichters Tode.

Wer ein Gefühl für Stil hat im weitesten Sinne des Wortes, wird das
1831 Eingefügte leicht von dem früher Entworfnen unterscheiden. Das hohe
Alter neigt zur Umständlichkeit, zu behäbiger Breite, zu pedantischen Schnörkeln.




*) Das interessante auf den spätern Verkauf der Originalbriefe zur Korrespondenz mit
Schiller zugunsten der Erben sich beziehende Kodizill ist im Goethe-Jahrbuch VIII, 283 ab¬
gedruckt.
**) Ganz summarisch wird hierüber berichtet in der noch 1S32 erschienenen Schrift von
Dr. Karl Wilhelm Müller. Goethes letzte literarische Tätigkeit usw. Auch war diesem vieles
von des Dichters Werken aus später Zeit unbekannt, was uns jetzt vorliegt. ,
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[0184] Goethes letztes Lebensjahr vierzig Sedezbänden vollständig vor (von der Parallelausgabe in Oktav schon dreißig Bände), dazu je zwei Bände „zur Naturwissenschaft überhaupt" und „zur Morphologie", endlich der Briefwechsel mit Schiller. Seit dem 22, Januar 1831 war das unter Kanzler Müllers Beirat aufgesetzte Testa¬ ment nebst Kodizill*) mit Bestimmungen auch wegen des literarischen Nach¬ lasses an Amtsstelle niedergelegt. Wünschenswert mußte noch erscheinen, Vereinbarungen mit Riemer wegen der spätern Herausgabe des Briefwechsels mit Zelter und mit Eckermann wegen des weitern Gebarens mit dem sonstigen seit Anfang Juni in drei wohlverschlossenen Kisten verwahrten literarischen Nachlasse. Diese Vereinbarungen haben in aller Umständlichkeit stattgefunden. Die wenigsten Achtzigjährigen würden schon dies haben leisten können. Der nie rastende, nie ermattende Geist Goethes begnügte sich aber nicht mit diesen Abschlüssen. Wie in den Jahrzehnten vorher ist er auch 1831 beflissen, tagtäglich neues auf allen Gebieten hinzuzulernen, Lücken auszu¬ füllen, Irrtümer zu berichtigen, sein Weltbild zu vervollständigen und zu ver¬ tiefen. Aber nicht genug damit. Er müht sich damit ab, verschiedne noch unfertige Arbeiten zum Abschluß zu bringen.**) Sei zunächst von solchen die Rede, die dem literarisch-dichterischen Gebiete zugehören. In der Anzeige vom 1. Mürz 1826 hatte der Dichter einen fünften Band von „Dichtung und Wahrheit" im voraus angekündigt, der bis in den September 1786 reichen, somit den Anschluß an die „Italienische Reise, die Campagne von 1790 und 1792" und an die „Annalen" vermitteln sollte. Das Vorhaben, die Weimarische Zeit von 1776 bis 1736 eingehend zu behandeln, hatte er aus begreiflichen Gründen bald aufgegeben. Aber den bis zur Abreise nach Weimar reichenden vierten Band, für den er in den Jahren von 1816 bis 1825 schon mancherlei vorgearbeitet hatte, zum Abschlüsse zu bringen, konnte und mochte er sich nicht versagen. Am Tage vor dem Eintreffen der er¬ schütternden Todesnachricht aus Rom, am 9. November 1830, hat er den Anfang dazu gemacht. Nach Ausweis des Tagebuchs hat die Arbeit ihn im ersten Drittel von 1831 viel beschäftigt; zuletzt wird sie erwähnt unter dem 12. Oktober. Gedruckt erschien sie bekanntlich erst im Jahre nach des Dichters Tode. Wer ein Gefühl für Stil hat im weitesten Sinne des Wortes, wird das 1831 Eingefügte leicht von dem früher Entworfnen unterscheiden. Das hohe Alter neigt zur Umständlichkeit, zu behäbiger Breite, zu pedantischen Schnörkeln. *) Das interessante auf den spätern Verkauf der Originalbriefe zur Korrespondenz mit Schiller zugunsten der Erben sich beziehende Kodizill ist im Goethe-Jahrbuch VIII, 283 ab¬ gedruckt. **) Ganz summarisch wird hierüber berichtet in der noch 1S32 erschienenen Schrift von Dr. Karl Wilhelm Müller. Goethes letzte literarische Tätigkeit usw. Auch war diesem vieles von des Dichters Werken aus später Zeit unbekannt, was uns jetzt vorliegt. ,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/184>, abgerufen am 22.07.2024.