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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Historisches und Ethnographisches zum Balkankonflikt

eine merkwürdige Zwitterstelluug in ihrem ganzen Wesen. Sie dulden die
christlichen Völkerschaften unter sich, sogar ohne eine besondre religiöse Pro¬
paganda zu machen. Eine Inquisition gegen die Ungläubigen, bloß ihres
Unglaubens wegen, kennen sie nicht. Im Gegenteil, der Islam hat allezeit
-ganz gern eine rechtlose Bevölkerung andern Glaubens unter sich gehabt.
Politische Rechte, Anrecht auf Grundbesitz und dergleichen hat er den Unter¬
tanen dagegen niemals gewährt. Nicht einmal in seine Truppen nahm er
die Christen auf. In den Zeiten, wo der Halbmond siegreich über die Länder
dahinflog, ging das. Jetzt ist der Islam der Altersschwäche verfallen. Nun
ist mit einemmal die große Neuerung gekommen. Die Jungtürkm haben sich
zu dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Nationalitäten und Religionen
emporgeschwungen. Sie haben damit die Gewalt über den türkischen Staat
erlangt. Was daraus hervorgehn wird, muß man abwarten.

Jedenfalls haben die morschen Verhältnisse im Reiche des kranken Mannes
eine furchtbare Erschütterung erlitten. Bulgarien hat die Gelegenheit der
türkischen Umwälzung benutzt, sich zu einem unabhängigen Königreich zu er¬
klären. Österreich-Ungarn hat diesen Schritt g, teinxo begleitet, indem es die
Snzeränität der Pforte über Bosnien und die Herzegowina für aufgehoben
.erklärt und seine Souveränität verkündet hat. Wodurch es dazu bewogen
worden ist, das ist bis zu diesem Augenblick noch unaufgeklärt. Kaiser Franz
Joseph hat feierlich den Berliner Frieden von 1878 angenommen, der ihm
die beiden Provinzen nur zur Verwaltung unter türkischer Oberherrschaft über¬
antwortet. Nun hat er die Verpflichtung gebrochen, er hat es gemacht wie
Nußland 1870 mit dem Pariser Frieden von 1856 und hat damit dem Grundsatz
von Treu und Glauben in bezug auf die internationalen Verträge einen schweren
Stoß versetzt. Und das in dem Zeitalter der internationalen Friedenskonferenzen,
>wo man die blutige Geißel des Krieges, die fast unerträgliche Last der Rüstungen
-durch Vertrüge aus der Welt zu schaffen oder wenigstens zu lindern sucht.
Die in dem Manifest sowie in dem Handschreiben angeführten Gründe sind
unleugbar fadenscheinig.

War es die drohende großserbische Agitation? Wir haben im Eingang
dieser Zeilen die serbokroatische Nation mit ihren mehr als sieben Millionen
Seelen betrachtet. Wir haben auch die religiöse Spaltung hervorgehoben, die
sie in zwei große Hälften scheidet. In Kroatien sind Ausschreitungen von
beiden Seiten vorgekommen, die an die Religionskriege des sechzehnten und
des siebzehnten Jahrhunderts erinnern, und die dem Gedanken an eine Einigung
des Ganzen kaum noch Raum lassen. Und doch wollen die Träume nicht auf¬
hören. Ganz Kroatien einschließlich Slawoniens (Banat, Militärgrenze) ist
von dieser Nationalität erfüllt. Unter den 2400000 Einwohnern dieses Landes
sind 1479000 römisch-katholische Kroaten und 611000 Serben. Von dem
Rest sind 134000 Deutsche und nur 90000 Magyaren. Der heftigste ge¬
meinsame Haß gegen Magyaren verbindet Kroaten und Serben. Noch in


Historisches und Ethnographisches zum Balkankonflikt

eine merkwürdige Zwitterstelluug in ihrem ganzen Wesen. Sie dulden die
christlichen Völkerschaften unter sich, sogar ohne eine besondre religiöse Pro¬
paganda zu machen. Eine Inquisition gegen die Ungläubigen, bloß ihres
Unglaubens wegen, kennen sie nicht. Im Gegenteil, der Islam hat allezeit
-ganz gern eine rechtlose Bevölkerung andern Glaubens unter sich gehabt.
Politische Rechte, Anrecht auf Grundbesitz und dergleichen hat er den Unter¬
tanen dagegen niemals gewährt. Nicht einmal in seine Truppen nahm er
die Christen auf. In den Zeiten, wo der Halbmond siegreich über die Länder
dahinflog, ging das. Jetzt ist der Islam der Altersschwäche verfallen. Nun
ist mit einemmal die große Neuerung gekommen. Die Jungtürkm haben sich
zu dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Nationalitäten und Religionen
emporgeschwungen. Sie haben damit die Gewalt über den türkischen Staat
erlangt. Was daraus hervorgehn wird, muß man abwarten.

Jedenfalls haben die morschen Verhältnisse im Reiche des kranken Mannes
eine furchtbare Erschütterung erlitten. Bulgarien hat die Gelegenheit der
türkischen Umwälzung benutzt, sich zu einem unabhängigen Königreich zu er¬
klären. Österreich-Ungarn hat diesen Schritt g, teinxo begleitet, indem es die
Snzeränität der Pforte über Bosnien und die Herzegowina für aufgehoben
.erklärt und seine Souveränität verkündet hat. Wodurch es dazu bewogen
worden ist, das ist bis zu diesem Augenblick noch unaufgeklärt. Kaiser Franz
Joseph hat feierlich den Berliner Frieden von 1878 angenommen, der ihm
die beiden Provinzen nur zur Verwaltung unter türkischer Oberherrschaft über¬
antwortet. Nun hat er die Verpflichtung gebrochen, er hat es gemacht wie
Nußland 1870 mit dem Pariser Frieden von 1856 und hat damit dem Grundsatz
von Treu und Glauben in bezug auf die internationalen Verträge einen schweren
Stoß versetzt. Und das in dem Zeitalter der internationalen Friedenskonferenzen,
>wo man die blutige Geißel des Krieges, die fast unerträgliche Last der Rüstungen
-durch Vertrüge aus der Welt zu schaffen oder wenigstens zu lindern sucht.
Die in dem Manifest sowie in dem Handschreiben angeführten Gründe sind
unleugbar fadenscheinig.

War es die drohende großserbische Agitation? Wir haben im Eingang
dieser Zeilen die serbokroatische Nation mit ihren mehr als sieben Millionen
Seelen betrachtet. Wir haben auch die religiöse Spaltung hervorgehoben, die
sie in zwei große Hälften scheidet. In Kroatien sind Ausschreitungen von
beiden Seiten vorgekommen, die an die Religionskriege des sechzehnten und
des siebzehnten Jahrhunderts erinnern, und die dem Gedanken an eine Einigung
des Ganzen kaum noch Raum lassen. Und doch wollen die Träume nicht auf¬
hören. Ganz Kroatien einschließlich Slawoniens (Banat, Militärgrenze) ist
von dieser Nationalität erfüllt. Unter den 2400000 Einwohnern dieses Landes
sind 1479000 römisch-katholische Kroaten und 611000 Serben. Von dem
Rest sind 134000 Deutsche und nur 90000 Magyaren. Der heftigste ge¬
meinsame Haß gegen Magyaren verbindet Kroaten und Serben. Noch in


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[0172] Historisches und Ethnographisches zum Balkankonflikt eine merkwürdige Zwitterstelluug in ihrem ganzen Wesen. Sie dulden die christlichen Völkerschaften unter sich, sogar ohne eine besondre religiöse Pro¬ paganda zu machen. Eine Inquisition gegen die Ungläubigen, bloß ihres Unglaubens wegen, kennen sie nicht. Im Gegenteil, der Islam hat allezeit -ganz gern eine rechtlose Bevölkerung andern Glaubens unter sich gehabt. Politische Rechte, Anrecht auf Grundbesitz und dergleichen hat er den Unter¬ tanen dagegen niemals gewährt. Nicht einmal in seine Truppen nahm er die Christen auf. In den Zeiten, wo der Halbmond siegreich über die Länder dahinflog, ging das. Jetzt ist der Islam der Altersschwäche verfallen. Nun ist mit einemmal die große Neuerung gekommen. Die Jungtürkm haben sich zu dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Nationalitäten und Religionen emporgeschwungen. Sie haben damit die Gewalt über den türkischen Staat erlangt. Was daraus hervorgehn wird, muß man abwarten. Jedenfalls haben die morschen Verhältnisse im Reiche des kranken Mannes eine furchtbare Erschütterung erlitten. Bulgarien hat die Gelegenheit der türkischen Umwälzung benutzt, sich zu einem unabhängigen Königreich zu er¬ klären. Österreich-Ungarn hat diesen Schritt g, teinxo begleitet, indem es die Snzeränität der Pforte über Bosnien und die Herzegowina für aufgehoben .erklärt und seine Souveränität verkündet hat. Wodurch es dazu bewogen worden ist, das ist bis zu diesem Augenblick noch unaufgeklärt. Kaiser Franz Joseph hat feierlich den Berliner Frieden von 1878 angenommen, der ihm die beiden Provinzen nur zur Verwaltung unter türkischer Oberherrschaft über¬ antwortet. Nun hat er die Verpflichtung gebrochen, er hat es gemacht wie Nußland 1870 mit dem Pariser Frieden von 1856 und hat damit dem Grundsatz von Treu und Glauben in bezug auf die internationalen Verträge einen schweren Stoß versetzt. Und das in dem Zeitalter der internationalen Friedenskonferenzen, >wo man die blutige Geißel des Krieges, die fast unerträgliche Last der Rüstungen -durch Vertrüge aus der Welt zu schaffen oder wenigstens zu lindern sucht. Die in dem Manifest sowie in dem Handschreiben angeführten Gründe sind unleugbar fadenscheinig. War es die drohende großserbische Agitation? Wir haben im Eingang dieser Zeilen die serbokroatische Nation mit ihren mehr als sieben Millionen Seelen betrachtet. Wir haben auch die religiöse Spaltung hervorgehoben, die sie in zwei große Hälften scheidet. In Kroatien sind Ausschreitungen von beiden Seiten vorgekommen, die an die Religionskriege des sechzehnten und des siebzehnten Jahrhunderts erinnern, und die dem Gedanken an eine Einigung des Ganzen kaum noch Raum lassen. Und doch wollen die Träume nicht auf¬ hören. Ganz Kroatien einschließlich Slawoniens (Banat, Militärgrenze) ist von dieser Nationalität erfüllt. Unter den 2400000 Einwohnern dieses Landes sind 1479000 römisch-katholische Kroaten und 611000 Serben. Von dem Rest sind 134000 Deutsche und nur 90000 Magyaren. Der heftigste ge¬ meinsame Haß gegen Magyaren verbindet Kroaten und Serben. Noch in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/172>, abgerufen am 25.08.2024.