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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Historisches und Ethnographisches zum Balkankouflikt

kleine Zahl schließt also die Reste der Urbevölkerung des einst hinsichtlich der
Kultur so hochstehenden Landes ein.

In der europäischen Türkei unterscheidet man die slawisch und albanesisch
sprechenden Moslimen von den türkisch sprechenden, die natürlich auch nicht
annähernd als reine Osmanli anzusehen sind. Für die Hauptstadt rechnet
man 43 vom Hundert Türken, das wären rund 500000; für Mazedonien
550000, für die übrigen direkt von der Türkei verwalteten Landesteile 500000.
Imi ganzen also rund anderthalb Millionen. Dazu kommen in Bulgarien mit
Ostrumelien 530000. In den übrigen Teilen der Balkanhalbinsel verschlagen
die "Türken" nicht viel. Man kann also reichlich zwei Millionen Seelen
als türkisch sprechende Bevölkerung in der europäischen Türkei annehmen, die
jedoch an den 7,3 Millionen Türken der asiatischen Türkei einen starken
Rückhalt haben.

Wesentlich anders gestaltet sich die Sache, wenn wir die Verbreitung des
Islam betrachten. Dann kommen auf

die Wilajets Konstantinopel und Adrianopel. . . . 1663000
Mazedonien.............. 752000
Albanien............... 790000
zusammen unter direkter Verwaltung der Türkei 8065000
Bosnien und Herzegowina......... 549000
Bulgarien und Ostrumelien......... 64Z000
Serbien 15000, Griechenland 24000 ....., 89000
4294000

Es mag jedoch von neuem betont werden, daß namentlich die türkischen
Zahlen unsicher sind. In manchen Angaben erscheint die Gesamtzahl wesentlich
niedriger.

Diesen Muselmanen steht nun die christliche Religionsgemeinschaft keines¬
wegs geschlossen gegenüber, nicht einmal in kirchlicher Beziehung. Zwar hat
die römisch-katholische Kirche nirgends viel zu bedeuten, der Protestantismus
vollends nichts. Dagegen ist die Spaltung zwischen Griechen und Bulgaren
verhängnisvoll. Bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts stand alles,
was in der Türkei nicht römisch-katholisch oder armenisch war, unter dem
griechischen Patriarchen von Konstantinopel, dem Oberhaupt der ganzen
griechischen Kirche. Schon gleich nach dem Krimkriege begann eine russische
Agitation, die Bulgaren von der griechischen Kirche zu trennen, nicht innerlich
und im Glaubensinhalt, wohl aber in der äußern Kirchengemeinschaft. Im
Jahre 1859 drohten die Bulgaren, sich der römischen Kirche anschließen zu
wollen, wenn die griechische ihnen nicht Selbständigkeit gewähre. Ob das im
Einklang mit Nußland geschehn ist, etwa als leeres Schreckgespenst, bleibe
dahingestellt. Jedenfalls wich der griechische Widerstand einer solchen schreck¬
lichen Aussicht, und nun bestätigte der Sultan die Spaltung, indem er 1872


Historisches und Ethnographisches zum Balkankouflikt

kleine Zahl schließt also die Reste der Urbevölkerung des einst hinsichtlich der
Kultur so hochstehenden Landes ein.

In der europäischen Türkei unterscheidet man die slawisch und albanesisch
sprechenden Moslimen von den türkisch sprechenden, die natürlich auch nicht
annähernd als reine Osmanli anzusehen sind. Für die Hauptstadt rechnet
man 43 vom Hundert Türken, das wären rund 500000; für Mazedonien
550000, für die übrigen direkt von der Türkei verwalteten Landesteile 500000.
Imi ganzen also rund anderthalb Millionen. Dazu kommen in Bulgarien mit
Ostrumelien 530000. In den übrigen Teilen der Balkanhalbinsel verschlagen
die „Türken" nicht viel. Man kann also reichlich zwei Millionen Seelen
als türkisch sprechende Bevölkerung in der europäischen Türkei annehmen, die
jedoch an den 7,3 Millionen Türken der asiatischen Türkei einen starken
Rückhalt haben.

Wesentlich anders gestaltet sich die Sache, wenn wir die Verbreitung des
Islam betrachten. Dann kommen auf

die Wilajets Konstantinopel und Adrianopel. . . . 1663000
Mazedonien.............. 752000
Albanien............... 790000
zusammen unter direkter Verwaltung der Türkei 8065000
Bosnien und Herzegowina......... 549000
Bulgarien und Ostrumelien......... 64Z000
Serbien 15000, Griechenland 24000 ....., 89000
4294000

Es mag jedoch von neuem betont werden, daß namentlich die türkischen
Zahlen unsicher sind. In manchen Angaben erscheint die Gesamtzahl wesentlich
niedriger.

Diesen Muselmanen steht nun die christliche Religionsgemeinschaft keines¬
wegs geschlossen gegenüber, nicht einmal in kirchlicher Beziehung. Zwar hat
die römisch-katholische Kirche nirgends viel zu bedeuten, der Protestantismus
vollends nichts. Dagegen ist die Spaltung zwischen Griechen und Bulgaren
verhängnisvoll. Bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts stand alles,
was in der Türkei nicht römisch-katholisch oder armenisch war, unter dem
griechischen Patriarchen von Konstantinopel, dem Oberhaupt der ganzen
griechischen Kirche. Schon gleich nach dem Krimkriege begann eine russische
Agitation, die Bulgaren von der griechischen Kirche zu trennen, nicht innerlich
und im Glaubensinhalt, wohl aber in der äußern Kirchengemeinschaft. Im
Jahre 1859 drohten die Bulgaren, sich der römischen Kirche anschließen zu
wollen, wenn die griechische ihnen nicht Selbständigkeit gewähre. Ob das im
Einklang mit Nußland geschehn ist, etwa als leeres Schreckgespenst, bleibe
dahingestellt. Jedenfalls wich der griechische Widerstand einer solchen schreck¬
lichen Aussicht, und nun bestätigte der Sultan die Spaltung, indem er 1872


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[0170] Historisches und Ethnographisches zum Balkankouflikt kleine Zahl schließt also die Reste der Urbevölkerung des einst hinsichtlich der Kultur so hochstehenden Landes ein. In der europäischen Türkei unterscheidet man die slawisch und albanesisch sprechenden Moslimen von den türkisch sprechenden, die natürlich auch nicht annähernd als reine Osmanli anzusehen sind. Für die Hauptstadt rechnet man 43 vom Hundert Türken, das wären rund 500000; für Mazedonien 550000, für die übrigen direkt von der Türkei verwalteten Landesteile 500000. Imi ganzen also rund anderthalb Millionen. Dazu kommen in Bulgarien mit Ostrumelien 530000. In den übrigen Teilen der Balkanhalbinsel verschlagen die „Türken" nicht viel. Man kann also reichlich zwei Millionen Seelen als türkisch sprechende Bevölkerung in der europäischen Türkei annehmen, die jedoch an den 7,3 Millionen Türken der asiatischen Türkei einen starken Rückhalt haben. Wesentlich anders gestaltet sich die Sache, wenn wir die Verbreitung des Islam betrachten. Dann kommen auf die Wilajets Konstantinopel und Adrianopel. . . . 1663000 Mazedonien.............. 752000 Albanien............... 790000 zusammen unter direkter Verwaltung der Türkei 8065000 Bosnien und Herzegowina......... 549000 Bulgarien und Ostrumelien......... 64Z000 Serbien 15000, Griechenland 24000 ....., 89000 4294000 Es mag jedoch von neuem betont werden, daß namentlich die türkischen Zahlen unsicher sind. In manchen Angaben erscheint die Gesamtzahl wesentlich niedriger. Diesen Muselmanen steht nun die christliche Religionsgemeinschaft keines¬ wegs geschlossen gegenüber, nicht einmal in kirchlicher Beziehung. Zwar hat die römisch-katholische Kirche nirgends viel zu bedeuten, der Protestantismus vollends nichts. Dagegen ist die Spaltung zwischen Griechen und Bulgaren verhängnisvoll. Bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts stand alles, was in der Türkei nicht römisch-katholisch oder armenisch war, unter dem griechischen Patriarchen von Konstantinopel, dem Oberhaupt der ganzen griechischen Kirche. Schon gleich nach dem Krimkriege begann eine russische Agitation, die Bulgaren von der griechischen Kirche zu trennen, nicht innerlich und im Glaubensinhalt, wohl aber in der äußern Kirchengemeinschaft. Im Jahre 1859 drohten die Bulgaren, sich der römischen Kirche anschließen zu wollen, wenn die griechische ihnen nicht Selbständigkeit gewähre. Ob das im Einklang mit Nußland geschehn ist, etwa als leeres Schreckgespenst, bleibe dahingestellt. Jedenfalls wich der griechische Widerstand einer solchen schreck¬ lichen Aussicht, und nun bestätigte der Sultan die Spaltung, indem er 1872

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/170>, abgerufen am 22.07.2024.