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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Historisches und Ethnographisches zum Balkaukonflikt

Und in merkwürdiger Wechselwirkung mit ihnen die Bulgaren. Diese sind
ein Zweig der ugrisch-Malscher Völkerfamilie, zu der auch die Türken,
Hunnen, Magyaren und Tataren gehören. Die Bulgaren haben jedoch
slawische Sprache angenommen. Wie stark sie im Verhältnis zu den früher
und später die Balkanhalbinsel besiedelnden Slawen gewesen sind, ist unsicher;
vielleicht sind sie wie auch die Perser in Iran und die Brahmanen- und
Kriegerkaste in Indien oder die Normannen in England nur ein kleines aber
tapferes Kriegervolk gewesen, dem die Unterwerfung der Ureinwohner gelungen
ist. Jedenfalls sind sie nach ihrer eignen sowie nach der Ansicht aller Ethno¬
graphen heute ein Zweig der slawischen Völkerfamilie. Ihre Angehörigen sind
bis in den Peloponnes vorgedrungen. slawisch-bulgarisches Blut ist heute
ein wesentlicher Bestandteil des Griechentums. Fallmerayer glaubte einst, zu
weit gehend, dieses enthielte kaum noch Spuren von dem Hellenentnm des
Altertums. Er sagte in seinen berühmten Fragmenten: "Das Geschlecht der
Hellenen ist in Europa ausgerottet. Schönheit des Körpers, Sonnenslug
des Geistes, ja sogar der Name ist von der Oberfläche des griechischen Kon¬
tinents verschwunden. Auch nicht ein Tropfen echten, ungemischten Hellenen¬
bluts fließt in den Adern der Bevölkerung des heutigen Griechenlands." Im
wesentlichen haben die Bulgaren die Osthälfte der Balkanhalbinsel besetzt.
Wie stark sie dort heute sind, das ist bei dem Mangel zuverlässiger Zahlungen
ungewiß. Ihr Interesse ist natürlich, so zahlreich wie möglich zu erscheinen.
Darum geben sie selber an, mehr als sechs Millionen zu zählen. Das scheint
sehr übertrieben. Das Fürstentum Bulgarien hat 1900 in seinen eignen
Grenzen sowie in Ostrnmelien eine Volkszählung vornehmen lassen und
dabei unter 3744283 Einwohnern 2887684 Bulgaren ermittelt. In den
übrigen Wohnsitzen, also Mazedonien, den sonstigen Resten der europäischen
Türkei, Rumänien, Siebenbürgen, Südungarn, Bessarabien mögen noch etwa
2^ Millionen wohnen. Auf mehr als 5^ Millionen im ganzen darf die
Gesamtheit nicht angeschlagen werden.

Der zweite slawische Ast auf der Balkanhalbinsel sind die Serben,
eigentlich die Serbokroaten. Denn Serben und Kroaten sind kaum als zwei
Nationalitäten anzusehen, und im Grunde kann man auch die Slowenen
Südsteiermarks. Krains, Jstriens, Kärntens sowie von Trieft, Görz und
Gradiska hinzurechnen. Ihre sprachlichen Unterschiede gehn nicht über das
Mundartliche hinaus. Die Serben sind Angehörige der griechisch-katholischen
Kirche, während sich die Kroaten und Slowenen zu Rom halten. Meist
bildet die kirchliche Verschiedenheit das einzige Erkennungsmerkmal. Dalma¬
tiner und Montenegriner sind auch Serbokroaten, jene römisch-katholisch, diese
griechisch.

Die Serbokroaten haben das ganze Gebiet inne zwischen den Deutschen
und den Magyaren im Norden, den Rumänen und den Bulgaren im Osten
und den Albanesen im Süden. Sie sind fest geschlossen in Kroatien, im


Historisches und Ethnographisches zum Balkaukonflikt

Und in merkwürdiger Wechselwirkung mit ihnen die Bulgaren. Diese sind
ein Zweig der ugrisch-Malscher Völkerfamilie, zu der auch die Türken,
Hunnen, Magyaren und Tataren gehören. Die Bulgaren haben jedoch
slawische Sprache angenommen. Wie stark sie im Verhältnis zu den früher
und später die Balkanhalbinsel besiedelnden Slawen gewesen sind, ist unsicher;
vielleicht sind sie wie auch die Perser in Iran und die Brahmanen- und
Kriegerkaste in Indien oder die Normannen in England nur ein kleines aber
tapferes Kriegervolk gewesen, dem die Unterwerfung der Ureinwohner gelungen
ist. Jedenfalls sind sie nach ihrer eignen sowie nach der Ansicht aller Ethno¬
graphen heute ein Zweig der slawischen Völkerfamilie. Ihre Angehörigen sind
bis in den Peloponnes vorgedrungen. slawisch-bulgarisches Blut ist heute
ein wesentlicher Bestandteil des Griechentums. Fallmerayer glaubte einst, zu
weit gehend, dieses enthielte kaum noch Spuren von dem Hellenentnm des
Altertums. Er sagte in seinen berühmten Fragmenten: „Das Geschlecht der
Hellenen ist in Europa ausgerottet. Schönheit des Körpers, Sonnenslug
des Geistes, ja sogar der Name ist von der Oberfläche des griechischen Kon¬
tinents verschwunden. Auch nicht ein Tropfen echten, ungemischten Hellenen¬
bluts fließt in den Adern der Bevölkerung des heutigen Griechenlands." Im
wesentlichen haben die Bulgaren die Osthälfte der Balkanhalbinsel besetzt.
Wie stark sie dort heute sind, das ist bei dem Mangel zuverlässiger Zahlungen
ungewiß. Ihr Interesse ist natürlich, so zahlreich wie möglich zu erscheinen.
Darum geben sie selber an, mehr als sechs Millionen zu zählen. Das scheint
sehr übertrieben. Das Fürstentum Bulgarien hat 1900 in seinen eignen
Grenzen sowie in Ostrnmelien eine Volkszählung vornehmen lassen und
dabei unter 3744283 Einwohnern 2887684 Bulgaren ermittelt. In den
übrigen Wohnsitzen, also Mazedonien, den sonstigen Resten der europäischen
Türkei, Rumänien, Siebenbürgen, Südungarn, Bessarabien mögen noch etwa
2^ Millionen wohnen. Auf mehr als 5^ Millionen im ganzen darf die
Gesamtheit nicht angeschlagen werden.

Der zweite slawische Ast auf der Balkanhalbinsel sind die Serben,
eigentlich die Serbokroaten. Denn Serben und Kroaten sind kaum als zwei
Nationalitäten anzusehen, und im Grunde kann man auch die Slowenen
Südsteiermarks. Krains, Jstriens, Kärntens sowie von Trieft, Görz und
Gradiska hinzurechnen. Ihre sprachlichen Unterschiede gehn nicht über das
Mundartliche hinaus. Die Serben sind Angehörige der griechisch-katholischen
Kirche, während sich die Kroaten und Slowenen zu Rom halten. Meist
bildet die kirchliche Verschiedenheit das einzige Erkennungsmerkmal. Dalma¬
tiner und Montenegriner sind auch Serbokroaten, jene römisch-katholisch, diese
griechisch.

Die Serbokroaten haben das ganze Gebiet inne zwischen den Deutschen
und den Magyaren im Norden, den Rumänen und den Bulgaren im Osten
und den Albanesen im Süden. Sie sind fest geschlossen in Kroatien, im


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[0166] Historisches und Ethnographisches zum Balkaukonflikt Und in merkwürdiger Wechselwirkung mit ihnen die Bulgaren. Diese sind ein Zweig der ugrisch-Malscher Völkerfamilie, zu der auch die Türken, Hunnen, Magyaren und Tataren gehören. Die Bulgaren haben jedoch slawische Sprache angenommen. Wie stark sie im Verhältnis zu den früher und später die Balkanhalbinsel besiedelnden Slawen gewesen sind, ist unsicher; vielleicht sind sie wie auch die Perser in Iran und die Brahmanen- und Kriegerkaste in Indien oder die Normannen in England nur ein kleines aber tapferes Kriegervolk gewesen, dem die Unterwerfung der Ureinwohner gelungen ist. Jedenfalls sind sie nach ihrer eignen sowie nach der Ansicht aller Ethno¬ graphen heute ein Zweig der slawischen Völkerfamilie. Ihre Angehörigen sind bis in den Peloponnes vorgedrungen. slawisch-bulgarisches Blut ist heute ein wesentlicher Bestandteil des Griechentums. Fallmerayer glaubte einst, zu weit gehend, dieses enthielte kaum noch Spuren von dem Hellenentnm des Altertums. Er sagte in seinen berühmten Fragmenten: „Das Geschlecht der Hellenen ist in Europa ausgerottet. Schönheit des Körpers, Sonnenslug des Geistes, ja sogar der Name ist von der Oberfläche des griechischen Kon¬ tinents verschwunden. Auch nicht ein Tropfen echten, ungemischten Hellenen¬ bluts fließt in den Adern der Bevölkerung des heutigen Griechenlands." Im wesentlichen haben die Bulgaren die Osthälfte der Balkanhalbinsel besetzt. Wie stark sie dort heute sind, das ist bei dem Mangel zuverlässiger Zahlungen ungewiß. Ihr Interesse ist natürlich, so zahlreich wie möglich zu erscheinen. Darum geben sie selber an, mehr als sechs Millionen zu zählen. Das scheint sehr übertrieben. Das Fürstentum Bulgarien hat 1900 in seinen eignen Grenzen sowie in Ostrnmelien eine Volkszählung vornehmen lassen und dabei unter 3744283 Einwohnern 2887684 Bulgaren ermittelt. In den übrigen Wohnsitzen, also Mazedonien, den sonstigen Resten der europäischen Türkei, Rumänien, Siebenbürgen, Südungarn, Bessarabien mögen noch etwa 2^ Millionen wohnen. Auf mehr als 5^ Millionen im ganzen darf die Gesamtheit nicht angeschlagen werden. Der zweite slawische Ast auf der Balkanhalbinsel sind die Serben, eigentlich die Serbokroaten. Denn Serben und Kroaten sind kaum als zwei Nationalitäten anzusehen, und im Grunde kann man auch die Slowenen Südsteiermarks. Krains, Jstriens, Kärntens sowie von Trieft, Görz und Gradiska hinzurechnen. Ihre sprachlichen Unterschiede gehn nicht über das Mundartliche hinaus. Die Serben sind Angehörige der griechisch-katholischen Kirche, während sich die Kroaten und Slowenen zu Rom halten. Meist bildet die kirchliche Verschiedenheit das einzige Erkennungsmerkmal. Dalma¬ tiner und Montenegriner sind auch Serbokroaten, jene römisch-katholisch, diese griechisch. Die Serbokroaten haben das ganze Gebiet inne zwischen den Deutschen und den Magyaren im Norden, den Rumänen und den Bulgaren im Osten und den Albanesen im Süden. Sie sind fest geschlossen in Kroatien, im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/166>, abgerufen am 22.07.2024.