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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Saint- Simon

England, der Handelsgeist seinen sittcnverderbenden Einfluß ausgeübt: man sei
noch edler Empfindungen fähig und wisse nichts von jener Überschätzung des
Reichtums, die den Geldbesitz zum einzigen Wertmaßstäbe macht. Und was
besonders bemerkt zu werden verdiene: auch in den obern Schichten herrsche
Sittenreinheit; patriarchalisch suche die Aristokratie die öffentlichen Angelegen¬
heiten zu ordnen." Thierrys Nachfolger war August Comte. Jene Schrift
machte Saint-Simon so berühmt, daß er von Beranger, später auch von Halevy
in Oden angesungen wurde. Doch geriet er noch einmal in solche Not, daß
er einen Selbstmordversuch beging, der ihn ein Auge kostete. Aber ein Ver¬
ehrer, der jüdische Banquier Olinde Rodriguez, nahm sich seiner an und be¬
reitete zusammen mit andern dem Meister schwärmerisch ergebner Jüngern
diesem einen freundlichen Lebensabend, der noch fruchtbar an literarischen Er¬
zeugnissen war, bis ihn 1825 der Tod beendigte.

In Zeiten und in einer Umgebung, die keinen edeln Menschen befriedigen
-- und das war in Frankreich vor, während und nach der Revolution der Fall --,
drängt sich der Gedanke auf: woher die Übel, wie sind sie zu bessern? Von
diesem Grundgedanken geht selbstverständlich auch Saint-Simon aus, und da
er ein spekulativer Kopf und zugleich positiv gerichtet, nach Erfahrung strebend
war, so verschlingen sich ihm bei dem Versuch, das Problem zu lösen, zwei
Gedankenreihen. Die eine, der Hegelschen verwandte, wurzelt in der Über¬
zeugung, daß die Ereignisse nicht ein wüstes Durcheinander sind, sondern Reihen
von Kausalketten bilden, deren Bildnerin die der Welt immanente Vernunft ist.
Die andre Gedankenreihe wird dem Studium der Tatsachen entnommen. Zwar
hat auch Hegel eine Geschichtsphilosophie geschrieben, aber sie beruht auf der
Annahme, daß die ganze Weltgeschichte die Entfaltung einer Idee sei, die der
Philosoph willkürlich als die der geistigen Freiheit bestimmt. Saint-Simon
dagegen weist alle apriorischen Voraussetzungen ab; positivistisch will er den
Sinn der Geschichte aus dem ermitteln, was wirklich geschehen ist, und es
gelingt ihm nicht schlecht. Er gewinnt auf dem Wege der Beobachtung die
Stufenfolge der religiösen, der metaphysischen und der empirisch-wissenschaft¬
lichen Kultur, die dann Comte ihm entlehnt hat, und die heute allgemein ver¬
breitete Einsicht, daß schöpferische Zeitalter mit auflösenden, gläubige mit
kritischen wechseln. Mit historischem Sinn und mit feiner Witterung für die
Entwicklungsrichtungen seiner Zeit ausgerüstet, versteht er das Mittelalter zu
würdigen, ohne dem Romantizismus zu verfallen, der unter der Restauration
als Reaktion gegen die vorhergegangne Zerstörungssucht und Frivolität, gegen
den Religionshaß und die Pfaffenfresserei überhandnahm. Der Klerus habe
im Mittelalter ein ungeheures Kulturwerk vollbracht, den Menschengeist hoch
über die Kulturstufe der alten Welt erhoben und die europäische Menschheit
nach christlichen Grundsätzen organisiert. Aber in dem Augenblick, wo der Bau
der Universalkirche vollendet zu sein schien, hätten sich schon die Keime einer
neuen Organisation bemerkbar gemacht. Diese Keime hätten in der wachsenden


Saint- Simon

England, der Handelsgeist seinen sittcnverderbenden Einfluß ausgeübt: man sei
noch edler Empfindungen fähig und wisse nichts von jener Überschätzung des
Reichtums, die den Geldbesitz zum einzigen Wertmaßstäbe macht. Und was
besonders bemerkt zu werden verdiene: auch in den obern Schichten herrsche
Sittenreinheit; patriarchalisch suche die Aristokratie die öffentlichen Angelegen¬
heiten zu ordnen." Thierrys Nachfolger war August Comte. Jene Schrift
machte Saint-Simon so berühmt, daß er von Beranger, später auch von Halevy
in Oden angesungen wurde. Doch geriet er noch einmal in solche Not, daß
er einen Selbstmordversuch beging, der ihn ein Auge kostete. Aber ein Ver¬
ehrer, der jüdische Banquier Olinde Rodriguez, nahm sich seiner an und be¬
reitete zusammen mit andern dem Meister schwärmerisch ergebner Jüngern
diesem einen freundlichen Lebensabend, der noch fruchtbar an literarischen Er¬
zeugnissen war, bis ihn 1825 der Tod beendigte.

In Zeiten und in einer Umgebung, die keinen edeln Menschen befriedigen
— und das war in Frankreich vor, während und nach der Revolution der Fall —,
drängt sich der Gedanke auf: woher die Übel, wie sind sie zu bessern? Von
diesem Grundgedanken geht selbstverständlich auch Saint-Simon aus, und da
er ein spekulativer Kopf und zugleich positiv gerichtet, nach Erfahrung strebend
war, so verschlingen sich ihm bei dem Versuch, das Problem zu lösen, zwei
Gedankenreihen. Die eine, der Hegelschen verwandte, wurzelt in der Über¬
zeugung, daß die Ereignisse nicht ein wüstes Durcheinander sind, sondern Reihen
von Kausalketten bilden, deren Bildnerin die der Welt immanente Vernunft ist.
Die andre Gedankenreihe wird dem Studium der Tatsachen entnommen. Zwar
hat auch Hegel eine Geschichtsphilosophie geschrieben, aber sie beruht auf der
Annahme, daß die ganze Weltgeschichte die Entfaltung einer Idee sei, die der
Philosoph willkürlich als die der geistigen Freiheit bestimmt. Saint-Simon
dagegen weist alle apriorischen Voraussetzungen ab; positivistisch will er den
Sinn der Geschichte aus dem ermitteln, was wirklich geschehen ist, und es
gelingt ihm nicht schlecht. Er gewinnt auf dem Wege der Beobachtung die
Stufenfolge der religiösen, der metaphysischen und der empirisch-wissenschaft¬
lichen Kultur, die dann Comte ihm entlehnt hat, und die heute allgemein ver¬
breitete Einsicht, daß schöpferische Zeitalter mit auflösenden, gläubige mit
kritischen wechseln. Mit historischem Sinn und mit feiner Witterung für die
Entwicklungsrichtungen seiner Zeit ausgerüstet, versteht er das Mittelalter zu
würdigen, ohne dem Romantizismus zu verfallen, der unter der Restauration
als Reaktion gegen die vorhergegangne Zerstörungssucht und Frivolität, gegen
den Religionshaß und die Pfaffenfresserei überhandnahm. Der Klerus habe
im Mittelalter ein ungeheures Kulturwerk vollbracht, den Menschengeist hoch
über die Kulturstufe der alten Welt erhoben und die europäische Menschheit
nach christlichen Grundsätzen organisiert. Aber in dem Augenblick, wo der Bau
der Universalkirche vollendet zu sein schien, hätten sich schon die Keime einer
neuen Organisation bemerkbar gemacht. Diese Keime hätten in der wachsenden


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[0132] Saint- Simon England, der Handelsgeist seinen sittcnverderbenden Einfluß ausgeübt: man sei noch edler Empfindungen fähig und wisse nichts von jener Überschätzung des Reichtums, die den Geldbesitz zum einzigen Wertmaßstäbe macht. Und was besonders bemerkt zu werden verdiene: auch in den obern Schichten herrsche Sittenreinheit; patriarchalisch suche die Aristokratie die öffentlichen Angelegen¬ heiten zu ordnen." Thierrys Nachfolger war August Comte. Jene Schrift machte Saint-Simon so berühmt, daß er von Beranger, später auch von Halevy in Oden angesungen wurde. Doch geriet er noch einmal in solche Not, daß er einen Selbstmordversuch beging, der ihn ein Auge kostete. Aber ein Ver¬ ehrer, der jüdische Banquier Olinde Rodriguez, nahm sich seiner an und be¬ reitete zusammen mit andern dem Meister schwärmerisch ergebner Jüngern diesem einen freundlichen Lebensabend, der noch fruchtbar an literarischen Er¬ zeugnissen war, bis ihn 1825 der Tod beendigte. In Zeiten und in einer Umgebung, die keinen edeln Menschen befriedigen — und das war in Frankreich vor, während und nach der Revolution der Fall —, drängt sich der Gedanke auf: woher die Übel, wie sind sie zu bessern? Von diesem Grundgedanken geht selbstverständlich auch Saint-Simon aus, und da er ein spekulativer Kopf und zugleich positiv gerichtet, nach Erfahrung strebend war, so verschlingen sich ihm bei dem Versuch, das Problem zu lösen, zwei Gedankenreihen. Die eine, der Hegelschen verwandte, wurzelt in der Über¬ zeugung, daß die Ereignisse nicht ein wüstes Durcheinander sind, sondern Reihen von Kausalketten bilden, deren Bildnerin die der Welt immanente Vernunft ist. Die andre Gedankenreihe wird dem Studium der Tatsachen entnommen. Zwar hat auch Hegel eine Geschichtsphilosophie geschrieben, aber sie beruht auf der Annahme, daß die ganze Weltgeschichte die Entfaltung einer Idee sei, die der Philosoph willkürlich als die der geistigen Freiheit bestimmt. Saint-Simon dagegen weist alle apriorischen Voraussetzungen ab; positivistisch will er den Sinn der Geschichte aus dem ermitteln, was wirklich geschehen ist, und es gelingt ihm nicht schlecht. Er gewinnt auf dem Wege der Beobachtung die Stufenfolge der religiösen, der metaphysischen und der empirisch-wissenschaft¬ lichen Kultur, die dann Comte ihm entlehnt hat, und die heute allgemein ver¬ breitete Einsicht, daß schöpferische Zeitalter mit auflösenden, gläubige mit kritischen wechseln. Mit historischem Sinn und mit feiner Witterung für die Entwicklungsrichtungen seiner Zeit ausgerüstet, versteht er das Mittelalter zu würdigen, ohne dem Romantizismus zu verfallen, der unter der Restauration als Reaktion gegen die vorhergegangne Zerstörungssucht und Frivolität, gegen den Religionshaß und die Pfaffenfresserei überhandnahm. Der Klerus habe im Mittelalter ein ungeheures Kulturwerk vollbracht, den Menschengeist hoch über die Kulturstufe der alten Welt erhoben und die europäische Menschheit nach christlichen Grundsätzen organisiert. Aber in dem Augenblick, wo der Bau der Universalkirche vollendet zu sein schien, hätten sich schon die Keime einer neuen Organisation bemerkbar gemacht. Diese Keime hätten in der wachsenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/132>, abgerufen am 22.07.2024.