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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Saint-Aimon

im Alter von fünfzehn Jahren seinem Diener befahl, ihn täglich mit den
Worten zu wecken: "Stehen Sie ans, Herr Graf, Sie haben große Dinge
zu vollbringen." Zunächst würde es sich um die Vorbereitung gehandelt
haben, die ein moderner Mensch braucht, wenn er große Dinge vollbringen
will, an dieser aber fehlte es. Zwar soll d'Alembert einer seiner Lehrer ge¬
wesen sein, aber ein methodischer Unterricht ist ihm in seiner unbändigen und
darum stürmisch verlaufnen Jugend nicht zuteil geworden. Weil er nie zu
planmäßigem Arbeite" angehalten wurde, hat er es auch nicht gelernt, und
sind seine meisten Schriften ungenießbar ausgefallen: ohne einen Plan zu
entwerfen und seine Gedanken zu ordnen, schrieb er diese in der Reihenfolge
nieder, wie sie ihm einfielen. Aber wenn sein Denken wild wucherte, so ist
dafür auch seine Denkkraft nicht durch Schulmeistern geschwächt worden, und
hat sich seine Originalität voll entfalten können. Was aber die Kenntnisse
anlangt, so darf man nicht vergessen, daß die Pariser Salons seiner Zeit, in
denen die Großgeister der Nation verkehrten, recht gut eine Bibliothek ersetzen
konnten. Henri diente als Offizier, focht im amerikanischen Befreiungskriege,
abenteuerte, immer mit großen Plänen beschäftigt, in den Frankreich benach¬
barten Ländern herum, studierte als Platzkommandant von Metz Mathematik,
verlor in der Revolution sein Vermögen, häufte als Güterspekulant Reichtümer
auf und verschwendete sie in üppiger Schwelgerei. Beim spätern Rückblick auf
seine mondaine Periode hat ihm die Sophistik des Herzens eingeredet, er habe
nur eine durch seinen Beruf gebotne Pflicht erfüllt, indem er die Menschen-
iiatur von allen Seiten und in ihren Tiefen praktisch kennen zu lerne" beflissen
gewesen sei. Übrigens hat er sein luxuriöses Grandseigneurleben zum Studium
in der oben angedeuteten Weise benutzt: seine feinen Weine, seine den Be¬
dürftigen stets offne Börse erschlossen ihm die geistigen Schätze seiner Gäste.
Auch veranstaltete er gemeinnützige Unternehmungen und pflegte seinen Ge¬
hilfen zu sagen: ^lie? touMU'8, et "zuMcl it ne tguära, plus <zuL <lo
vsnW ^ moi, ^al as oeta.

Auch die Frauen und die Ehe behandelte er als Objekte und Hilfsmittel
der Forschung. Seine Gattin hatte er schon nach Verlauf von zehn Monaten
ausstudiert. Trauerten Auges trennte er sich von ihr, weil er in der Stael
die ihm bestimmte Lebcnsgenossin und Mitarbeiterin erkannt zu haben glaubte.
Er soll ihr die Ehe mit den Worten angetragen haben: Naäimnz, von" ßtes
la t'Sinne 1a xlns extrÄorämairö ein mein<es, oommk j'su sui8 l'nomiriö 1e plus
oxtmorcllnaire; 5 nov.8 äeux, nous torions sg,us clouds rin villane, eooore plus
extrnoräin-uro. Die gescheite Frau dankte für das Experiment. Eines schönen
Tages machte der große Experimentator die unangenehme Entdeckung, daß
seine Mittel erschöpft seien. Er war vollständig fertig und nährte sich sechs
Monate lang kümmerlich als Kopist, die Nächte zum Studieren verwendend.
Dann erkrankte er. Ein alter treuer Diener stellte ihm sein Vermögen und
sein Haus zur Verfügung, und in dieser Zufluchtstätte begann er, über vierzig


Saint-Aimon

im Alter von fünfzehn Jahren seinem Diener befahl, ihn täglich mit den
Worten zu wecken: „Stehen Sie ans, Herr Graf, Sie haben große Dinge
zu vollbringen." Zunächst würde es sich um die Vorbereitung gehandelt
haben, die ein moderner Mensch braucht, wenn er große Dinge vollbringen
will, an dieser aber fehlte es. Zwar soll d'Alembert einer seiner Lehrer ge¬
wesen sein, aber ein methodischer Unterricht ist ihm in seiner unbändigen und
darum stürmisch verlaufnen Jugend nicht zuteil geworden. Weil er nie zu
planmäßigem Arbeite» angehalten wurde, hat er es auch nicht gelernt, und
sind seine meisten Schriften ungenießbar ausgefallen: ohne einen Plan zu
entwerfen und seine Gedanken zu ordnen, schrieb er diese in der Reihenfolge
nieder, wie sie ihm einfielen. Aber wenn sein Denken wild wucherte, so ist
dafür auch seine Denkkraft nicht durch Schulmeistern geschwächt worden, und
hat sich seine Originalität voll entfalten können. Was aber die Kenntnisse
anlangt, so darf man nicht vergessen, daß die Pariser Salons seiner Zeit, in
denen die Großgeister der Nation verkehrten, recht gut eine Bibliothek ersetzen
konnten. Henri diente als Offizier, focht im amerikanischen Befreiungskriege,
abenteuerte, immer mit großen Plänen beschäftigt, in den Frankreich benach¬
barten Ländern herum, studierte als Platzkommandant von Metz Mathematik,
verlor in der Revolution sein Vermögen, häufte als Güterspekulant Reichtümer
auf und verschwendete sie in üppiger Schwelgerei. Beim spätern Rückblick auf
seine mondaine Periode hat ihm die Sophistik des Herzens eingeredet, er habe
nur eine durch seinen Beruf gebotne Pflicht erfüllt, indem er die Menschen-
iiatur von allen Seiten und in ihren Tiefen praktisch kennen zu lerne« beflissen
gewesen sei. Übrigens hat er sein luxuriöses Grandseigneurleben zum Studium
in der oben angedeuteten Weise benutzt: seine feinen Weine, seine den Be¬
dürftigen stets offne Börse erschlossen ihm die geistigen Schätze seiner Gäste.
Auch veranstaltete er gemeinnützige Unternehmungen und pflegte seinen Ge¬
hilfen zu sagen: ^lie? touMU'8, et «zuMcl it ne tguära, plus <zuL <lo
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Auch die Frauen und die Ehe behandelte er als Objekte und Hilfsmittel
der Forschung. Seine Gattin hatte er schon nach Verlauf von zehn Monaten
ausstudiert. Trauerten Auges trennte er sich von ihr, weil er in der Stael
die ihm bestimmte Lebcnsgenossin und Mitarbeiterin erkannt zu haben glaubte.
Er soll ihr die Ehe mit den Worten angetragen haben: Naäimnz, von« ßtes
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oxtmorcllnaire; 5 nov.8 äeux, nous torions sg,us clouds rin villane, eooore plus
extrnoräin-uro. Die gescheite Frau dankte für das Experiment. Eines schönen
Tages machte der große Experimentator die unangenehme Entdeckung, daß
seine Mittel erschöpft seien. Er war vollständig fertig und nährte sich sechs
Monate lang kümmerlich als Kopist, die Nächte zum Studieren verwendend.
Dann erkrankte er. Ein alter treuer Diener stellte ihm sein Vermögen und
sein Haus zur Verfügung, und in dieser Zufluchtstätte begann er, über vierzig


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/130>, abgerufen am 22.07.2024.