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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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verstärkt worden, und sie haben für gewöhnlich auch ihre Schuldigkeit getan.
Aber zuzeiten hat doch mehr als einmal die wütende Flut dem Werke der
Menschen gespottet, sich über die Deiche hinwegergossen und Menschen und Tiere
verschlungen. Die Erinnerung an den namenlosen Jammer solcher Unglücks¬
tage erbt fort von Geschlecht zu Geschlecht. Zu keiner Zeit haben in geschicht¬
lichen Tagen die Fluten so viele Zerstörungen angerichtet wie im dreizehnten
und im vierzehnten Jahrhundert. Am 14. Dezember 1287 kurz nach Mitternacht
wurden von Stavoren am Zuydersee bis an die Mündung des Lobabachs 30000
und von da bis an die Ems noch 20000 Menschen verschlungen. Im Jahre 1218
wurden sieben Kirchspiele weggespült, und gegen Ende des dreizehnten Jahr¬
hunderts entstand der Dollart. Vorher standen dort fünfzig schöne Dörfer, von
denen zweiunddreißig eigne Kirchen besaßen, dazu eine reiche Stadt, die alle
nach und nach von den Wellen verschlungen wurden. Das Zerstörungswerk
begann im Januar 1277 mit dem Durchbruch des Deiches bei Jcmsum und
war nach reichlich hundert Jahren beendet, bis durch schützende Dämme dem
weitern Vordringen des Meeres ein Ziel gesetzt wurde.

Die Nordsee hat im Laufe der Jahrhunderte auch an den Küsten der
cimbrischen Halbinsel furchtbare Verwüstungen angerichtet, denen die Entstehung
der gegenwärtigen Inseln und Halligen zuzuschreiben ist. Nordfriesland hatte
vor dem Jahre 1652 schon 106 Kirchspiele durch Überflutung verloren. Die
Insel Nordstrand, die in vorgeschichtlicher Zeit unzweifelhaft landfest mit Nord¬
friesland verbunden gewesen ist, verlor 1634 in einer Sturmnacht von einund¬
zwanzig Kirchspielen siebzehn, die See drang durch vierundvierzig Deichbrüche
herein, zerstörte fast sämtliche Kirchen, zertrümmerte von 1779 Häusern 1322,
schwemmte dreißig Windmühlen fort und begrub über 6400 Menschen in ihren
Fluten. Ein Teil der Insel wurde bei dem furchtbare" Ereignis direkt vom
Meere verschlungen, an seiner Stelle trennt jetzt eine breite und tiefe Wasser¬
straße die früher zu Nordstrand gehörige Harte (Distrikt) als selbständige Insel
Pellworm ab. Auch diese hat nach der Zeit der Entstehung noch schwere Verluste
durch Fluten erlitten, zuletzt im Februar 1825. Die gesamten Watten, die sich
von den vor den Außeninseln liegenden Sandbänken schon dadurch unterscheiden,
daß sie entweder aus grauem Ton oder aus einem Gemenge von Sand und
Ton bestehn, füllen den Raum zwischen den Inseln wie zwischen der ganzen
nordfriesischen Inselkette und dem Festlande mehrere Kilometer weit aus. Sie
können füglich als die Gräber, als die Riesenbetten des alten ins Meer ver¬
sunkenen Nordfrieslands angesehen werden. Nur hie und da ragt noch eine grüne
Insel oder ein Jnselbruchstück aus deu grauen Schlick- und Tonplatten hervor,
die nur zur Ebbezeit aus dem Wasser heraustreten, dazwischen rieseln die
Wattenströme, die auch zur Zeit der tiefsten Ebbe noch mit Wasser angefüllt
sind und je nach der Größe verschiedne Namen, wie Galen, Prielen, Leine usw.
führen. Das ist das Gebiet der sogenannten Halligen, und die Watten sind
nichts andres als das einst vom Meer geraubte Marschland. In frühern Zeiten


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verstärkt worden, und sie haben für gewöhnlich auch ihre Schuldigkeit getan.
Aber zuzeiten hat doch mehr als einmal die wütende Flut dem Werke der
Menschen gespottet, sich über die Deiche hinwegergossen und Menschen und Tiere
verschlungen. Die Erinnerung an den namenlosen Jammer solcher Unglücks¬
tage erbt fort von Geschlecht zu Geschlecht. Zu keiner Zeit haben in geschicht¬
lichen Tagen die Fluten so viele Zerstörungen angerichtet wie im dreizehnten
und im vierzehnten Jahrhundert. Am 14. Dezember 1287 kurz nach Mitternacht
wurden von Stavoren am Zuydersee bis an die Mündung des Lobabachs 30000
und von da bis an die Ems noch 20000 Menschen verschlungen. Im Jahre 1218
wurden sieben Kirchspiele weggespült, und gegen Ende des dreizehnten Jahr¬
hunderts entstand der Dollart. Vorher standen dort fünfzig schöne Dörfer, von
denen zweiunddreißig eigne Kirchen besaßen, dazu eine reiche Stadt, die alle
nach und nach von den Wellen verschlungen wurden. Das Zerstörungswerk
begann im Januar 1277 mit dem Durchbruch des Deiches bei Jcmsum und
war nach reichlich hundert Jahren beendet, bis durch schützende Dämme dem
weitern Vordringen des Meeres ein Ziel gesetzt wurde.

Die Nordsee hat im Laufe der Jahrhunderte auch an den Küsten der
cimbrischen Halbinsel furchtbare Verwüstungen angerichtet, denen die Entstehung
der gegenwärtigen Inseln und Halligen zuzuschreiben ist. Nordfriesland hatte
vor dem Jahre 1652 schon 106 Kirchspiele durch Überflutung verloren. Die
Insel Nordstrand, die in vorgeschichtlicher Zeit unzweifelhaft landfest mit Nord¬
friesland verbunden gewesen ist, verlor 1634 in einer Sturmnacht von einund¬
zwanzig Kirchspielen siebzehn, die See drang durch vierundvierzig Deichbrüche
herein, zerstörte fast sämtliche Kirchen, zertrümmerte von 1779 Häusern 1322,
schwemmte dreißig Windmühlen fort und begrub über 6400 Menschen in ihren
Fluten. Ein Teil der Insel wurde bei dem furchtbare« Ereignis direkt vom
Meere verschlungen, an seiner Stelle trennt jetzt eine breite und tiefe Wasser¬
straße die früher zu Nordstrand gehörige Harte (Distrikt) als selbständige Insel
Pellworm ab. Auch diese hat nach der Zeit der Entstehung noch schwere Verluste
durch Fluten erlitten, zuletzt im Februar 1825. Die gesamten Watten, die sich
von den vor den Außeninseln liegenden Sandbänken schon dadurch unterscheiden,
daß sie entweder aus grauem Ton oder aus einem Gemenge von Sand und
Ton bestehn, füllen den Raum zwischen den Inseln wie zwischen der ganzen
nordfriesischen Inselkette und dem Festlande mehrere Kilometer weit aus. Sie
können füglich als die Gräber, als die Riesenbetten des alten ins Meer ver¬
sunkenen Nordfrieslands angesehen werden. Nur hie und da ragt noch eine grüne
Insel oder ein Jnselbruchstück aus deu grauen Schlick- und Tonplatten hervor,
die nur zur Ebbezeit aus dem Wasser heraustreten, dazwischen rieseln die
Wattenströme, die auch zur Zeit der tiefsten Ebbe noch mit Wasser angefüllt
sind und je nach der Größe verschiedne Namen, wie Galen, Prielen, Leine usw.
führen. Das ist das Gebiet der sogenannten Halligen, und die Watten sind
nichts andres als das einst vom Meer geraubte Marschland. In frühern Zeiten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/122>, abgerufen am 22.07.2024.