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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Landgewinnung in der Nordsee

Truppenvertcilung nicht ausgeschlossen scheinen, genötigt sehen, zu Improvi¬
sationen zu greifen oder sich auf die Verteidigung der Balkanübergünge zu
beschränken, was bei der dann möglichen Bedrohung Sofias gewiß mißlich
wäre. Hier spielt auch der Mangel an leistungsfähigen Bahnen und die große
Ausdehnung der zu verteidigenden Grenze eine große Rolle. Inwieweit die
Befestigung der zurzeit ungedeckten Einbrnchslinien erst dem Kriegsfalle über¬
lassen bleibt, entzieht sich allgemeiner Kenntnis.




Landgewinnung in der Nordsee

an hört oft Verwunderung aussprechen über die Hartnäckigkeit
gewisser Bauern, die über einen Streifen Landes Prozesse führen,
deren Kosten weit über den Wert des Streitgegenstandes hinaus¬
gehn. Und doch liegt dem scheinbaren Unsinn ein gewisser Sinn
I zugrunde. Alle Wertgegenstände sind wieder zu ersetzen, nur
Grund und Boden nicht, wenn er einmal verloren gegangen ist. Das weiß
niemand besser als der Bauer, und deshalb streitet er darum. Grund und
Boden! Unter Umständen nicht zu erwerben, auch nicht für das teuerste Geld,
wo anders nahezu umsonst zu haben. In den Millionenstädten werden in ge¬
wissen Lagen für den Quadratnieter mehr als tausend Mark bezahlt, ostclbische
Besitzer würden dafür gern einen ganzen Morgen verkaufen. Auch in unserm
kapitalistischen Zeitraum gilt Grund und Boden noch immer als der vornehmste
Besitz, und zu allen Zeiten und auf allen Kulturstufen hat der Streit um das
Land bestanden. Als unsre Vorfahren zuerst mit den Römern zusammenstießen,
suchten sie Land, und daraus entstanden Vernichtungskämpfe, die viele Jahr¬
hunderte dauerten. Die meisten Kriege bis zur neusten Zeit hat man geführt,
um Land zu gewinnen, überseeische Unternehmungen, die Eroberung von Kolonien
dienen demselben Zwecke. Zur Landgewinnung drängt die Zunahme der Be¬
völkerung, die Raum zur Ausdehnung sucht. Man kultiviert darum Heiden,
Moore und Ödländereien, aber der dadurch neugewonnene Boden deckt kaum
den Ausfall des meist sehr anbaufähigen Landes, das durch Stadtcrweiterungen,
industrielle Anlagen, Eisenbahnen und Straßen neu in Anspruch genommen
wird. In den Städten steigt man in die Höhe, in den nordamerikanischen
Riesenstädten baut mau schon fünfzig Stockwerke hoch und darüber. Ju Deutsch¬
land scheint noch Überfluß an Land zu bestehn, man spricht von der Landflucht
nach den Städten, infolge deren sich die östlichen Ackerbandistrikte entvölkern.
Man hat dabei eine zwar augenblicklich sehr drückende, aber unzweifelhaft nur
vorübergehende Erscheinung vor sich. Bisher hat die deutsche Industrie in


Landgewinnung in der Nordsee

Truppenvertcilung nicht ausgeschlossen scheinen, genötigt sehen, zu Improvi¬
sationen zu greifen oder sich auf die Verteidigung der Balkanübergünge zu
beschränken, was bei der dann möglichen Bedrohung Sofias gewiß mißlich
wäre. Hier spielt auch der Mangel an leistungsfähigen Bahnen und die große
Ausdehnung der zu verteidigenden Grenze eine große Rolle. Inwieweit die
Befestigung der zurzeit ungedeckten Einbrnchslinien erst dem Kriegsfalle über¬
lassen bleibt, entzieht sich allgemeiner Kenntnis.




Landgewinnung in der Nordsee

an hört oft Verwunderung aussprechen über die Hartnäckigkeit
gewisser Bauern, die über einen Streifen Landes Prozesse führen,
deren Kosten weit über den Wert des Streitgegenstandes hinaus¬
gehn. Und doch liegt dem scheinbaren Unsinn ein gewisser Sinn
I zugrunde. Alle Wertgegenstände sind wieder zu ersetzen, nur
Grund und Boden nicht, wenn er einmal verloren gegangen ist. Das weiß
niemand besser als der Bauer, und deshalb streitet er darum. Grund und
Boden! Unter Umständen nicht zu erwerben, auch nicht für das teuerste Geld,
wo anders nahezu umsonst zu haben. In den Millionenstädten werden in ge¬
wissen Lagen für den Quadratnieter mehr als tausend Mark bezahlt, ostclbische
Besitzer würden dafür gern einen ganzen Morgen verkaufen. Auch in unserm
kapitalistischen Zeitraum gilt Grund und Boden noch immer als der vornehmste
Besitz, und zu allen Zeiten und auf allen Kulturstufen hat der Streit um das
Land bestanden. Als unsre Vorfahren zuerst mit den Römern zusammenstießen,
suchten sie Land, und daraus entstanden Vernichtungskämpfe, die viele Jahr¬
hunderte dauerten. Die meisten Kriege bis zur neusten Zeit hat man geführt,
um Land zu gewinnen, überseeische Unternehmungen, die Eroberung von Kolonien
dienen demselben Zwecke. Zur Landgewinnung drängt die Zunahme der Be¬
völkerung, die Raum zur Ausdehnung sucht. Man kultiviert darum Heiden,
Moore und Ödländereien, aber der dadurch neugewonnene Boden deckt kaum
den Ausfall des meist sehr anbaufähigen Landes, das durch Stadtcrweiterungen,
industrielle Anlagen, Eisenbahnen und Straßen neu in Anspruch genommen
wird. In den Städten steigt man in die Höhe, in den nordamerikanischen
Riesenstädten baut mau schon fünfzig Stockwerke hoch und darüber. Ju Deutsch¬
land scheint noch Überfluß an Land zu bestehn, man spricht von der Landflucht
nach den Städten, infolge deren sich die östlichen Ackerbandistrikte entvölkern.
Man hat dabei eine zwar augenblicklich sehr drückende, aber unzweifelhaft nur
vorübergehende Erscheinung vor sich. Bisher hat die deutsche Industrie in


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[0120] Landgewinnung in der Nordsee Truppenvertcilung nicht ausgeschlossen scheinen, genötigt sehen, zu Improvi¬ sationen zu greifen oder sich auf die Verteidigung der Balkanübergünge zu beschränken, was bei der dann möglichen Bedrohung Sofias gewiß mißlich wäre. Hier spielt auch der Mangel an leistungsfähigen Bahnen und die große Ausdehnung der zu verteidigenden Grenze eine große Rolle. Inwieweit die Befestigung der zurzeit ungedeckten Einbrnchslinien erst dem Kriegsfalle über¬ lassen bleibt, entzieht sich allgemeiner Kenntnis. Landgewinnung in der Nordsee an hört oft Verwunderung aussprechen über die Hartnäckigkeit gewisser Bauern, die über einen Streifen Landes Prozesse führen, deren Kosten weit über den Wert des Streitgegenstandes hinaus¬ gehn. Und doch liegt dem scheinbaren Unsinn ein gewisser Sinn I zugrunde. Alle Wertgegenstände sind wieder zu ersetzen, nur Grund und Boden nicht, wenn er einmal verloren gegangen ist. Das weiß niemand besser als der Bauer, und deshalb streitet er darum. Grund und Boden! Unter Umständen nicht zu erwerben, auch nicht für das teuerste Geld, wo anders nahezu umsonst zu haben. In den Millionenstädten werden in ge¬ wissen Lagen für den Quadratnieter mehr als tausend Mark bezahlt, ostclbische Besitzer würden dafür gern einen ganzen Morgen verkaufen. Auch in unserm kapitalistischen Zeitraum gilt Grund und Boden noch immer als der vornehmste Besitz, und zu allen Zeiten und auf allen Kulturstufen hat der Streit um das Land bestanden. Als unsre Vorfahren zuerst mit den Römern zusammenstießen, suchten sie Land, und daraus entstanden Vernichtungskämpfe, die viele Jahr¬ hunderte dauerten. Die meisten Kriege bis zur neusten Zeit hat man geführt, um Land zu gewinnen, überseeische Unternehmungen, die Eroberung von Kolonien dienen demselben Zwecke. Zur Landgewinnung drängt die Zunahme der Be¬ völkerung, die Raum zur Ausdehnung sucht. Man kultiviert darum Heiden, Moore und Ödländereien, aber der dadurch neugewonnene Boden deckt kaum den Ausfall des meist sehr anbaufähigen Landes, das durch Stadtcrweiterungen, industrielle Anlagen, Eisenbahnen und Straßen neu in Anspruch genommen wird. In den Städten steigt man in die Höhe, in den nordamerikanischen Riesenstädten baut mau schon fünfzig Stockwerke hoch und darüber. Ju Deutsch¬ land scheint noch Überfluß an Land zu bestehn, man spricht von der Landflucht nach den Städten, infolge deren sich die östlichen Ackerbandistrikte entvölkern. Man hat dabei eine zwar augenblicklich sehr drückende, aber unzweifelhaft nur vorübergehende Erscheinung vor sich. Bisher hat die deutsche Industrie in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/120>, abgerufen am 22.07.2024.