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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Nationale politische Erziehung

weist darauf hin, daß es unmöglich sei, bis zum vierzehnten Lebensjahre dem
Charakter eine bestimmte Richtung zu geben. Er sagt: "Bei dem noch nn-
gebrochnen Egoismus des Menschen in diesem Alter wird unsre Volksschul¬
bildung für den einzelnen und noch mehr für die Gesamtheit öfter zum Danaer¬
geschenk als zur Himmelsgabe. Wir geben damit allzuleicht dem Volke einen
Funken, den es nicht zu hüten, einen Hammer, den es nicht zu schwingen
vermag, eine Kraft, die dem alles versprechenden Demagogen seine Arbeit viel
leichter macht als dem wahrheitsgetreuer Führer." Er sagt, das Ziel aller
Erziehung sei eine menschliche Gesellschaft, die soweit als möglich aus selb¬
ständigen, harmonisch entwickelten, sittlich freien Personen bestehe. Die Auf¬
gaben des Staates seien Selbsterhaltung und Volkswohlfahrt; da aber der
Grundzug des modernen Staates das allgemeine Staatsbürgertum sei, die
beinahe schrankenlose Ausdehnung der persönlichen und politischen Freiheiten
und Rechte, so könne der Staat seine Aufgaben nur erfüllen durch eine mög¬
lichst ausgedehnte Erziehung aller für das Verständnis der Staatsaufgabe und
für den erreichbar höchsten Grad persönlicher Tüchtigkeit: "Der moderne Staat
erreicht sein Ziel dadurch, daß er dem einzelnen eine Erziehung angedeihen
läßt, die ihn befähigt, die Staatsaufgabe selbst im großen und ganzen
wenigstens zu verstehen und zugleich den ihm nach seiner Leistungsfähigkeit
zukommenden Platz im Staatsorganismus auszufüllen."

Die Volksschule allein kann natürlich dieses Ziel der Erziehung nicht erreichen,
und so fordert Kerschensteiner obligatorischen Fortbildungsunterricht bis etwa zum
siebzehnten Lebensjahre und für die zweite Stufe der staatsbürgerlichen Er¬
ziehung Bildungseinrichtungen mit fakultativen Charakter, dann aber, daß in
den Unterrichtsplan aller Bildungsanstalten des Staates einschließlich der
Fachschulen, Handwerkerschulen, Knnstgewerbeschulen und Landwirtschaftsschulen
grundsätzlich staatsbürgerlicher Unterricht aufgenommen werde. Er weist darauf
hin, welcher Mangel darin liege, daß gerade in Fachschulen die Aufmerksamkeit
der Schüler immer nur auf die eignen, niemals auf die allgemeinen Interessen
hingelenkt werde. Eine wesentliche Aufgabe der staatsbürgerlichen Erziehung
sei es, die Abhängigkeit der besondern Berufsinteressen des Zöglings von den
Gesamtinteressen der Mitbürger und des Vaterlandes klar zu machen uuter
besondrer Betonung der Interessen des Staates. Das ist sicher richtig. Jede
einseitig technische oder kunstgewerbliche Ausbildung fördert zunächst nur die
egoistischen Triebe. Ergänzend hinzutreten müßte ein Unterricht, der die An¬
schauung erweitert und den Zusammenhang der Interessen aller Stände erschließt.
Wenn wir vorwärts kommen, den Zustand der Gleichgiltigkeit und Verstnndnis-
losigkeit gegenüber öffentlichen Angelegenheiten überwinden wollen, worin sich
das deutsche Volk leider noch befindet, so werden wir dazu übergehn müssen, das
Volk planmüßig zu politischer Einsicht und Betätigung zu erziehen. Nicht die
Schule allein, hat schon der Freiherr vom Stein gesagt, sondern Teilnahme
an den Angelegenheiten des Ganzen ist der sicherste Weg zur Vollendung der


Nationale politische Erziehung

weist darauf hin, daß es unmöglich sei, bis zum vierzehnten Lebensjahre dem
Charakter eine bestimmte Richtung zu geben. Er sagt: „Bei dem noch nn-
gebrochnen Egoismus des Menschen in diesem Alter wird unsre Volksschul¬
bildung für den einzelnen und noch mehr für die Gesamtheit öfter zum Danaer¬
geschenk als zur Himmelsgabe. Wir geben damit allzuleicht dem Volke einen
Funken, den es nicht zu hüten, einen Hammer, den es nicht zu schwingen
vermag, eine Kraft, die dem alles versprechenden Demagogen seine Arbeit viel
leichter macht als dem wahrheitsgetreuer Führer." Er sagt, das Ziel aller
Erziehung sei eine menschliche Gesellschaft, die soweit als möglich aus selb¬
ständigen, harmonisch entwickelten, sittlich freien Personen bestehe. Die Auf¬
gaben des Staates seien Selbsterhaltung und Volkswohlfahrt; da aber der
Grundzug des modernen Staates das allgemeine Staatsbürgertum sei, die
beinahe schrankenlose Ausdehnung der persönlichen und politischen Freiheiten
und Rechte, so könne der Staat seine Aufgaben nur erfüllen durch eine mög¬
lichst ausgedehnte Erziehung aller für das Verständnis der Staatsaufgabe und
für den erreichbar höchsten Grad persönlicher Tüchtigkeit: „Der moderne Staat
erreicht sein Ziel dadurch, daß er dem einzelnen eine Erziehung angedeihen
läßt, die ihn befähigt, die Staatsaufgabe selbst im großen und ganzen
wenigstens zu verstehen und zugleich den ihm nach seiner Leistungsfähigkeit
zukommenden Platz im Staatsorganismus auszufüllen."

Die Volksschule allein kann natürlich dieses Ziel der Erziehung nicht erreichen,
und so fordert Kerschensteiner obligatorischen Fortbildungsunterricht bis etwa zum
siebzehnten Lebensjahre und für die zweite Stufe der staatsbürgerlichen Er¬
ziehung Bildungseinrichtungen mit fakultativen Charakter, dann aber, daß in
den Unterrichtsplan aller Bildungsanstalten des Staates einschließlich der
Fachschulen, Handwerkerschulen, Knnstgewerbeschulen und Landwirtschaftsschulen
grundsätzlich staatsbürgerlicher Unterricht aufgenommen werde. Er weist darauf
hin, welcher Mangel darin liege, daß gerade in Fachschulen die Aufmerksamkeit
der Schüler immer nur auf die eignen, niemals auf die allgemeinen Interessen
hingelenkt werde. Eine wesentliche Aufgabe der staatsbürgerlichen Erziehung
sei es, die Abhängigkeit der besondern Berufsinteressen des Zöglings von den
Gesamtinteressen der Mitbürger und des Vaterlandes klar zu machen uuter
besondrer Betonung der Interessen des Staates. Das ist sicher richtig. Jede
einseitig technische oder kunstgewerbliche Ausbildung fördert zunächst nur die
egoistischen Triebe. Ergänzend hinzutreten müßte ein Unterricht, der die An¬
schauung erweitert und den Zusammenhang der Interessen aller Stände erschließt.
Wenn wir vorwärts kommen, den Zustand der Gleichgiltigkeit und Verstnndnis-
losigkeit gegenüber öffentlichen Angelegenheiten überwinden wollen, worin sich
das deutsche Volk leider noch befindet, so werden wir dazu übergehn müssen, das
Volk planmüßig zu politischer Einsicht und Betätigung zu erziehen. Nicht die
Schule allein, hat schon der Freiherr vom Stein gesagt, sondern Teilnahme
an den Angelegenheiten des Ganzen ist der sicherste Weg zur Vollendung der


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[0084] Nationale politische Erziehung weist darauf hin, daß es unmöglich sei, bis zum vierzehnten Lebensjahre dem Charakter eine bestimmte Richtung zu geben. Er sagt: „Bei dem noch nn- gebrochnen Egoismus des Menschen in diesem Alter wird unsre Volksschul¬ bildung für den einzelnen und noch mehr für die Gesamtheit öfter zum Danaer¬ geschenk als zur Himmelsgabe. Wir geben damit allzuleicht dem Volke einen Funken, den es nicht zu hüten, einen Hammer, den es nicht zu schwingen vermag, eine Kraft, die dem alles versprechenden Demagogen seine Arbeit viel leichter macht als dem wahrheitsgetreuer Führer." Er sagt, das Ziel aller Erziehung sei eine menschliche Gesellschaft, die soweit als möglich aus selb¬ ständigen, harmonisch entwickelten, sittlich freien Personen bestehe. Die Auf¬ gaben des Staates seien Selbsterhaltung und Volkswohlfahrt; da aber der Grundzug des modernen Staates das allgemeine Staatsbürgertum sei, die beinahe schrankenlose Ausdehnung der persönlichen und politischen Freiheiten und Rechte, so könne der Staat seine Aufgaben nur erfüllen durch eine mög¬ lichst ausgedehnte Erziehung aller für das Verständnis der Staatsaufgabe und für den erreichbar höchsten Grad persönlicher Tüchtigkeit: „Der moderne Staat erreicht sein Ziel dadurch, daß er dem einzelnen eine Erziehung angedeihen läßt, die ihn befähigt, die Staatsaufgabe selbst im großen und ganzen wenigstens zu verstehen und zugleich den ihm nach seiner Leistungsfähigkeit zukommenden Platz im Staatsorganismus auszufüllen." Die Volksschule allein kann natürlich dieses Ziel der Erziehung nicht erreichen, und so fordert Kerschensteiner obligatorischen Fortbildungsunterricht bis etwa zum siebzehnten Lebensjahre und für die zweite Stufe der staatsbürgerlichen Er¬ ziehung Bildungseinrichtungen mit fakultativen Charakter, dann aber, daß in den Unterrichtsplan aller Bildungsanstalten des Staates einschließlich der Fachschulen, Handwerkerschulen, Knnstgewerbeschulen und Landwirtschaftsschulen grundsätzlich staatsbürgerlicher Unterricht aufgenommen werde. Er weist darauf hin, welcher Mangel darin liege, daß gerade in Fachschulen die Aufmerksamkeit der Schüler immer nur auf die eignen, niemals auf die allgemeinen Interessen hingelenkt werde. Eine wesentliche Aufgabe der staatsbürgerlichen Erziehung sei es, die Abhängigkeit der besondern Berufsinteressen des Zöglings von den Gesamtinteressen der Mitbürger und des Vaterlandes klar zu machen uuter besondrer Betonung der Interessen des Staates. Das ist sicher richtig. Jede einseitig technische oder kunstgewerbliche Ausbildung fördert zunächst nur die egoistischen Triebe. Ergänzend hinzutreten müßte ein Unterricht, der die An¬ schauung erweitert und den Zusammenhang der Interessen aller Stände erschließt. Wenn wir vorwärts kommen, den Zustand der Gleichgiltigkeit und Verstnndnis- losigkeit gegenüber öffentlichen Angelegenheiten überwinden wollen, worin sich das deutsche Volk leider noch befindet, so werden wir dazu übergehn müssen, das Volk planmüßig zu politischer Einsicht und Betätigung zu erziehen. Nicht die Schule allein, hat schon der Freiherr vom Stein gesagt, sondern Teilnahme an den Angelegenheiten des Ganzen ist der sicherste Weg zur Vollendung der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/84>, abgerufen am 25.08.2024.