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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Der Stand des Balkanproblems

russisch-englisch-deutsch-französischen Besprechungen erfolgten Begegnung der¬
selben beiden Persönlichkeiten auf dem Semmering eigens bestätigt worden ist,
kann keine andre sein als die: wir wollen den status quo nach bestem Ver¬
mögen erhalten; ist die Erhaltung jedoch nicht weitermöglich, so liegt uns an
der staatlichen Verselbständigung der balkanischen Nationalitäten, und zwar von
dem -- bisher noch nicht durchaus angenommen gewesnen -- Standpunkte, daß
die territoriale Umgrenzung der Nationalitäten keiner von diesen ein wesentliches
Übergewicht über eine andre gewähren könne. Denn nur so kommt der Punkt 3
des Mürzsteger Programms, der der Türkei nach eingetretner Beruhigung der
Bevölkerung eine rationalistisch orientierte Einteilung der rumelischen Ver¬
waltungsbezirke ansinnt, und die zwischen den Ministern Goluchowski einerseits
und Visconti-Venosta und Tittoni andrerseits geschehn" Vereinbarung, daß die
vorwiegend albanischen Distrikte Mazedoniens, sobald dessen Verwaltungsform
verändert wird, mit dem eigentlichen Albanien zu einer territorial-politischen
Einheit zusammengefaßt werden sollen, in die rechte Beleuchtung.

Die Verwirklichung des Nationalitätsprinzips hat jedoch ihre großen
Schwierigkeiten. Mazedonien enthält in kaum lösbaren Gewirr außer den
600000 Türken, die hier leben, und den Albanesen noch Bulgaren und
Griechen, Serben und Walachen. Die Bulgaren haben im Fürstentum wie
in Mazedonien den Traum des großen bulgarischen Zarentums, und ihre
Banden haben zur Anschauung gebracht, daß sie es bei dem Traum nicht be¬
wenden lassen möchten. Die Griechen haben, wo auch immer in der Welt sie
find, eine große Meinung von ihrer nationalen Mission, und die großgriechische
Agitation hat sie bisher schon außer mit den Rumänen, die sich die griechische
Inanspruchnahme der 100000 Köpfe zählenden Kutzowalachen nicht gefallen
lassen wollten und das den Griechen durch soziale und ökonomische Repressalien
nachdrücklichst zum Bewußtsein brachten, noch mit den Bulgaren, den Serben
und natürlich den Türken in mehr und minder schroffe und explosive Gegen¬
sätze gebracht. Die Serben planen Großserbien, und die Walachen wie die
Montenegriner schauen mit sehnsüchtiger Lust auf die Triften der Nachbarschaft.
In Rumänien hegt man neuerdings romanische Ideale und sorgt sich um die
Kutzowalachen und alle andern Elemente in Mazedonien, die etwas Romanisches
in sich oder an sich haben. Eine nationalistische Aufteilung Mazedoniens
nimmt sich also ganz anders aus, wenn man sie betrachtet sei es in Sofia,
sei in Athen, sei es in Belgrad, sei es in Bukarest, sei es in Cetinje. Da
aber die Doktrin das reale Werden sehr viel weniger bestimmt als materielle
Macht und eine gute diplomatische Protektion, so bemühen sich die autonomen
Balkcmftaaten in der Tat sehr eifrig auch in dieser Richtung. Man weiß von
bulgarischen, griechischen und serbischen Banden, die mit aktiver und passiver
Unterstützung der betreffenden Regierungen in Mazedonien für ihr nationales
Ideal Terrain zu schaffen suchen, und gerade gegenwärtig sind die diplo¬
matischen Kanzleien von Wien und Rom wieder mit Mahnungen befaßt, die


Grenzboten IV 1907 9
Der Stand des Balkanproblems

russisch-englisch-deutsch-französischen Besprechungen erfolgten Begegnung der¬
selben beiden Persönlichkeiten auf dem Semmering eigens bestätigt worden ist,
kann keine andre sein als die: wir wollen den status quo nach bestem Ver¬
mögen erhalten; ist die Erhaltung jedoch nicht weitermöglich, so liegt uns an
der staatlichen Verselbständigung der balkanischen Nationalitäten, und zwar von
dem — bisher noch nicht durchaus angenommen gewesnen — Standpunkte, daß
die territoriale Umgrenzung der Nationalitäten keiner von diesen ein wesentliches
Übergewicht über eine andre gewähren könne. Denn nur so kommt der Punkt 3
des Mürzsteger Programms, der der Türkei nach eingetretner Beruhigung der
Bevölkerung eine rationalistisch orientierte Einteilung der rumelischen Ver¬
waltungsbezirke ansinnt, und die zwischen den Ministern Goluchowski einerseits
und Visconti-Venosta und Tittoni andrerseits geschehn« Vereinbarung, daß die
vorwiegend albanischen Distrikte Mazedoniens, sobald dessen Verwaltungsform
verändert wird, mit dem eigentlichen Albanien zu einer territorial-politischen
Einheit zusammengefaßt werden sollen, in die rechte Beleuchtung.

Die Verwirklichung des Nationalitätsprinzips hat jedoch ihre großen
Schwierigkeiten. Mazedonien enthält in kaum lösbaren Gewirr außer den
600000 Türken, die hier leben, und den Albanesen noch Bulgaren und
Griechen, Serben und Walachen. Die Bulgaren haben im Fürstentum wie
in Mazedonien den Traum des großen bulgarischen Zarentums, und ihre
Banden haben zur Anschauung gebracht, daß sie es bei dem Traum nicht be¬
wenden lassen möchten. Die Griechen haben, wo auch immer in der Welt sie
find, eine große Meinung von ihrer nationalen Mission, und die großgriechische
Agitation hat sie bisher schon außer mit den Rumänen, die sich die griechische
Inanspruchnahme der 100000 Köpfe zählenden Kutzowalachen nicht gefallen
lassen wollten und das den Griechen durch soziale und ökonomische Repressalien
nachdrücklichst zum Bewußtsein brachten, noch mit den Bulgaren, den Serben
und natürlich den Türken in mehr und minder schroffe und explosive Gegen¬
sätze gebracht. Die Serben planen Großserbien, und die Walachen wie die
Montenegriner schauen mit sehnsüchtiger Lust auf die Triften der Nachbarschaft.
In Rumänien hegt man neuerdings romanische Ideale und sorgt sich um die
Kutzowalachen und alle andern Elemente in Mazedonien, die etwas Romanisches
in sich oder an sich haben. Eine nationalistische Aufteilung Mazedoniens
nimmt sich also ganz anders aus, wenn man sie betrachtet sei es in Sofia,
sei in Athen, sei es in Belgrad, sei es in Bukarest, sei es in Cetinje. Da
aber die Doktrin das reale Werden sehr viel weniger bestimmt als materielle
Macht und eine gute diplomatische Protektion, so bemühen sich die autonomen
Balkcmftaaten in der Tat sehr eifrig auch in dieser Richtung. Man weiß von
bulgarischen, griechischen und serbischen Banden, die mit aktiver und passiver
Unterstützung der betreffenden Regierungen in Mazedonien für ihr nationales
Ideal Terrain zu schaffen suchen, und gerade gegenwärtig sind die diplo¬
matischen Kanzleien von Wien und Rom wieder mit Mahnungen befaßt, die


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[0073] Der Stand des Balkanproblems russisch-englisch-deutsch-französischen Besprechungen erfolgten Begegnung der¬ selben beiden Persönlichkeiten auf dem Semmering eigens bestätigt worden ist, kann keine andre sein als die: wir wollen den status quo nach bestem Ver¬ mögen erhalten; ist die Erhaltung jedoch nicht weitermöglich, so liegt uns an der staatlichen Verselbständigung der balkanischen Nationalitäten, und zwar von dem — bisher noch nicht durchaus angenommen gewesnen — Standpunkte, daß die territoriale Umgrenzung der Nationalitäten keiner von diesen ein wesentliches Übergewicht über eine andre gewähren könne. Denn nur so kommt der Punkt 3 des Mürzsteger Programms, der der Türkei nach eingetretner Beruhigung der Bevölkerung eine rationalistisch orientierte Einteilung der rumelischen Ver¬ waltungsbezirke ansinnt, und die zwischen den Ministern Goluchowski einerseits und Visconti-Venosta und Tittoni andrerseits geschehn« Vereinbarung, daß die vorwiegend albanischen Distrikte Mazedoniens, sobald dessen Verwaltungsform verändert wird, mit dem eigentlichen Albanien zu einer territorial-politischen Einheit zusammengefaßt werden sollen, in die rechte Beleuchtung. Die Verwirklichung des Nationalitätsprinzips hat jedoch ihre großen Schwierigkeiten. Mazedonien enthält in kaum lösbaren Gewirr außer den 600000 Türken, die hier leben, und den Albanesen noch Bulgaren und Griechen, Serben und Walachen. Die Bulgaren haben im Fürstentum wie in Mazedonien den Traum des großen bulgarischen Zarentums, und ihre Banden haben zur Anschauung gebracht, daß sie es bei dem Traum nicht be¬ wenden lassen möchten. Die Griechen haben, wo auch immer in der Welt sie find, eine große Meinung von ihrer nationalen Mission, und die großgriechische Agitation hat sie bisher schon außer mit den Rumänen, die sich die griechische Inanspruchnahme der 100000 Köpfe zählenden Kutzowalachen nicht gefallen lassen wollten und das den Griechen durch soziale und ökonomische Repressalien nachdrücklichst zum Bewußtsein brachten, noch mit den Bulgaren, den Serben und natürlich den Türken in mehr und minder schroffe und explosive Gegen¬ sätze gebracht. Die Serben planen Großserbien, und die Walachen wie die Montenegriner schauen mit sehnsüchtiger Lust auf die Triften der Nachbarschaft. In Rumänien hegt man neuerdings romanische Ideale und sorgt sich um die Kutzowalachen und alle andern Elemente in Mazedonien, die etwas Romanisches in sich oder an sich haben. Eine nationalistische Aufteilung Mazedoniens nimmt sich also ganz anders aus, wenn man sie betrachtet sei es in Sofia, sei in Athen, sei es in Belgrad, sei es in Bukarest, sei es in Cetinje. Da aber die Doktrin das reale Werden sehr viel weniger bestimmt als materielle Macht und eine gute diplomatische Protektion, so bemühen sich die autonomen Balkcmftaaten in der Tat sehr eifrig auch in dieser Richtung. Man weiß von bulgarischen, griechischen und serbischen Banden, die mit aktiver und passiver Unterstützung der betreffenden Regierungen in Mazedonien für ihr nationales Ideal Terrain zu schaffen suchen, und gerade gegenwärtig sind die diplo¬ matischen Kanzleien von Wien und Rom wieder mit Mahnungen befaßt, die Grenzboten IV 1907 9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/73>, abgerufen am 25.08.2024.