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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Der Stand des Balkanproblems

der Gendarmeriedistrikte nicht umsonst soviel Gewicht gelegt worden, die Be¬
mühungen um deutsche und italienische Schulen, um deutsche und italienische
Kirchen -- die Italiener haben infolge der patriotischen Gesinnung des Papstes
durch kirchliche Einrichtungen viel an Prestige und vielseitig effektiven Einfluß
gewinnen können --, um deutsche und italienische Finanz- und Verkehrsanstalten
haben ihren unmittelbaren und vornehmlich ihren politischen Zweck. Es ver¬
dient beachtet zu werden, daß Italien in den letzten Jahren auf dem balka¬
nischen und im besondern auf dem albanischen Felde sehr bedeutende Fort¬
schritte gemacht hat und an vielen Stellen nicht mehr weit davon entfernt ist,
Österreich, das doch sehr viel früher auf dem Plane gewesen ist, an Geltung
zu übertreffen. Im östlichen Mazedonien ist ein ähnliches Spiel zwischen
Österreich und Nußland erst neuerdings infolge der Schwächung der Energie
Rußlands unterbrochen worden. Und da hierbei Österreich ein vorzügliches
Geschäft gemacht hat, so hat Italien an Österreichs Freude nicht teilnahmlos
sein wollen und prompt seine eignen Aspirationen im allgemeinen und im be¬
sondern entsprechend verstärkt.

Wie man sieht, handelt solchermaßen keine Macht gegen den solus puo
und im besondern gegen die Integrität und Souveränität der Türkei; ja man
darf auch nicht einmal an der Aufrichtigkeit irgendeiner Macht zweifeln, wenn
sie ihr wärmstes Interesse an der Aufrechterhaltung des status <zuo bekundet.
Es ist nur das überwältigende humanitäre Ideal und daneben die emanzipa-
torische Kraft der Balkanvölkerschaften und die Unsicherheit der ganzen
türkischen Verhältnisse im Falle des Ablebens des vermeintlich sehr kranken
regierenden Sultans, was einigen Mächten immer von neuem die Sorge auf¬
nötigt, wie es auf dem Balkan eingerichtet werden müsse, wenn der 8eg.of <zuo
absolut nicht mehr zu erhalten sein sollte. Und siehe da, die Gedanken
der Mächte begegnen sich mit denen der nationalistischen Banden, und der
italienische Minister Tittoni hat, unter Hinweis auf die Übereinstimmung mit
Österreich und ohne Hinweis auf die unzweifelhafte Übereinstimmung mit
England wie mit Rußland und Frankreich, am 18. Dezember 1906 öffentlich
bekannt, daß die "politische Autonomie der Balkanhalbinsel auf der Basis des
Prinzips der Nationalität" den Ersatz für den solus ano zu bilde" habe.
Hierauf -- und nicht bloß und nicht einmal in der Hauptsache auf die maze¬
donische Justizreform, die weder eine komplizierte noch für die Diplomatie der
Großmächte delikate noch radikal neuernde Maßnahme ist, wenngleich sie den
nächsten Akt des europäischen Eingreifens bildet -- bezieht sich die mysteriöse
Äußerung in dem Bulletin über die Begegnung des österreichischen und des
italienischen Ministers in Desio, daß die Grundlage ihres Einvernehmens nach
wie vor das Prinzip des Gleichgewichts und der Aufrechterhaltung des swws
<zuo sei; und daß sich dieses Einvernehmen nicht nur auf die Gegenwart,
sondern auch auf alle Möglichkeiten der Zukunft beziehe. Die Logik dieser
unlogischen Äußerung, die durch das Bulletin der nach etlichen österreichisch-


Der Stand des Balkanproblems

der Gendarmeriedistrikte nicht umsonst soviel Gewicht gelegt worden, die Be¬
mühungen um deutsche und italienische Schulen, um deutsche und italienische
Kirchen — die Italiener haben infolge der patriotischen Gesinnung des Papstes
durch kirchliche Einrichtungen viel an Prestige und vielseitig effektiven Einfluß
gewinnen können —, um deutsche und italienische Finanz- und Verkehrsanstalten
haben ihren unmittelbaren und vornehmlich ihren politischen Zweck. Es ver¬
dient beachtet zu werden, daß Italien in den letzten Jahren auf dem balka¬
nischen und im besondern auf dem albanischen Felde sehr bedeutende Fort¬
schritte gemacht hat und an vielen Stellen nicht mehr weit davon entfernt ist,
Österreich, das doch sehr viel früher auf dem Plane gewesen ist, an Geltung
zu übertreffen. Im östlichen Mazedonien ist ein ähnliches Spiel zwischen
Österreich und Nußland erst neuerdings infolge der Schwächung der Energie
Rußlands unterbrochen worden. Und da hierbei Österreich ein vorzügliches
Geschäft gemacht hat, so hat Italien an Österreichs Freude nicht teilnahmlos
sein wollen und prompt seine eignen Aspirationen im allgemeinen und im be¬
sondern entsprechend verstärkt.

Wie man sieht, handelt solchermaßen keine Macht gegen den solus puo
und im besondern gegen die Integrität und Souveränität der Türkei; ja man
darf auch nicht einmal an der Aufrichtigkeit irgendeiner Macht zweifeln, wenn
sie ihr wärmstes Interesse an der Aufrechterhaltung des status <zuo bekundet.
Es ist nur das überwältigende humanitäre Ideal und daneben die emanzipa-
torische Kraft der Balkanvölkerschaften und die Unsicherheit der ganzen
türkischen Verhältnisse im Falle des Ablebens des vermeintlich sehr kranken
regierenden Sultans, was einigen Mächten immer von neuem die Sorge auf¬
nötigt, wie es auf dem Balkan eingerichtet werden müsse, wenn der 8eg.of <zuo
absolut nicht mehr zu erhalten sein sollte. Und siehe da, die Gedanken
der Mächte begegnen sich mit denen der nationalistischen Banden, und der
italienische Minister Tittoni hat, unter Hinweis auf die Übereinstimmung mit
Österreich und ohne Hinweis auf die unzweifelhafte Übereinstimmung mit
England wie mit Rußland und Frankreich, am 18. Dezember 1906 öffentlich
bekannt, daß die „politische Autonomie der Balkanhalbinsel auf der Basis des
Prinzips der Nationalität" den Ersatz für den solus ano zu bilde» habe.
Hierauf — und nicht bloß und nicht einmal in der Hauptsache auf die maze¬
donische Justizreform, die weder eine komplizierte noch für die Diplomatie der
Großmächte delikate noch radikal neuernde Maßnahme ist, wenngleich sie den
nächsten Akt des europäischen Eingreifens bildet — bezieht sich die mysteriöse
Äußerung in dem Bulletin über die Begegnung des österreichischen und des
italienischen Ministers in Desio, daß die Grundlage ihres Einvernehmens nach
wie vor das Prinzip des Gleichgewichts und der Aufrechterhaltung des swws
<zuo sei; und daß sich dieses Einvernehmen nicht nur auf die Gegenwart,
sondern auch auf alle Möglichkeiten der Zukunft beziehe. Die Logik dieser
unlogischen Äußerung, die durch das Bulletin der nach etlichen österreichisch-


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[0072] Der Stand des Balkanproblems der Gendarmeriedistrikte nicht umsonst soviel Gewicht gelegt worden, die Be¬ mühungen um deutsche und italienische Schulen, um deutsche und italienische Kirchen — die Italiener haben infolge der patriotischen Gesinnung des Papstes durch kirchliche Einrichtungen viel an Prestige und vielseitig effektiven Einfluß gewinnen können —, um deutsche und italienische Finanz- und Verkehrsanstalten haben ihren unmittelbaren und vornehmlich ihren politischen Zweck. Es ver¬ dient beachtet zu werden, daß Italien in den letzten Jahren auf dem balka¬ nischen und im besondern auf dem albanischen Felde sehr bedeutende Fort¬ schritte gemacht hat und an vielen Stellen nicht mehr weit davon entfernt ist, Österreich, das doch sehr viel früher auf dem Plane gewesen ist, an Geltung zu übertreffen. Im östlichen Mazedonien ist ein ähnliches Spiel zwischen Österreich und Nußland erst neuerdings infolge der Schwächung der Energie Rußlands unterbrochen worden. Und da hierbei Österreich ein vorzügliches Geschäft gemacht hat, so hat Italien an Österreichs Freude nicht teilnahmlos sein wollen und prompt seine eignen Aspirationen im allgemeinen und im be¬ sondern entsprechend verstärkt. Wie man sieht, handelt solchermaßen keine Macht gegen den solus puo und im besondern gegen die Integrität und Souveränität der Türkei; ja man darf auch nicht einmal an der Aufrichtigkeit irgendeiner Macht zweifeln, wenn sie ihr wärmstes Interesse an der Aufrechterhaltung des status <zuo bekundet. Es ist nur das überwältigende humanitäre Ideal und daneben die emanzipa- torische Kraft der Balkanvölkerschaften und die Unsicherheit der ganzen türkischen Verhältnisse im Falle des Ablebens des vermeintlich sehr kranken regierenden Sultans, was einigen Mächten immer von neuem die Sorge auf¬ nötigt, wie es auf dem Balkan eingerichtet werden müsse, wenn der 8eg.of <zuo absolut nicht mehr zu erhalten sein sollte. Und siehe da, die Gedanken der Mächte begegnen sich mit denen der nationalistischen Banden, und der italienische Minister Tittoni hat, unter Hinweis auf die Übereinstimmung mit Österreich und ohne Hinweis auf die unzweifelhafte Übereinstimmung mit England wie mit Rußland und Frankreich, am 18. Dezember 1906 öffentlich bekannt, daß die „politische Autonomie der Balkanhalbinsel auf der Basis des Prinzips der Nationalität" den Ersatz für den solus ano zu bilde» habe. Hierauf — und nicht bloß und nicht einmal in der Hauptsache auf die maze¬ donische Justizreform, die weder eine komplizierte noch für die Diplomatie der Großmächte delikate noch radikal neuernde Maßnahme ist, wenngleich sie den nächsten Akt des europäischen Eingreifens bildet — bezieht sich die mysteriöse Äußerung in dem Bulletin über die Begegnung des österreichischen und des italienischen Ministers in Desio, daß die Grundlage ihres Einvernehmens nach wie vor das Prinzip des Gleichgewichts und der Aufrechterhaltung des swws <zuo sei; und daß sich dieses Einvernehmen nicht nur auf die Gegenwart, sondern auch auf alle Möglichkeiten der Zukunft beziehe. Die Logik dieser unlogischen Äußerung, die durch das Bulletin der nach etlichen österreichisch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/72>, abgerufen am 25.08.2024.