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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Der Stand des Balkanproblems

ganz oder zum großen Teil überwunden sein könnte. Man wird zugeben
dürfen, daß in manchen Fällen Gutes gewirkt und Schlechtes verhütet
worden ist, wird vielleicht auch zugeben dürfen, daß ohne das europäische
Eingreifen diese einzelnen Fälle eine sehr viel weniger erfreuliche Wendung
genommen hätten, wird aber im übrigen der Skepsis nicht gebieten können.
Denn die Greueltaten von Banden werden heute noch ebenso häufig und
ebenso entsetzlich getan wie vor 1902. Ja die Muselmanen, denen man mit
und ohne gleichzeitige Anklage der Hohen Pforte die meiste Schuld aufzuladen
Pflegte, geben hente zu verhältnismäßig recht geringfügigen Beanstandungen
Anlaß, während gerade die so bemitleideten und versorgten christlichen Bewohner
Mazedoniens einen über die Maßen heftigen und grausamen Kampf gegen¬
einander führen. Der Sinn dieses Kampfes, der Sinn der Morde, Feuers¬
brünste, Räubereien, die bewaffnete Banden sich leisten dürfen, ist keineswegs
ein religiöser, sondern ein rationalistischer. nationalistischen Agitationen haben
die Großmächte im Jahre 1902 begonnen, einen zwar nicht gewollten, aber
durch die gleichzeitige Minderung der Autorität des Sultans und durch die
Einfügung ihrer aufeinander eifersüchtigen und eigennützig konkurrierenden Be¬
strebungen sehr wirksamen Beistand zu leisten.

Was es mit diesen eigennützig konkurrierenden Bestrebungen der Gro߬
mächte auf sich hat, steht nicht in den offiziellen Akten des Verkehrs der
diplomatischen Kanzleien. Daß sie vorhanden sind, ist schon in den vorauf¬
gehenden Darlegungen mehrmals betont worden. Es handelt sich nicht darum,
daß die eine und die andre Großmacht ein Territorium auf dem Balkan für
sich zu Eigentum möchten; es handelt sich auch uicht einmal um eine "eigent¬
liche" politische Vorherrschaft, die die eine und die andre begehren. Österreich-
Ungarn hat Bosnien und Herzegowina schon fest und unumstritten; wegen
Albanien haben sich Österreich und Italien dahin geeinigt, es auf keinen Fall
zu besetzen; Nußland ist nach dem japanischen Kriege froh, wenn es ohne
Abenteuer und ohne bedenklichen Zuwachs mit sich fertig werden kann. Was
aber die politische Vorherrschaft betrifft, die von einer Großmacht in einem
Bezirke Rumeliens auszuüben wäre, so ließe sie sich voll nur erreichen durch
militärische Besetzung, wie sie eben nicht in Frage kommt; sonst ist sie nur
auf dem langsamen Wege der wirtschaftlichen und sozial- oder kulturpolitischen
Fortschritte zu erreichen und läßt viele Lücken. In Albanien wird dieser lang¬
same Weg zur politischen Vorherrschaft, wie auch immer man das bestreiten
und durch offizielle Erklärungen von äösmtvrssseineQt verschleiern möge, von
Österreich und von Italien begangen, und die Konkurrenten lassen kein Mittel
unversucht, um einen Vorsprung zu gewinnen; in diesem Sinne war es zum
Beispiel eine lehrreiche Erscheinung, daß einige Wochen nach dem Besuche des
Königs von Italien in Athen die griechische Post in Albanien den österreichischen
Anstalten weggenommen und den italienischen übergeben wurde. Auf die Be¬
zirke Usknb und Monastir ist von Österreich und Italien bei der Verteilung


Der Stand des Balkanproblems

ganz oder zum großen Teil überwunden sein könnte. Man wird zugeben
dürfen, daß in manchen Fällen Gutes gewirkt und Schlechtes verhütet
worden ist, wird vielleicht auch zugeben dürfen, daß ohne das europäische
Eingreifen diese einzelnen Fälle eine sehr viel weniger erfreuliche Wendung
genommen hätten, wird aber im übrigen der Skepsis nicht gebieten können.
Denn die Greueltaten von Banden werden heute noch ebenso häufig und
ebenso entsetzlich getan wie vor 1902. Ja die Muselmanen, denen man mit
und ohne gleichzeitige Anklage der Hohen Pforte die meiste Schuld aufzuladen
Pflegte, geben hente zu verhältnismäßig recht geringfügigen Beanstandungen
Anlaß, während gerade die so bemitleideten und versorgten christlichen Bewohner
Mazedoniens einen über die Maßen heftigen und grausamen Kampf gegen¬
einander führen. Der Sinn dieses Kampfes, der Sinn der Morde, Feuers¬
brünste, Räubereien, die bewaffnete Banden sich leisten dürfen, ist keineswegs
ein religiöser, sondern ein rationalistischer. nationalistischen Agitationen haben
die Großmächte im Jahre 1902 begonnen, einen zwar nicht gewollten, aber
durch die gleichzeitige Minderung der Autorität des Sultans und durch die
Einfügung ihrer aufeinander eifersüchtigen und eigennützig konkurrierenden Be¬
strebungen sehr wirksamen Beistand zu leisten.

Was es mit diesen eigennützig konkurrierenden Bestrebungen der Gro߬
mächte auf sich hat, steht nicht in den offiziellen Akten des Verkehrs der
diplomatischen Kanzleien. Daß sie vorhanden sind, ist schon in den vorauf¬
gehenden Darlegungen mehrmals betont worden. Es handelt sich nicht darum,
daß die eine und die andre Großmacht ein Territorium auf dem Balkan für
sich zu Eigentum möchten; es handelt sich auch uicht einmal um eine „eigent¬
liche" politische Vorherrschaft, die die eine und die andre begehren. Österreich-
Ungarn hat Bosnien und Herzegowina schon fest und unumstritten; wegen
Albanien haben sich Österreich und Italien dahin geeinigt, es auf keinen Fall
zu besetzen; Nußland ist nach dem japanischen Kriege froh, wenn es ohne
Abenteuer und ohne bedenklichen Zuwachs mit sich fertig werden kann. Was
aber die politische Vorherrschaft betrifft, die von einer Großmacht in einem
Bezirke Rumeliens auszuüben wäre, so ließe sie sich voll nur erreichen durch
militärische Besetzung, wie sie eben nicht in Frage kommt; sonst ist sie nur
auf dem langsamen Wege der wirtschaftlichen und sozial- oder kulturpolitischen
Fortschritte zu erreichen und läßt viele Lücken. In Albanien wird dieser lang¬
same Weg zur politischen Vorherrschaft, wie auch immer man das bestreiten
und durch offizielle Erklärungen von äösmtvrssseineQt verschleiern möge, von
Österreich und von Italien begangen, und die Konkurrenten lassen kein Mittel
unversucht, um einen Vorsprung zu gewinnen; in diesem Sinne war es zum
Beispiel eine lehrreiche Erscheinung, daß einige Wochen nach dem Besuche des
Königs von Italien in Athen die griechische Post in Albanien den österreichischen
Anstalten weggenommen und den italienischen übergeben wurde. Auf die Be¬
zirke Usknb und Monastir ist von Österreich und Italien bei der Verteilung


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[0071] Der Stand des Balkanproblems ganz oder zum großen Teil überwunden sein könnte. Man wird zugeben dürfen, daß in manchen Fällen Gutes gewirkt und Schlechtes verhütet worden ist, wird vielleicht auch zugeben dürfen, daß ohne das europäische Eingreifen diese einzelnen Fälle eine sehr viel weniger erfreuliche Wendung genommen hätten, wird aber im übrigen der Skepsis nicht gebieten können. Denn die Greueltaten von Banden werden heute noch ebenso häufig und ebenso entsetzlich getan wie vor 1902. Ja die Muselmanen, denen man mit und ohne gleichzeitige Anklage der Hohen Pforte die meiste Schuld aufzuladen Pflegte, geben hente zu verhältnismäßig recht geringfügigen Beanstandungen Anlaß, während gerade die so bemitleideten und versorgten christlichen Bewohner Mazedoniens einen über die Maßen heftigen und grausamen Kampf gegen¬ einander führen. Der Sinn dieses Kampfes, der Sinn der Morde, Feuers¬ brünste, Räubereien, die bewaffnete Banden sich leisten dürfen, ist keineswegs ein religiöser, sondern ein rationalistischer. nationalistischen Agitationen haben die Großmächte im Jahre 1902 begonnen, einen zwar nicht gewollten, aber durch die gleichzeitige Minderung der Autorität des Sultans und durch die Einfügung ihrer aufeinander eifersüchtigen und eigennützig konkurrierenden Be¬ strebungen sehr wirksamen Beistand zu leisten. Was es mit diesen eigennützig konkurrierenden Bestrebungen der Gro߬ mächte auf sich hat, steht nicht in den offiziellen Akten des Verkehrs der diplomatischen Kanzleien. Daß sie vorhanden sind, ist schon in den vorauf¬ gehenden Darlegungen mehrmals betont worden. Es handelt sich nicht darum, daß die eine und die andre Großmacht ein Territorium auf dem Balkan für sich zu Eigentum möchten; es handelt sich auch uicht einmal um eine „eigent¬ liche" politische Vorherrschaft, die die eine und die andre begehren. Österreich- Ungarn hat Bosnien und Herzegowina schon fest und unumstritten; wegen Albanien haben sich Österreich und Italien dahin geeinigt, es auf keinen Fall zu besetzen; Nußland ist nach dem japanischen Kriege froh, wenn es ohne Abenteuer und ohne bedenklichen Zuwachs mit sich fertig werden kann. Was aber die politische Vorherrschaft betrifft, die von einer Großmacht in einem Bezirke Rumeliens auszuüben wäre, so ließe sie sich voll nur erreichen durch militärische Besetzung, wie sie eben nicht in Frage kommt; sonst ist sie nur auf dem langsamen Wege der wirtschaftlichen und sozial- oder kulturpolitischen Fortschritte zu erreichen und läßt viele Lücken. In Albanien wird dieser lang¬ same Weg zur politischen Vorherrschaft, wie auch immer man das bestreiten und durch offizielle Erklärungen von äösmtvrssseineQt verschleiern möge, von Österreich und von Italien begangen, und die Konkurrenten lassen kein Mittel unversucht, um einen Vorsprung zu gewinnen; in diesem Sinne war es zum Beispiel eine lehrreiche Erscheinung, daß einige Wochen nach dem Besuche des Königs von Italien in Athen die griechische Post in Albanien den österreichischen Anstalten weggenommen und den italienischen übergeben wurde. Auf die Be¬ zirke Usknb und Monastir ist von Österreich und Italien bei der Verteilung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/71>, abgerufen am 25.08.2024.