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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Die richterliche Individualität und die Uollegialgerichte

von Abweisungsgründen erblickt, oder der in dem Augenzwinkern der Partei
ihre UnWahrhaftigkeit erkennen zu können glaubt, und Behauptungen, die ihm
unwahrscheinlich klingen, sofort als unglaubwürdig und unerweisbar behandelt,
wird an der Richtigkeit dieser seiner Anschauung und Amtsführung schnell irre
werden, wenn bei der Beratung die andern Mitglieder des Kollegiums einer
solchen Anschauung entgegentreten und die Ansicht betätigen, daß auch zweifel¬
hafte Ansprüche, also solche, die nur möglichenfalls begründet sind, des Rechts¬
schutzes würdig seien, und daß dem Ansehn der Rechtspflege nichts so sehr schade,
als der Verdacht der Parteien, der Richter wolle sich durch die Zurückweisung
eines Antrags nur das Leben erleichtern; sowie daß ferner die freie Beweis¬
würdigung, die das Gesetz dem Richter einräumt, nicht in Willkür ausarten
dürfe, und daß die vermeintliche Fähigkeit des Richters, jeder Sache etwas
"ansehen" zu können, auf Selbsttäuschung beruht. Und weiter wird ein Richter,
dessen juristisches Wissen ebensoviel zu wünschen übrig läßt wie sein Streben,
es zu vervollkommnen, sich diesem Streben dennoch schwerlich entziehn können,
wenn er sich bei den Beratungen im Kollegium über Rechtsfragen, in denen
er als Berichterstatter eingehend unterrichtet sein müßte, als mangelhaft unter¬
richtet erweist; und da praktische und theoretische Kenntnisse jedes einzelnen
Mitgliedes durch die Beratungen im Kollegium Gemeingut der andern Mit¬
glieder werden, wird auch ein Richter von nur mäßigem Wissensdrang aus
solchen Beratungen Anlaß zur Vertiefung seiner Kenntnisse nehmen. So wird
sich auch die Ausübung des richterlichen Ermessens, dem ja in unsrer Zivil¬
prozeßordnung ein so weiter Spielraum eingeräumt ist, bei Richtern, die
kollegialgerichtlich arbeiten, als eine dem Interesse der Rechtspflege förderliche
gestalten. Überaus zahlreiche Vorschriften der Zivilprozeßordnung beginnen mit
den verheißungsvoller Worten: "Das Gericht kann"; damit ist natürlich nicht
gemeint, daß das Gericht nach Willkür und Belieben eine Befugnis ausüben
dürfe, sondern daß es sie auszuüben habe unter verständiger Würdigung der
Umstände des Falls. Es gibt Richter, die dazu neigen, den Prozeß stückweise
zu erledigen, also nicht den gesamten Streitstoff auf einmal, sondern -- was
das Gesetz ja als zulässig bezeichnet -- in jedem Termin nur einen oder einzelne
Ansprüche oder Einwendungen zum Gegenstande der Verhandlung und Beweis¬
aufnahme zu machen; wieder andre Richter neigen dazu, jede Beweisaufnahme,
auch wo dies durch das fiskalische Interesse gar nicht geboten ist, von Kosten¬
vorschüssen abhängig zu machen, oder auch den Parteien die Beibringung von
Beweismitteln aufzugeben, wo das Gericht selbsttätig durch bloße Einsichtnahme
seiner Akten, vielleicht durch bloßes Nachschlagen im Adreßkalender, alles Not¬
wendige ersehn kann. Auch hier handelt es sich nicht etwa um Pflichtwidrig¬
keiten, sondern nur um eine Amtsführung, die dem Interesse der Rechtspflege
und der einzelnen Rechtsuchenden widerspricht; und nichts ist geeigneter, den
einzelnen Richter auf eine sachgemäße und der Rechtspflege förderliche Amts¬
übung hinzuweisen, als die kollegialische Bearbeitung und Beratung, da die


Grenzboten IV 1907 89
Die richterliche Individualität und die Uollegialgerichte

von Abweisungsgründen erblickt, oder der in dem Augenzwinkern der Partei
ihre UnWahrhaftigkeit erkennen zu können glaubt, und Behauptungen, die ihm
unwahrscheinlich klingen, sofort als unglaubwürdig und unerweisbar behandelt,
wird an der Richtigkeit dieser seiner Anschauung und Amtsführung schnell irre
werden, wenn bei der Beratung die andern Mitglieder des Kollegiums einer
solchen Anschauung entgegentreten und die Ansicht betätigen, daß auch zweifel¬
hafte Ansprüche, also solche, die nur möglichenfalls begründet sind, des Rechts¬
schutzes würdig seien, und daß dem Ansehn der Rechtspflege nichts so sehr schade,
als der Verdacht der Parteien, der Richter wolle sich durch die Zurückweisung
eines Antrags nur das Leben erleichtern; sowie daß ferner die freie Beweis¬
würdigung, die das Gesetz dem Richter einräumt, nicht in Willkür ausarten
dürfe, und daß die vermeintliche Fähigkeit des Richters, jeder Sache etwas
„ansehen" zu können, auf Selbsttäuschung beruht. Und weiter wird ein Richter,
dessen juristisches Wissen ebensoviel zu wünschen übrig läßt wie sein Streben,
es zu vervollkommnen, sich diesem Streben dennoch schwerlich entziehn können,
wenn er sich bei den Beratungen im Kollegium über Rechtsfragen, in denen
er als Berichterstatter eingehend unterrichtet sein müßte, als mangelhaft unter¬
richtet erweist; und da praktische und theoretische Kenntnisse jedes einzelnen
Mitgliedes durch die Beratungen im Kollegium Gemeingut der andern Mit¬
glieder werden, wird auch ein Richter von nur mäßigem Wissensdrang aus
solchen Beratungen Anlaß zur Vertiefung seiner Kenntnisse nehmen. So wird
sich auch die Ausübung des richterlichen Ermessens, dem ja in unsrer Zivil¬
prozeßordnung ein so weiter Spielraum eingeräumt ist, bei Richtern, die
kollegialgerichtlich arbeiten, als eine dem Interesse der Rechtspflege förderliche
gestalten. Überaus zahlreiche Vorschriften der Zivilprozeßordnung beginnen mit
den verheißungsvoller Worten: „Das Gericht kann"; damit ist natürlich nicht
gemeint, daß das Gericht nach Willkür und Belieben eine Befugnis ausüben
dürfe, sondern daß es sie auszuüben habe unter verständiger Würdigung der
Umstände des Falls. Es gibt Richter, die dazu neigen, den Prozeß stückweise
zu erledigen, also nicht den gesamten Streitstoff auf einmal, sondern — was
das Gesetz ja als zulässig bezeichnet — in jedem Termin nur einen oder einzelne
Ansprüche oder Einwendungen zum Gegenstande der Verhandlung und Beweis¬
aufnahme zu machen; wieder andre Richter neigen dazu, jede Beweisaufnahme,
auch wo dies durch das fiskalische Interesse gar nicht geboten ist, von Kosten¬
vorschüssen abhängig zu machen, oder auch den Parteien die Beibringung von
Beweismitteln aufzugeben, wo das Gericht selbsttätig durch bloße Einsichtnahme
seiner Akten, vielleicht durch bloßes Nachschlagen im Adreßkalender, alles Not¬
wendige ersehn kann. Auch hier handelt es sich nicht etwa um Pflichtwidrig¬
keiten, sondern nur um eine Amtsführung, die dem Interesse der Rechtspflege
und der einzelnen Rechtsuchenden widerspricht; und nichts ist geeigneter, den
einzelnen Richter auf eine sachgemäße und der Rechtspflege förderliche Amts¬
übung hinzuweisen, als die kollegialische Bearbeitung und Beratung, da die


Grenzboten IV 1907 89
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/689>, abgerufen am 01.10.2024.