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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Die richterliche Individualität und die Rollegialgerichte

von allen Beamten ist der Universitätsprofessor; man sagt scherzhaft von ihm:
I>rotß88or est le^ivus solutus. Aber seine Amtsführung, die jeder Einwirkung
einer Aufsichtsbehörde entzogen ist, wird beeinflußt durch die Rücksicht auf
die -- Studenten; findet bei diesen die Lehrweise oder auch nur die Umgangs¬
weise des Professors keinen Beifall, so findet der Professor -- leere Bänke.

Ganz eigenartig ist in dieser Beziehung die Stellung des Richters. Kein
Amt gestattet die Entfaltung der Individualität in so hohem Maße wie das
Amt des Richters, und andrerseits ist die Amtsführung des Richters nach Gesetz
und Verfassung jeder Einwirkung der Dienstaufsichtsbehörde entzogen, weil die
Unabhängigkeit der Rechtspflege der Eckstein des gesamten Staatswesens ist.
Daß sich bei solcher Gestaltung der Dinge, auch die größte Pflichttreue und
Begabung des Richters vorausgesetzt, leicht Mißstände entwickeln können, liegt
auf der Hand und ist in der UnVollkommenheit aller menschlichen Verhältnisse
begründet. Zur Klarstellung des hier Gemeinten seien einige kennzeichnende
Äußerungen von Sachkennern wiedergegeben. Bei der Beratung eines preußischen
Gesetzes erwähnte ein hervorragender hoher Justizbeamter im Landtage: Es gebe
Richter, die irgendwie zweifelhafte Anträge grundsätzlich zurückweisen und
sich stets durch das Beschwerdegericht erst zu Eintragungen anweisen lassen,
aus Furcht, bei unrichtiger Entscheidung dem Schadensersatzanspruch der Be¬
teiligten ausgesetzt zu sein. Stölzel, der berühmte Verfasser der "Schulung für
die zivilistische Praxis" und langjährige Präsident der höchsten preußischen
Prüfungsbehörde, erzählt von einem Richter, der den Standpunkt hat: "Ich sehe
mir jetzt nach Einführung der Zivilprozeßordnung den Beklagten nur an; leugnet
er und zwinkert er dabei mit den Augen, so glaube ich ihm nicht, und er
wird verurteilt." Der hervorragende Wiener Hofgerichtsadvokat Ofner beklagt
sich über die Neigung so mancher Richter, die die Blüte richterlicher Tätigkeit
in der Auffindung von Abweisungsgründen finden. "Mehrere Abweisungsgründe
werden fein säuberlich nacheinander aufgewandt, und man sonnt sich in dem
Vollgefühl des eignen Scharfsinns und vergißt oder hat niemals begriffen, daß
man hiermit wohlerworbne Rechte, Lohn für ehrliche Arbeit vorenthält." Der
Berliner Professor Dicket berichtet von einem Amtsrichter, der einen Zivilprozeß
vorfand, in dem zahlreiche Termine vor dem frühern Amtsrichter stattgefunden
hatten, ohne daß die Sache vorwärts gekommen war. Nun fand dieser neue
Richter, daß die Klage nicht genügend substantiiert ist, die Beseitigung des
Mangels würde wieder einen neuen Termin notwendig machen; um aber der
nochmaligen Vertagung zu entgehn und die Sache endlich zu Ende zu bringen,
weist dieser Richter die Klage sofort ab.

Diese wenigen Beispiele sprechen mehr als lange Ausführungen. Es handelt
sich in keinem der geschilderten Fälle um Pflichtverletzungen des Richters;
vielmehr ist überall nur eine Amtsführung betätigt, die objektiv betrachtet dem
wahren Interesse der Rechtspflege durchaus widerspricht. Aber der Richter
empfindet dies keineswegs, er hält seine Amtsführung vielmehr nach seiner


Die richterliche Individualität und die Rollegialgerichte

von allen Beamten ist der Universitätsprofessor; man sagt scherzhaft von ihm:
I>rotß88or est le^ivus solutus. Aber seine Amtsführung, die jeder Einwirkung
einer Aufsichtsbehörde entzogen ist, wird beeinflußt durch die Rücksicht auf
die — Studenten; findet bei diesen die Lehrweise oder auch nur die Umgangs¬
weise des Professors keinen Beifall, so findet der Professor — leere Bänke.

Ganz eigenartig ist in dieser Beziehung die Stellung des Richters. Kein
Amt gestattet die Entfaltung der Individualität in so hohem Maße wie das
Amt des Richters, und andrerseits ist die Amtsführung des Richters nach Gesetz
und Verfassung jeder Einwirkung der Dienstaufsichtsbehörde entzogen, weil die
Unabhängigkeit der Rechtspflege der Eckstein des gesamten Staatswesens ist.
Daß sich bei solcher Gestaltung der Dinge, auch die größte Pflichttreue und
Begabung des Richters vorausgesetzt, leicht Mißstände entwickeln können, liegt
auf der Hand und ist in der UnVollkommenheit aller menschlichen Verhältnisse
begründet. Zur Klarstellung des hier Gemeinten seien einige kennzeichnende
Äußerungen von Sachkennern wiedergegeben. Bei der Beratung eines preußischen
Gesetzes erwähnte ein hervorragender hoher Justizbeamter im Landtage: Es gebe
Richter, die irgendwie zweifelhafte Anträge grundsätzlich zurückweisen und
sich stets durch das Beschwerdegericht erst zu Eintragungen anweisen lassen,
aus Furcht, bei unrichtiger Entscheidung dem Schadensersatzanspruch der Be¬
teiligten ausgesetzt zu sein. Stölzel, der berühmte Verfasser der „Schulung für
die zivilistische Praxis" und langjährige Präsident der höchsten preußischen
Prüfungsbehörde, erzählt von einem Richter, der den Standpunkt hat: „Ich sehe
mir jetzt nach Einführung der Zivilprozeßordnung den Beklagten nur an; leugnet
er und zwinkert er dabei mit den Augen, so glaube ich ihm nicht, und er
wird verurteilt." Der hervorragende Wiener Hofgerichtsadvokat Ofner beklagt
sich über die Neigung so mancher Richter, die die Blüte richterlicher Tätigkeit
in der Auffindung von Abweisungsgründen finden. „Mehrere Abweisungsgründe
werden fein säuberlich nacheinander aufgewandt, und man sonnt sich in dem
Vollgefühl des eignen Scharfsinns und vergißt oder hat niemals begriffen, daß
man hiermit wohlerworbne Rechte, Lohn für ehrliche Arbeit vorenthält." Der
Berliner Professor Dicket berichtet von einem Amtsrichter, der einen Zivilprozeß
vorfand, in dem zahlreiche Termine vor dem frühern Amtsrichter stattgefunden
hatten, ohne daß die Sache vorwärts gekommen war. Nun fand dieser neue
Richter, daß die Klage nicht genügend substantiiert ist, die Beseitigung des
Mangels würde wieder einen neuen Termin notwendig machen; um aber der
nochmaligen Vertagung zu entgehn und die Sache endlich zu Ende zu bringen,
weist dieser Richter die Klage sofort ab.

Diese wenigen Beispiele sprechen mehr als lange Ausführungen. Es handelt
sich in keinem der geschilderten Fälle um Pflichtverletzungen des Richters;
vielmehr ist überall nur eine Amtsführung betätigt, die objektiv betrachtet dem
wahren Interesse der Rechtspflege durchaus widerspricht. Aber der Richter
empfindet dies keineswegs, er hält seine Amtsführung vielmehr nach seiner


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[0686] Die richterliche Individualität und die Rollegialgerichte von allen Beamten ist der Universitätsprofessor; man sagt scherzhaft von ihm: I>rotß88or est le^ivus solutus. Aber seine Amtsführung, die jeder Einwirkung einer Aufsichtsbehörde entzogen ist, wird beeinflußt durch die Rücksicht auf die — Studenten; findet bei diesen die Lehrweise oder auch nur die Umgangs¬ weise des Professors keinen Beifall, so findet der Professor — leere Bänke. Ganz eigenartig ist in dieser Beziehung die Stellung des Richters. Kein Amt gestattet die Entfaltung der Individualität in so hohem Maße wie das Amt des Richters, und andrerseits ist die Amtsführung des Richters nach Gesetz und Verfassung jeder Einwirkung der Dienstaufsichtsbehörde entzogen, weil die Unabhängigkeit der Rechtspflege der Eckstein des gesamten Staatswesens ist. Daß sich bei solcher Gestaltung der Dinge, auch die größte Pflichttreue und Begabung des Richters vorausgesetzt, leicht Mißstände entwickeln können, liegt auf der Hand und ist in der UnVollkommenheit aller menschlichen Verhältnisse begründet. Zur Klarstellung des hier Gemeinten seien einige kennzeichnende Äußerungen von Sachkennern wiedergegeben. Bei der Beratung eines preußischen Gesetzes erwähnte ein hervorragender hoher Justizbeamter im Landtage: Es gebe Richter, die irgendwie zweifelhafte Anträge grundsätzlich zurückweisen und sich stets durch das Beschwerdegericht erst zu Eintragungen anweisen lassen, aus Furcht, bei unrichtiger Entscheidung dem Schadensersatzanspruch der Be¬ teiligten ausgesetzt zu sein. Stölzel, der berühmte Verfasser der „Schulung für die zivilistische Praxis" und langjährige Präsident der höchsten preußischen Prüfungsbehörde, erzählt von einem Richter, der den Standpunkt hat: „Ich sehe mir jetzt nach Einführung der Zivilprozeßordnung den Beklagten nur an; leugnet er und zwinkert er dabei mit den Augen, so glaube ich ihm nicht, und er wird verurteilt." Der hervorragende Wiener Hofgerichtsadvokat Ofner beklagt sich über die Neigung so mancher Richter, die die Blüte richterlicher Tätigkeit in der Auffindung von Abweisungsgründen finden. „Mehrere Abweisungsgründe werden fein säuberlich nacheinander aufgewandt, und man sonnt sich in dem Vollgefühl des eignen Scharfsinns und vergißt oder hat niemals begriffen, daß man hiermit wohlerworbne Rechte, Lohn für ehrliche Arbeit vorenthält." Der Berliner Professor Dicket berichtet von einem Amtsrichter, der einen Zivilprozeß vorfand, in dem zahlreiche Termine vor dem frühern Amtsrichter stattgefunden hatten, ohne daß die Sache vorwärts gekommen war. Nun fand dieser neue Richter, daß die Klage nicht genügend substantiiert ist, die Beseitigung des Mangels würde wieder einen neuen Termin notwendig machen; um aber der nochmaligen Vertagung zu entgehn und die Sache endlich zu Ende zu bringen, weist dieser Richter die Klage sofort ab. Diese wenigen Beispiele sprechen mehr als lange Ausführungen. Es handelt sich in keinem der geschilderten Fälle um Pflichtverletzungen des Richters; vielmehr ist überall nur eine Amtsführung betätigt, die objektiv betrachtet dem wahren Interesse der Rechtspflege durchaus widerspricht. Aber der Richter empfindet dies keineswegs, er hält seine Amtsführung vielmehr nach seiner

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/686>, abgerufen am 23.07.2024.