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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Die richterliche Individualität und die Aollegialgerichte

für den reichen Mann oft sehr wenig ausmacht, für den Minderbemittelten
oder gar Unbemittelten häufig ein ganzes Vermögen darstelle, und daß gerade
diese Klassen der Bevölkerung doch ebenfalls den Anspruch darauf hätten, daß
ihre Rechtsstreitigkeiten schon in der ersten Instanz der Rechtsprechung eines
Kollegiums unterbreitet würden. Der berühmte bayrische Jurist von Kreittmayer
bemerkte mit Bezug auf vorstehende Frage einmal zutreffend, dem Dorfhund
sei sein Fell ebenso lieb wie dem Elefanten.

Bei der Fülle von Tinte, die auf die Erörterung dieser Frage schon
verspritzt worden ist, ist ein näheres Eingehen auf die von beiden Seiten
vorgebrachten Gründe und Gegengründe überflüssig, die oben zum Teil nur
kurz angedeutet werden konnten. Vielmehr soll hier nur darauf hingewiesen
werden, daß man bei den bisherigen Erörterungen -- fast scheint es geflissent¬
lich -- einer Erwägung aus dem Wege gegangen ist, die für sich allein die
Unmöglichkeit einer Erhöhung der amtsgerichtlichen Zuständigkeit klarlegt.

Man bezeichnet zahlreiche Mißstände unsrer Zeit als Erzeugnisse der be¬
stehenden gesellschaftlichen und geselligen Zustände, so besonders das Verbrecher¬
tum, die gewerbsmäßige Unzucht, den Zweikampf. In gleicher Weise ist auch
die Anschauungsweise und Lebensführung des einzelnen Menschen ein Erzeugnis
der Umstände, unter denen er lebt. Der feiste "Bourgeois", der feine Aristokrat,
die mit allen gesetzlichen und ungesetzlichen Mitteln die Sozialdemokratie ver¬
nichten möchten, wären wahrscheinlich selbst Sozialdemokraten geworden, wenn
sie unter dem "ehernen Lohngesetz" geboren wären; und der Junggeselle, dessen
Schwächen und Fehler uns oft auffallen, wäre ein ganz andrer Mensch ge¬
worden, wenn er nicht "den Anschluß versäumt", das heißt den veredelnden
Einfluß einer geistig gleichstehenden Frau erfahren und gelernt Hütte, die
Rücksicht auf die eigne Person der auf die Familie unterzuordnen. Die Richtig¬
keit dieser Anschauung zeigt sich ganz besonders im Beamtenverhältnis: die
Art der Amtsführung ist oft genug der Ausfluß der Umstände, unter denen der
Beamte sein Amt versieht. Sogar die gleiche Pflichttreue und die gleiche Be¬
gabung vorausgesetzt, wird die Amtsführung dessen, der sein Amt abgeschlossen und
für sich allein versieht, allzu leicht eine andre sein als die Amtsführung dessen,
der sein Amt versieht im Beisein oder gar unter Mitwirkung von Berufs¬
genossen, vielleicht unter ständiger Aufsicht eines Vorgesetzten. Nun kann man
in der hier in Betracht kommenden Rücksicht die Beamten in verschiedne Klassen
einteilen. Bei einer großen Anzahl von Beamten, so bei den Unterbeamten
und recht vielen Subalternbeamten, wird nach "Schema Litera V" gearbeitet,
sodaß für eine Beendigung der Individualität des einzelnen Beamten wenig
Spielraum ist. Bei andern Beamten, wo das Individuelle sehr stark erscheinen
kann, wird seinen! zu scharfen Hervortreten vorgebeugt und auf eine gewisse
Einheitlichkeit der Amtsführung hingewirkt durch die ständige Dienstaufsicht des
Vorgesetzten, so bei Lehrern an höhern Unterrichtsanstalten, ferner bei der
Staatsanwaltschaft und bei vielen Verwaltungsbehörden. Der unabhängigste


Die richterliche Individualität und die Aollegialgerichte

für den reichen Mann oft sehr wenig ausmacht, für den Minderbemittelten
oder gar Unbemittelten häufig ein ganzes Vermögen darstelle, und daß gerade
diese Klassen der Bevölkerung doch ebenfalls den Anspruch darauf hätten, daß
ihre Rechtsstreitigkeiten schon in der ersten Instanz der Rechtsprechung eines
Kollegiums unterbreitet würden. Der berühmte bayrische Jurist von Kreittmayer
bemerkte mit Bezug auf vorstehende Frage einmal zutreffend, dem Dorfhund
sei sein Fell ebenso lieb wie dem Elefanten.

Bei der Fülle von Tinte, die auf die Erörterung dieser Frage schon
verspritzt worden ist, ist ein näheres Eingehen auf die von beiden Seiten
vorgebrachten Gründe und Gegengründe überflüssig, die oben zum Teil nur
kurz angedeutet werden konnten. Vielmehr soll hier nur darauf hingewiesen
werden, daß man bei den bisherigen Erörterungen — fast scheint es geflissent¬
lich — einer Erwägung aus dem Wege gegangen ist, die für sich allein die
Unmöglichkeit einer Erhöhung der amtsgerichtlichen Zuständigkeit klarlegt.

Man bezeichnet zahlreiche Mißstände unsrer Zeit als Erzeugnisse der be¬
stehenden gesellschaftlichen und geselligen Zustände, so besonders das Verbrecher¬
tum, die gewerbsmäßige Unzucht, den Zweikampf. In gleicher Weise ist auch
die Anschauungsweise und Lebensführung des einzelnen Menschen ein Erzeugnis
der Umstände, unter denen er lebt. Der feiste „Bourgeois", der feine Aristokrat,
die mit allen gesetzlichen und ungesetzlichen Mitteln die Sozialdemokratie ver¬
nichten möchten, wären wahrscheinlich selbst Sozialdemokraten geworden, wenn
sie unter dem „ehernen Lohngesetz" geboren wären; und der Junggeselle, dessen
Schwächen und Fehler uns oft auffallen, wäre ein ganz andrer Mensch ge¬
worden, wenn er nicht „den Anschluß versäumt", das heißt den veredelnden
Einfluß einer geistig gleichstehenden Frau erfahren und gelernt Hütte, die
Rücksicht auf die eigne Person der auf die Familie unterzuordnen. Die Richtig¬
keit dieser Anschauung zeigt sich ganz besonders im Beamtenverhältnis: die
Art der Amtsführung ist oft genug der Ausfluß der Umstände, unter denen der
Beamte sein Amt versieht. Sogar die gleiche Pflichttreue und die gleiche Be¬
gabung vorausgesetzt, wird die Amtsführung dessen, der sein Amt abgeschlossen und
für sich allein versieht, allzu leicht eine andre sein als die Amtsführung dessen,
der sein Amt versieht im Beisein oder gar unter Mitwirkung von Berufs¬
genossen, vielleicht unter ständiger Aufsicht eines Vorgesetzten. Nun kann man
in der hier in Betracht kommenden Rücksicht die Beamten in verschiedne Klassen
einteilen. Bei einer großen Anzahl von Beamten, so bei den Unterbeamten
und recht vielen Subalternbeamten, wird nach „Schema Litera V" gearbeitet,
sodaß für eine Beendigung der Individualität des einzelnen Beamten wenig
Spielraum ist. Bei andern Beamten, wo das Individuelle sehr stark erscheinen
kann, wird seinen! zu scharfen Hervortreten vorgebeugt und auf eine gewisse
Einheitlichkeit der Amtsführung hingewirkt durch die ständige Dienstaufsicht des
Vorgesetzten, so bei Lehrern an höhern Unterrichtsanstalten, ferner bei der
Staatsanwaltschaft und bei vielen Verwaltungsbehörden. Der unabhängigste


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[0685] Die richterliche Individualität und die Aollegialgerichte für den reichen Mann oft sehr wenig ausmacht, für den Minderbemittelten oder gar Unbemittelten häufig ein ganzes Vermögen darstelle, und daß gerade diese Klassen der Bevölkerung doch ebenfalls den Anspruch darauf hätten, daß ihre Rechtsstreitigkeiten schon in der ersten Instanz der Rechtsprechung eines Kollegiums unterbreitet würden. Der berühmte bayrische Jurist von Kreittmayer bemerkte mit Bezug auf vorstehende Frage einmal zutreffend, dem Dorfhund sei sein Fell ebenso lieb wie dem Elefanten. Bei der Fülle von Tinte, die auf die Erörterung dieser Frage schon verspritzt worden ist, ist ein näheres Eingehen auf die von beiden Seiten vorgebrachten Gründe und Gegengründe überflüssig, die oben zum Teil nur kurz angedeutet werden konnten. Vielmehr soll hier nur darauf hingewiesen werden, daß man bei den bisherigen Erörterungen — fast scheint es geflissent¬ lich — einer Erwägung aus dem Wege gegangen ist, die für sich allein die Unmöglichkeit einer Erhöhung der amtsgerichtlichen Zuständigkeit klarlegt. Man bezeichnet zahlreiche Mißstände unsrer Zeit als Erzeugnisse der be¬ stehenden gesellschaftlichen und geselligen Zustände, so besonders das Verbrecher¬ tum, die gewerbsmäßige Unzucht, den Zweikampf. In gleicher Weise ist auch die Anschauungsweise und Lebensführung des einzelnen Menschen ein Erzeugnis der Umstände, unter denen er lebt. Der feiste „Bourgeois", der feine Aristokrat, die mit allen gesetzlichen und ungesetzlichen Mitteln die Sozialdemokratie ver¬ nichten möchten, wären wahrscheinlich selbst Sozialdemokraten geworden, wenn sie unter dem „ehernen Lohngesetz" geboren wären; und der Junggeselle, dessen Schwächen und Fehler uns oft auffallen, wäre ein ganz andrer Mensch ge¬ worden, wenn er nicht „den Anschluß versäumt", das heißt den veredelnden Einfluß einer geistig gleichstehenden Frau erfahren und gelernt Hütte, die Rücksicht auf die eigne Person der auf die Familie unterzuordnen. Die Richtig¬ keit dieser Anschauung zeigt sich ganz besonders im Beamtenverhältnis: die Art der Amtsführung ist oft genug der Ausfluß der Umstände, unter denen der Beamte sein Amt versieht. Sogar die gleiche Pflichttreue und die gleiche Be¬ gabung vorausgesetzt, wird die Amtsführung dessen, der sein Amt abgeschlossen und für sich allein versieht, allzu leicht eine andre sein als die Amtsführung dessen, der sein Amt versieht im Beisein oder gar unter Mitwirkung von Berufs¬ genossen, vielleicht unter ständiger Aufsicht eines Vorgesetzten. Nun kann man in der hier in Betracht kommenden Rücksicht die Beamten in verschiedne Klassen einteilen. Bei einer großen Anzahl von Beamten, so bei den Unterbeamten und recht vielen Subalternbeamten, wird nach „Schema Litera V" gearbeitet, sodaß für eine Beendigung der Individualität des einzelnen Beamten wenig Spielraum ist. Bei andern Beamten, wo das Individuelle sehr stark erscheinen kann, wird seinen! zu scharfen Hervortreten vorgebeugt und auf eine gewisse Einheitlichkeit der Amtsführung hingewirkt durch die ständige Dienstaufsicht des Vorgesetzten, so bei Lehrern an höhern Unterrichtsanstalten, ferner bei der Staatsanwaltschaft und bei vielen Verwaltungsbehörden. Der unabhängigste

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/685>, abgerufen am 23.07.2024.