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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Österreichischer Neuliberalismus

das Personalprinzip vorzuziehn. Dr. Karl Renner hat dafür einen Plan aus¬
gearbeitet: mit Hilfe nationaler Kataster sollen nationale Genossenschaften ge¬
bildet werden. "Wie bunt die Völker auch zusammengewürfelt sein mögen, die
nationalen Kataster sondern sie, ohne sie vom Boden loszulösen." Den Deutschen
aber wird im Industriestaat nicht krankhafte Steigerung des Nationalitäts¬
bewußtseins, sondern ihre wirtschaftliche Überlegenheit die politische Führung
sichern. Allerdings müssen sie sich mit der Nation verständigen, die ihnen in
der wirtschaftlichen Tüchtigkeit am nächsten kommt, mit den Tschechen. Mit
Ungarn ist die Personalunion zu erstreben, da der Dualismus nicht mehr auf¬
recht erhalten werden kann. Im dritten Teile des Buches wird die auswärtige
Politik behandelt. Sie muß durchaus friedlich sein. Von weiteren Territorial¬
erwerb auf dem Balkan will der Verfasser schon darum nichts wissen, weil
dortige Provinzen nur dann vor Anarchie geschützt und zur Blüte gebracht
werden können, wenn man sie, wie es in Bosnien geschieht, absolutistisch regiert.
Das einzige, was Österreich auf dem Balkan und in Vorderasien zu erstreben
habe, sei die offne Tür für seine Jndustrieerzeugnisse, und darin falle sein Inter¬
esse mit dem von ganz Europa zusammen.

Nun, zur auswärtigen Politik gehören immer mindestens zwei und meistens
mehrere; ihr Gang wird nicht autonom von dem Staate bestimmt, der gerade
daran ist, einen Zug auf dem Schachbrette zu tun. Welcher Weg sodann am
sichersten zu der Schlichtung des Nationalitätenstreits und zu einem befriedigenden
Ausgleiche mit Ungarn führe, darüber erlauben wir uns kein Urteil. Dagegen
darf über die geforderte Jndustriepolitik wohl auch der Nichtösterreicher ein
Wörtlein wagen, weil sie keineswegs etwas spezifisch Österreichisches ist. In
einigen Punkten hat der Verfasser zweifellos Recht. Daß erst die blühende
Industrie die Landwirtschaft rentabel macht, wissen wir seit Friedrich Lift, und
daß nur die Industrie imstande ist, dem Bevölkerungsüberschuß Beschäftigung
zu gewähren, nachdem die Landwirtschaft ihren Sättigungsgrad erreicht hat, das
lehrt die Erfahrung der letzten Jahrzehnte. Die Grundforderung des Pro¬
gramms: mehr und vollkommnere Industrie, ist demnach eigentlich selbstver¬
ständlich. Aber ihre Erfüllung wird auf dem vom Verfasser vorgezeichneten
Wege nicht geringe Schwierigkeiten zu überwinden haben. Die Magnaten sind
immerhin noch eine Macht. Und dann: gewiß ist auch für Österreich innere
Kolonisation angezeigt, und jedenfalls muß dem Bauernlegen durch vornehme
Jagdliebhaber Einhalt getan werden. Aber der Verfasser führt selbst aus, wie
die Auflösung der Latifundien in Bauernwirtschaften den Körnerbau zurückdrängt
(das Bauerngut rentiert nur bei vorwiegender Milchwirtschaft, besonders wenn
Gemüse-, Zuckerrüben-, Obstbau und Geflügelzucht hinzukommen), daß dann die
Brotfrüchte für die industrielle Bevölkerung aus den Agrarländern eingeführt
werden müssen, und besonnene Staatsmänner werden sich fragen, ob man eine
ohnehin unaufhaltsame Entwicklung, deren Ergebnis den Engländern ernste
Besorgnis einflößt, gewaltsam beschleunigen solle. Was das Bündnis der Groß-


Österreichischer Neuliberalismus

das Personalprinzip vorzuziehn. Dr. Karl Renner hat dafür einen Plan aus¬
gearbeitet: mit Hilfe nationaler Kataster sollen nationale Genossenschaften ge¬
bildet werden. „Wie bunt die Völker auch zusammengewürfelt sein mögen, die
nationalen Kataster sondern sie, ohne sie vom Boden loszulösen." Den Deutschen
aber wird im Industriestaat nicht krankhafte Steigerung des Nationalitäts¬
bewußtseins, sondern ihre wirtschaftliche Überlegenheit die politische Führung
sichern. Allerdings müssen sie sich mit der Nation verständigen, die ihnen in
der wirtschaftlichen Tüchtigkeit am nächsten kommt, mit den Tschechen. Mit
Ungarn ist die Personalunion zu erstreben, da der Dualismus nicht mehr auf¬
recht erhalten werden kann. Im dritten Teile des Buches wird die auswärtige
Politik behandelt. Sie muß durchaus friedlich sein. Von weiteren Territorial¬
erwerb auf dem Balkan will der Verfasser schon darum nichts wissen, weil
dortige Provinzen nur dann vor Anarchie geschützt und zur Blüte gebracht
werden können, wenn man sie, wie es in Bosnien geschieht, absolutistisch regiert.
Das einzige, was Österreich auf dem Balkan und in Vorderasien zu erstreben
habe, sei die offne Tür für seine Jndustrieerzeugnisse, und darin falle sein Inter¬
esse mit dem von ganz Europa zusammen.

Nun, zur auswärtigen Politik gehören immer mindestens zwei und meistens
mehrere; ihr Gang wird nicht autonom von dem Staate bestimmt, der gerade
daran ist, einen Zug auf dem Schachbrette zu tun. Welcher Weg sodann am
sichersten zu der Schlichtung des Nationalitätenstreits und zu einem befriedigenden
Ausgleiche mit Ungarn führe, darüber erlauben wir uns kein Urteil. Dagegen
darf über die geforderte Jndustriepolitik wohl auch der Nichtösterreicher ein
Wörtlein wagen, weil sie keineswegs etwas spezifisch Österreichisches ist. In
einigen Punkten hat der Verfasser zweifellos Recht. Daß erst die blühende
Industrie die Landwirtschaft rentabel macht, wissen wir seit Friedrich Lift, und
daß nur die Industrie imstande ist, dem Bevölkerungsüberschuß Beschäftigung
zu gewähren, nachdem die Landwirtschaft ihren Sättigungsgrad erreicht hat, das
lehrt die Erfahrung der letzten Jahrzehnte. Die Grundforderung des Pro¬
gramms: mehr und vollkommnere Industrie, ist demnach eigentlich selbstver¬
ständlich. Aber ihre Erfüllung wird auf dem vom Verfasser vorgezeichneten
Wege nicht geringe Schwierigkeiten zu überwinden haben. Die Magnaten sind
immerhin noch eine Macht. Und dann: gewiß ist auch für Österreich innere
Kolonisation angezeigt, und jedenfalls muß dem Bauernlegen durch vornehme
Jagdliebhaber Einhalt getan werden. Aber der Verfasser führt selbst aus, wie
die Auflösung der Latifundien in Bauernwirtschaften den Körnerbau zurückdrängt
(das Bauerngut rentiert nur bei vorwiegender Milchwirtschaft, besonders wenn
Gemüse-, Zuckerrüben-, Obstbau und Geflügelzucht hinzukommen), daß dann die
Brotfrüchte für die industrielle Bevölkerung aus den Agrarländern eingeführt
werden müssen, und besonnene Staatsmänner werden sich fragen, ob man eine
ohnehin unaufhaltsame Entwicklung, deren Ergebnis den Engländern ernste
Besorgnis einflößt, gewaltsam beschleunigen solle. Was das Bündnis der Groß-


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[0631] Österreichischer Neuliberalismus das Personalprinzip vorzuziehn. Dr. Karl Renner hat dafür einen Plan aus¬ gearbeitet: mit Hilfe nationaler Kataster sollen nationale Genossenschaften ge¬ bildet werden. „Wie bunt die Völker auch zusammengewürfelt sein mögen, die nationalen Kataster sondern sie, ohne sie vom Boden loszulösen." Den Deutschen aber wird im Industriestaat nicht krankhafte Steigerung des Nationalitäts¬ bewußtseins, sondern ihre wirtschaftliche Überlegenheit die politische Führung sichern. Allerdings müssen sie sich mit der Nation verständigen, die ihnen in der wirtschaftlichen Tüchtigkeit am nächsten kommt, mit den Tschechen. Mit Ungarn ist die Personalunion zu erstreben, da der Dualismus nicht mehr auf¬ recht erhalten werden kann. Im dritten Teile des Buches wird die auswärtige Politik behandelt. Sie muß durchaus friedlich sein. Von weiteren Territorial¬ erwerb auf dem Balkan will der Verfasser schon darum nichts wissen, weil dortige Provinzen nur dann vor Anarchie geschützt und zur Blüte gebracht werden können, wenn man sie, wie es in Bosnien geschieht, absolutistisch regiert. Das einzige, was Österreich auf dem Balkan und in Vorderasien zu erstreben habe, sei die offne Tür für seine Jndustrieerzeugnisse, und darin falle sein Inter¬ esse mit dem von ganz Europa zusammen. Nun, zur auswärtigen Politik gehören immer mindestens zwei und meistens mehrere; ihr Gang wird nicht autonom von dem Staate bestimmt, der gerade daran ist, einen Zug auf dem Schachbrette zu tun. Welcher Weg sodann am sichersten zu der Schlichtung des Nationalitätenstreits und zu einem befriedigenden Ausgleiche mit Ungarn führe, darüber erlauben wir uns kein Urteil. Dagegen darf über die geforderte Jndustriepolitik wohl auch der Nichtösterreicher ein Wörtlein wagen, weil sie keineswegs etwas spezifisch Österreichisches ist. In einigen Punkten hat der Verfasser zweifellos Recht. Daß erst die blühende Industrie die Landwirtschaft rentabel macht, wissen wir seit Friedrich Lift, und daß nur die Industrie imstande ist, dem Bevölkerungsüberschuß Beschäftigung zu gewähren, nachdem die Landwirtschaft ihren Sättigungsgrad erreicht hat, das lehrt die Erfahrung der letzten Jahrzehnte. Die Grundforderung des Pro¬ gramms: mehr und vollkommnere Industrie, ist demnach eigentlich selbstver¬ ständlich. Aber ihre Erfüllung wird auf dem vom Verfasser vorgezeichneten Wege nicht geringe Schwierigkeiten zu überwinden haben. Die Magnaten sind immerhin noch eine Macht. Und dann: gewiß ist auch für Österreich innere Kolonisation angezeigt, und jedenfalls muß dem Bauernlegen durch vornehme Jagdliebhaber Einhalt getan werden. Aber der Verfasser führt selbst aus, wie die Auflösung der Latifundien in Bauernwirtschaften den Körnerbau zurückdrängt (das Bauerngut rentiert nur bei vorwiegender Milchwirtschaft, besonders wenn Gemüse-, Zuckerrüben-, Obstbau und Geflügelzucht hinzukommen), daß dann die Brotfrüchte für die industrielle Bevölkerung aus den Agrarländern eingeführt werden müssen, und besonnene Staatsmänner werden sich fragen, ob man eine ohnehin unaufhaltsame Entwicklung, deren Ergebnis den Engländern ernste Besorgnis einflößt, gewaltsam beschleunigen solle. Was das Bündnis der Groß-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/631>, abgerufen am 01.10.2024.