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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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österreichischer Neuliberalismus

Also das sind olle Kamelien. Das Neue und Interessante des Buches
steckt in seinem zweiten Teile: "Neu-Österreich", womit nicht etwa Österreich
seit 1866, sondern das zukünftige Österreich gemeint ist. Dieses konstruiert sich
Charmatz, um es kurz zu sagen, nach dem für österreichische Verhältnisse modi¬
fizierten Programme Friedrich Naumanns. Zwar überwiegt in Zisleithanien
noch nicht, wie im Deutschen Reiche, die industrielle Bevölkerung der Kopfzahl
nach die agrarische, aber sie bringt schon doppelt soviel Steuern auf als diese.
Demnach ist es unbillig, daß die Agrarier herrschen. Die Herrschaft gebührt
der Industrie, und diese darf auf der bisher erreichten Stufe nicht stehn bleiben,
sondern Österreich muß vollends Industriestaat werden. Damit wird zugleich
der an mancherlei Übeln krankenden Landwirtschaft geholfen sein, denn nur
durch blühendes Gewerbe wird diese rentabel. Und zwar ist unter Landwirt¬
schaft die bäuerliche zu versteh", denn nur diese ist lebensfähig und zugleich
berechtigt. Die Rittergutsbesitzer gehn an Überschuldung zugrunde, und die
Magnaten, die in Böhmen große Landstriche entvölkern, in den Alpenprovinzen
das Bauernlegen betreiben, um ihre Jagdgründe zu vergrößern, sind eine Pest.
Demnach sind die Lündereien der Großgrundbesitzer in Bauerngüter zu ver¬
wandeln. Auch so wird es nicht möglich sein, bei wachsender Volksmenge alle
Nachkommen der Bauern in der Landwirtschaft unterzubringen; nur die der
Ausdehnung ins Ungemessene fähige Industrie vermag den Überschuß aufzu¬
nehmen und zu beschäftigen. Vorausgesetzt, daß eine weise Exportpolitik für
den Absatz der Jndustrieerzeugnisse auf dem Weltmarkte sorgt; eine weise Politik
aber ist notwendigerweise freihändlerisch. Einer solchen Entwicklung stehn nun
das agrarische Interesse, die feudalen Anschauungen und Gepflogenheiten, die
Zünftlerei und die reaktionären Traditionen im Wege. Alle diese feindlichen
Gewalten hat die Kirche unter ihre Fittiche genommen, darum ist der Klerika¬
lismus der Feind. Ihm gegenüber muß sich das liberale Bürgertum organi¬
sieren (das, da die Handwerksmeister und die Detaillisten zünftlerisch gesinnt
sind, nur noch aus den Großindustriellen und der Intelligenz, den akademischen
Stünden, besteht) und mit den Sozialdemokraten verbünden, die ja ebenfalls
den Industriestaat anstreben. Nicht eine neue Partei soll vorläufig gegründet,
sondern der neuliberale Geist soll verbreitet und dadurch die große liberale
Partei vorbereitet werden, die die ganze gewerbliche und womöglich auch die
bäuerliche Bevölkerung umfaßt. Der neue Liberalismus unterscheidet sich da¬
durch vom alten, daß er nicht doktrinär, nicht manchesterlich, sondern sozial ist,
daß er nicht ein Klasseninteresse, das der Bourgeoisie, vertritt, sondern echt
demokratisch das Wohl der gesamten Bevölkerung erstrebt: nicht Industriellen-
Politik, sondern Jndustriepolitik treibt er. Und er wird auch den Streit der
Nationalitäten schlichten. Weder der Zentralismus führt hier zum Ziele, noch
der Föderalismus, sondern nur die nationale Autonomie. Und zwar ist dem
Territorialprinzip, wonach in Böhmen zum Beispiel die als tschechisch und die
als deutsch zu behandelnden Gebiete gegeneinander abgegrenzt werden sollen,


österreichischer Neuliberalismus

Also das sind olle Kamelien. Das Neue und Interessante des Buches
steckt in seinem zweiten Teile: „Neu-Österreich", womit nicht etwa Österreich
seit 1866, sondern das zukünftige Österreich gemeint ist. Dieses konstruiert sich
Charmatz, um es kurz zu sagen, nach dem für österreichische Verhältnisse modi¬
fizierten Programme Friedrich Naumanns. Zwar überwiegt in Zisleithanien
noch nicht, wie im Deutschen Reiche, die industrielle Bevölkerung der Kopfzahl
nach die agrarische, aber sie bringt schon doppelt soviel Steuern auf als diese.
Demnach ist es unbillig, daß die Agrarier herrschen. Die Herrschaft gebührt
der Industrie, und diese darf auf der bisher erreichten Stufe nicht stehn bleiben,
sondern Österreich muß vollends Industriestaat werden. Damit wird zugleich
der an mancherlei Übeln krankenden Landwirtschaft geholfen sein, denn nur
durch blühendes Gewerbe wird diese rentabel. Und zwar ist unter Landwirt¬
schaft die bäuerliche zu versteh», denn nur diese ist lebensfähig und zugleich
berechtigt. Die Rittergutsbesitzer gehn an Überschuldung zugrunde, und die
Magnaten, die in Böhmen große Landstriche entvölkern, in den Alpenprovinzen
das Bauernlegen betreiben, um ihre Jagdgründe zu vergrößern, sind eine Pest.
Demnach sind die Lündereien der Großgrundbesitzer in Bauerngüter zu ver¬
wandeln. Auch so wird es nicht möglich sein, bei wachsender Volksmenge alle
Nachkommen der Bauern in der Landwirtschaft unterzubringen; nur die der
Ausdehnung ins Ungemessene fähige Industrie vermag den Überschuß aufzu¬
nehmen und zu beschäftigen. Vorausgesetzt, daß eine weise Exportpolitik für
den Absatz der Jndustrieerzeugnisse auf dem Weltmarkte sorgt; eine weise Politik
aber ist notwendigerweise freihändlerisch. Einer solchen Entwicklung stehn nun
das agrarische Interesse, die feudalen Anschauungen und Gepflogenheiten, die
Zünftlerei und die reaktionären Traditionen im Wege. Alle diese feindlichen
Gewalten hat die Kirche unter ihre Fittiche genommen, darum ist der Klerika¬
lismus der Feind. Ihm gegenüber muß sich das liberale Bürgertum organi¬
sieren (das, da die Handwerksmeister und die Detaillisten zünftlerisch gesinnt
sind, nur noch aus den Großindustriellen und der Intelligenz, den akademischen
Stünden, besteht) und mit den Sozialdemokraten verbünden, die ja ebenfalls
den Industriestaat anstreben. Nicht eine neue Partei soll vorläufig gegründet,
sondern der neuliberale Geist soll verbreitet und dadurch die große liberale
Partei vorbereitet werden, die die ganze gewerbliche und womöglich auch die
bäuerliche Bevölkerung umfaßt. Der neue Liberalismus unterscheidet sich da¬
durch vom alten, daß er nicht doktrinär, nicht manchesterlich, sondern sozial ist,
daß er nicht ein Klasseninteresse, das der Bourgeoisie, vertritt, sondern echt
demokratisch das Wohl der gesamten Bevölkerung erstrebt: nicht Industriellen-
Politik, sondern Jndustriepolitik treibt er. Und er wird auch den Streit der
Nationalitäten schlichten. Weder der Zentralismus führt hier zum Ziele, noch
der Föderalismus, sondern nur die nationale Autonomie. Und zwar ist dem
Territorialprinzip, wonach in Böhmen zum Beispiel die als tschechisch und die
als deutsch zu behandelnden Gebiete gegeneinander abgegrenzt werden sollen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/630>, abgerufen am 23.07.2024.