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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Deutsch - amerikanische Angelegenheiten

leicht befunden wurden, ist bekannt. Gelehrte, Schriftsteller und Künstler,
gebildete und in allen Wissenszweigen wohlbewanderte Männer waren ge¬
zwungen, sich durch die gröbsten Arbeiten als Zigarrenwickler, Kellner, ja als
Stiefelputzer und Straßenkehrer kümmerlich ihr Brot zu verdienen, viele
gingen unter solchen Umständen in Not und Elend einsam und verlassen unter
oder verwilderten. Die Mehrzahl von ihnen konnte freilich nicht englisch
sprechen und hatte sich im politischen Kampf und Streit eine rechthaberische
und befehlshaberische Sprache angewöhnt, was sie bald in offnen Widerspruch
mit den schon ansässigen Deutschamerikanern brachte, während sie den Anglo¬
amerikanern durch ihr burschikoses Auftreten, ihre revolutionären Schlagworte
und vor allem durch ihre Geringschätzung der Kirche und Verachtung der
Geistlichkeit geradezu widerwärtig wurden. Ihr Erscheinen hatte nur dazu
beigetragen, der Abneigung der Neuengländer gegen die Deutschamerikaner
neuen Anlaß zu geben. Doch verschwanden diese politischen Phantasten bald,
und die übrigen Flüchtlinge und Auswandrer, denen es Ernst war, und die
ihre Kraft und Bildung dem neuen Vaterlande widmeten, übten bald einen
großen Einfluß aus, der zunächst den Deutschamerikanern zugute kam, dann
aber auch weitern Kreisen den Stempel ihres Geistes aufdrückte. In die
bisherige Nüchternheit der Verhältnisse mit ihren lediglich materiellen Be¬
strebungen kam ein starker geistiger Zug, der insbesondre durch die Förderung
des Unterrichtswesens klärend und befruchtend wirkte. Dieser mit Idealismus
gepaarte Ernst hielt an und war auch die Ursache der allgemeinen Erhebung
der Deutschamerikaner für die Erhaltung der Union im Jahre 1861. Die
gemeinsamen Kämpfe und die treue Waffenbrüderschaft haben das Deutsch-
"merikanertum in der Union zu einer ganz andern Stellung erhoben. Die
Begeisterung, mit der die vorher wenig beliebten deutschen Schützen, Turner
und Sänger zu den Fahnen geeilt waren, die Tapferkeit, mit der sie in zahl¬
reichen Schlachten schlugen und siegen halsen, hat dem deutschen Namen in
der Union einen guten Klang verliehen.

Die bis zur neuern Zeit stark dilettantenhafte nordamerikanische Geschicht¬
schreibung ist freilich den Deutschamerikanern noch nicht gerecht geworden,
sogar das groß angelegte Werk Bancrofts über die Geschichte der Vereinigten
Staaten steht durchaus auf angelsächsischem Standpunkt und weiß sehr wenig
von den Verdiensten andrer Nationen um das Volkstum der Vereinigten
Staaten. Überhaupt ist fast die gesamte nordamerikanische Geschichtsliteratur
bisher von tendenziösen Rücksichten geleitet gewesen, hauptsächlich von der
sogenannten nativistischen Idee, außerdem entbehrte sie des eigentlich historischen,
kritischen Geistes. In neuerer Zeit läßt sich allerdings die in der Völker¬
psychologie wohlbekannte Erscheinung an jungen Völkern: das Erwachen des
Sinns für die eigne Geschichte, auch bei den Nordamerikanern beobachten, und
es zeigen sich Anfänge einer streng wissenschaftlichen Tätigkeit auf dem Ge¬
biete der nationalen Forschung. Trotzdem liegt die Gefahr noch sehr nahe,


Deutsch - amerikanische Angelegenheiten

leicht befunden wurden, ist bekannt. Gelehrte, Schriftsteller und Künstler,
gebildete und in allen Wissenszweigen wohlbewanderte Männer waren ge¬
zwungen, sich durch die gröbsten Arbeiten als Zigarrenwickler, Kellner, ja als
Stiefelputzer und Straßenkehrer kümmerlich ihr Brot zu verdienen, viele
gingen unter solchen Umständen in Not und Elend einsam und verlassen unter
oder verwilderten. Die Mehrzahl von ihnen konnte freilich nicht englisch
sprechen und hatte sich im politischen Kampf und Streit eine rechthaberische
und befehlshaberische Sprache angewöhnt, was sie bald in offnen Widerspruch
mit den schon ansässigen Deutschamerikanern brachte, während sie den Anglo¬
amerikanern durch ihr burschikoses Auftreten, ihre revolutionären Schlagworte
und vor allem durch ihre Geringschätzung der Kirche und Verachtung der
Geistlichkeit geradezu widerwärtig wurden. Ihr Erscheinen hatte nur dazu
beigetragen, der Abneigung der Neuengländer gegen die Deutschamerikaner
neuen Anlaß zu geben. Doch verschwanden diese politischen Phantasten bald,
und die übrigen Flüchtlinge und Auswandrer, denen es Ernst war, und die
ihre Kraft und Bildung dem neuen Vaterlande widmeten, übten bald einen
großen Einfluß aus, der zunächst den Deutschamerikanern zugute kam, dann
aber auch weitern Kreisen den Stempel ihres Geistes aufdrückte. In die
bisherige Nüchternheit der Verhältnisse mit ihren lediglich materiellen Be¬
strebungen kam ein starker geistiger Zug, der insbesondre durch die Förderung
des Unterrichtswesens klärend und befruchtend wirkte. Dieser mit Idealismus
gepaarte Ernst hielt an und war auch die Ursache der allgemeinen Erhebung
der Deutschamerikaner für die Erhaltung der Union im Jahre 1861. Die
gemeinsamen Kämpfe und die treue Waffenbrüderschaft haben das Deutsch-
«merikanertum in der Union zu einer ganz andern Stellung erhoben. Die
Begeisterung, mit der die vorher wenig beliebten deutschen Schützen, Turner
und Sänger zu den Fahnen geeilt waren, die Tapferkeit, mit der sie in zahl¬
reichen Schlachten schlugen und siegen halsen, hat dem deutschen Namen in
der Union einen guten Klang verliehen.

Die bis zur neuern Zeit stark dilettantenhafte nordamerikanische Geschicht¬
schreibung ist freilich den Deutschamerikanern noch nicht gerecht geworden,
sogar das groß angelegte Werk Bancrofts über die Geschichte der Vereinigten
Staaten steht durchaus auf angelsächsischem Standpunkt und weiß sehr wenig
von den Verdiensten andrer Nationen um das Volkstum der Vereinigten
Staaten. Überhaupt ist fast die gesamte nordamerikanische Geschichtsliteratur
bisher von tendenziösen Rücksichten geleitet gewesen, hauptsächlich von der
sogenannten nativistischen Idee, außerdem entbehrte sie des eigentlich historischen,
kritischen Geistes. In neuerer Zeit läßt sich allerdings die in der Völker¬
psychologie wohlbekannte Erscheinung an jungen Völkern: das Erwachen des
Sinns für die eigne Geschichte, auch bei den Nordamerikanern beobachten, und
es zeigen sich Anfänge einer streng wissenschaftlichen Tätigkeit auf dem Ge¬
biete der nationalen Forschung. Trotzdem liegt die Gefahr noch sehr nahe,


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[0615] Deutsch - amerikanische Angelegenheiten leicht befunden wurden, ist bekannt. Gelehrte, Schriftsteller und Künstler, gebildete und in allen Wissenszweigen wohlbewanderte Männer waren ge¬ zwungen, sich durch die gröbsten Arbeiten als Zigarrenwickler, Kellner, ja als Stiefelputzer und Straßenkehrer kümmerlich ihr Brot zu verdienen, viele gingen unter solchen Umständen in Not und Elend einsam und verlassen unter oder verwilderten. Die Mehrzahl von ihnen konnte freilich nicht englisch sprechen und hatte sich im politischen Kampf und Streit eine rechthaberische und befehlshaberische Sprache angewöhnt, was sie bald in offnen Widerspruch mit den schon ansässigen Deutschamerikanern brachte, während sie den Anglo¬ amerikanern durch ihr burschikoses Auftreten, ihre revolutionären Schlagworte und vor allem durch ihre Geringschätzung der Kirche und Verachtung der Geistlichkeit geradezu widerwärtig wurden. Ihr Erscheinen hatte nur dazu beigetragen, der Abneigung der Neuengländer gegen die Deutschamerikaner neuen Anlaß zu geben. Doch verschwanden diese politischen Phantasten bald, und die übrigen Flüchtlinge und Auswandrer, denen es Ernst war, und die ihre Kraft und Bildung dem neuen Vaterlande widmeten, übten bald einen großen Einfluß aus, der zunächst den Deutschamerikanern zugute kam, dann aber auch weitern Kreisen den Stempel ihres Geistes aufdrückte. In die bisherige Nüchternheit der Verhältnisse mit ihren lediglich materiellen Be¬ strebungen kam ein starker geistiger Zug, der insbesondre durch die Förderung des Unterrichtswesens klärend und befruchtend wirkte. Dieser mit Idealismus gepaarte Ernst hielt an und war auch die Ursache der allgemeinen Erhebung der Deutschamerikaner für die Erhaltung der Union im Jahre 1861. Die gemeinsamen Kämpfe und die treue Waffenbrüderschaft haben das Deutsch- «merikanertum in der Union zu einer ganz andern Stellung erhoben. Die Begeisterung, mit der die vorher wenig beliebten deutschen Schützen, Turner und Sänger zu den Fahnen geeilt waren, die Tapferkeit, mit der sie in zahl¬ reichen Schlachten schlugen und siegen halsen, hat dem deutschen Namen in der Union einen guten Klang verliehen. Die bis zur neuern Zeit stark dilettantenhafte nordamerikanische Geschicht¬ schreibung ist freilich den Deutschamerikanern noch nicht gerecht geworden, sogar das groß angelegte Werk Bancrofts über die Geschichte der Vereinigten Staaten steht durchaus auf angelsächsischem Standpunkt und weiß sehr wenig von den Verdiensten andrer Nationen um das Volkstum der Vereinigten Staaten. Überhaupt ist fast die gesamte nordamerikanische Geschichtsliteratur bisher von tendenziösen Rücksichten geleitet gewesen, hauptsächlich von der sogenannten nativistischen Idee, außerdem entbehrte sie des eigentlich historischen, kritischen Geistes. In neuerer Zeit läßt sich allerdings die in der Völker¬ psychologie wohlbekannte Erscheinung an jungen Völkern: das Erwachen des Sinns für die eigne Geschichte, auch bei den Nordamerikanern beobachten, und es zeigen sich Anfänge einer streng wissenschaftlichen Tätigkeit auf dem Ge¬ biete der nationalen Forschung. Trotzdem liegt die Gefahr noch sehr nahe,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/615>, abgerufen am 23.07.2024.