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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung

in der Volksschule, mit seiner quantitativen Überfüllung oder qualitativen
Überreizung gemacht hat, diese möchten wir für die Pflege der nationalen
Erziehung gern für uns nutzbar machen.

3. Freilich tritt neuerdings das nationale Motiv etwas in den Hinter¬
grund gegenüber dem sozialen; und so sollen wir nun natürlich auch nicht
sozial genug sein; denn zu was ist denn unsre Schule heutzutage da, als zur
Magd wechselnder Tagesströmungen und Parteitendenzen zu dienen und so auch
das Versuchskaninchen für angeblich soziale Experimente abzugeben? In einem
Punkte tritt diese Gefahr in greifbare Nähe, das ist die Frage der Vorschulen;
und wenn die Schulverwaltungen auch noch heute widerstreben, wer möchte
auf ihre Festigkeit bauen? Jene Vorschulen ermöglichen bekanntlich den Eintritt
in die höhern Schulen um ein volles Jahr früher und mit besserer Vorbildung,
als der Unterrichtsgang der Volksschule es möglich macht; ohne sie müßte man
mit einer Verspätung des Eintritts oder mit einer bedeutenden Verschlechterung
der Vorbildung, einer Erschwerung und Verlangsamung des weitern Fortschritts
rechnen. Darum werden diese Schulen auch, wo sie sind, hochgehalten und in
wachsendem Umfange benutzt; Staat und Gemeinde bringen Opfer dafür, und
wo sie nicht sind, strebt man sie an oder sucht sich ihre Vorteile durch unzu¬
längliche oder künstliche Einrichtungen an der Volksschule wenigstens einiger¬
maßen zu sichern. Freilich, in Bayern hat man sie nicht, aber nicht aus sozialen,
sondern aus ganz andern Gründen, deren Erörterung hier zu weit führen
würde; soll darum auch hier die Nivellierung in xHus eintreten? Ein soziales
Bedürfnis liegt lediglich nicht vor. Unsre höhern Schulen in Süddeutschland
sind von Haus aus sozial und demokratisch dazu, insbesondre gilt das von den
Elementarschulen mit ihrem sehr niedrigen, leicht auch zum Erlasse kommenden
Schulgelde, wie denn ihren sozialen Nekrutierungsbezirk in wachsendem Umfange
der untere Mittelstand bildet. Kinder aus den Kreisen der Bauern und der
Industriearbeiter sind freilich selten darin; das hat gute, natürliche und gesunde
Gründe; jedenfalls wäre es eine geradezu groteske Sozialpolitik, die Einrichtung
unsers höhern Schulwesens, insbesondre der Gymnasien, gerade nach den Be¬
dürfnissen der Bauern und der Industriearbeiter zu organisieren. Auch erscheint
die soziale Wirkung höchst problematisch, die daraus entspränge, daß zwei bis
drei Jahre lang die Kinder aller Stände auf einer Schulbank zusammensitzen,
um sich dann erst nach Erweckung des sozialen Bewußtseins meist und end-
giltig zu trennen. Um an eine solche Wirkung zu glauben, muß man von dem
ganzen Doktrinarismus unsrer Parteien erfüllt sein. In Wirklichkeit ginge das
Gegenteil daraus hervor. Die eigentliche Quelle jenes Verlangens liegt
vielmehr in den Interessen der Volksschule und ihrer Lehrer, die den Entgang
eines nicht ganz unbedeutenden, wirtschaftlich und im ganzen doch auch geistig
günstiger situierten Bruchteils unsrer Jugend für die Volksschule ungern er¬
tragen. Also die Verschlechterung des höhern Schulwesens, aber ohne wesent¬
lichen Gewinn für die Volksschule ist das Ziel dieser sogenannten Sozialpolitik.


Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung

in der Volksschule, mit seiner quantitativen Überfüllung oder qualitativen
Überreizung gemacht hat, diese möchten wir für die Pflege der nationalen
Erziehung gern für uns nutzbar machen.

3. Freilich tritt neuerdings das nationale Motiv etwas in den Hinter¬
grund gegenüber dem sozialen; und so sollen wir nun natürlich auch nicht
sozial genug sein; denn zu was ist denn unsre Schule heutzutage da, als zur
Magd wechselnder Tagesströmungen und Parteitendenzen zu dienen und so auch
das Versuchskaninchen für angeblich soziale Experimente abzugeben? In einem
Punkte tritt diese Gefahr in greifbare Nähe, das ist die Frage der Vorschulen;
und wenn die Schulverwaltungen auch noch heute widerstreben, wer möchte
auf ihre Festigkeit bauen? Jene Vorschulen ermöglichen bekanntlich den Eintritt
in die höhern Schulen um ein volles Jahr früher und mit besserer Vorbildung,
als der Unterrichtsgang der Volksschule es möglich macht; ohne sie müßte man
mit einer Verspätung des Eintritts oder mit einer bedeutenden Verschlechterung
der Vorbildung, einer Erschwerung und Verlangsamung des weitern Fortschritts
rechnen. Darum werden diese Schulen auch, wo sie sind, hochgehalten und in
wachsendem Umfange benutzt; Staat und Gemeinde bringen Opfer dafür, und
wo sie nicht sind, strebt man sie an oder sucht sich ihre Vorteile durch unzu¬
längliche oder künstliche Einrichtungen an der Volksschule wenigstens einiger¬
maßen zu sichern. Freilich, in Bayern hat man sie nicht, aber nicht aus sozialen,
sondern aus ganz andern Gründen, deren Erörterung hier zu weit führen
würde; soll darum auch hier die Nivellierung in xHus eintreten? Ein soziales
Bedürfnis liegt lediglich nicht vor. Unsre höhern Schulen in Süddeutschland
sind von Haus aus sozial und demokratisch dazu, insbesondre gilt das von den
Elementarschulen mit ihrem sehr niedrigen, leicht auch zum Erlasse kommenden
Schulgelde, wie denn ihren sozialen Nekrutierungsbezirk in wachsendem Umfange
der untere Mittelstand bildet. Kinder aus den Kreisen der Bauern und der
Industriearbeiter sind freilich selten darin; das hat gute, natürliche und gesunde
Gründe; jedenfalls wäre es eine geradezu groteske Sozialpolitik, die Einrichtung
unsers höhern Schulwesens, insbesondre der Gymnasien, gerade nach den Be¬
dürfnissen der Bauern und der Industriearbeiter zu organisieren. Auch erscheint
die soziale Wirkung höchst problematisch, die daraus entspränge, daß zwei bis
drei Jahre lang die Kinder aller Stände auf einer Schulbank zusammensitzen,
um sich dann erst nach Erweckung des sozialen Bewußtseins meist und end-
giltig zu trennen. Um an eine solche Wirkung zu glauben, muß man von dem
ganzen Doktrinarismus unsrer Parteien erfüllt sein. In Wirklichkeit ginge das
Gegenteil daraus hervor. Die eigentliche Quelle jenes Verlangens liegt
vielmehr in den Interessen der Volksschule und ihrer Lehrer, die den Entgang
eines nicht ganz unbedeutenden, wirtschaftlich und im ganzen doch auch geistig
günstiger situierten Bruchteils unsrer Jugend für die Volksschule ungern er¬
tragen. Also die Verschlechterung des höhern Schulwesens, aber ohne wesent¬
lichen Gewinn für die Volksschule ist das Ziel dieser sogenannten Sozialpolitik.


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[0575] Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung in der Volksschule, mit seiner quantitativen Überfüllung oder qualitativen Überreizung gemacht hat, diese möchten wir für die Pflege der nationalen Erziehung gern für uns nutzbar machen. 3. Freilich tritt neuerdings das nationale Motiv etwas in den Hinter¬ grund gegenüber dem sozialen; und so sollen wir nun natürlich auch nicht sozial genug sein; denn zu was ist denn unsre Schule heutzutage da, als zur Magd wechselnder Tagesströmungen und Parteitendenzen zu dienen und so auch das Versuchskaninchen für angeblich soziale Experimente abzugeben? In einem Punkte tritt diese Gefahr in greifbare Nähe, das ist die Frage der Vorschulen; und wenn die Schulverwaltungen auch noch heute widerstreben, wer möchte auf ihre Festigkeit bauen? Jene Vorschulen ermöglichen bekanntlich den Eintritt in die höhern Schulen um ein volles Jahr früher und mit besserer Vorbildung, als der Unterrichtsgang der Volksschule es möglich macht; ohne sie müßte man mit einer Verspätung des Eintritts oder mit einer bedeutenden Verschlechterung der Vorbildung, einer Erschwerung und Verlangsamung des weitern Fortschritts rechnen. Darum werden diese Schulen auch, wo sie sind, hochgehalten und in wachsendem Umfange benutzt; Staat und Gemeinde bringen Opfer dafür, und wo sie nicht sind, strebt man sie an oder sucht sich ihre Vorteile durch unzu¬ längliche oder künstliche Einrichtungen an der Volksschule wenigstens einiger¬ maßen zu sichern. Freilich, in Bayern hat man sie nicht, aber nicht aus sozialen, sondern aus ganz andern Gründen, deren Erörterung hier zu weit führen würde; soll darum auch hier die Nivellierung in xHus eintreten? Ein soziales Bedürfnis liegt lediglich nicht vor. Unsre höhern Schulen in Süddeutschland sind von Haus aus sozial und demokratisch dazu, insbesondre gilt das von den Elementarschulen mit ihrem sehr niedrigen, leicht auch zum Erlasse kommenden Schulgelde, wie denn ihren sozialen Nekrutierungsbezirk in wachsendem Umfange der untere Mittelstand bildet. Kinder aus den Kreisen der Bauern und der Industriearbeiter sind freilich selten darin; das hat gute, natürliche und gesunde Gründe; jedenfalls wäre es eine geradezu groteske Sozialpolitik, die Einrichtung unsers höhern Schulwesens, insbesondre der Gymnasien, gerade nach den Be¬ dürfnissen der Bauern und der Industriearbeiter zu organisieren. Auch erscheint die soziale Wirkung höchst problematisch, die daraus entspränge, daß zwei bis drei Jahre lang die Kinder aller Stände auf einer Schulbank zusammensitzen, um sich dann erst nach Erweckung des sozialen Bewußtseins meist und end- giltig zu trennen. Um an eine solche Wirkung zu glauben, muß man von dem ganzen Doktrinarismus unsrer Parteien erfüllt sein. In Wirklichkeit ginge das Gegenteil daraus hervor. Die eigentliche Quelle jenes Verlangens liegt vielmehr in den Interessen der Volksschule und ihrer Lehrer, die den Entgang eines nicht ganz unbedeutenden, wirtschaftlich und im ganzen doch auch geistig günstiger situierten Bruchteils unsrer Jugend für die Volksschule ungern er¬ tragen. Also die Verschlechterung des höhern Schulwesens, aber ohne wesent¬ lichen Gewinn für die Volksschule ist das Ziel dieser sogenannten Sozialpolitik.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/575>, abgerufen am 23.07.2024.