Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung

Organismus, aber ich kann, ich darf nicht -- der äußern Einrichtungen und
Mittel mehr Aufmerksamkeit schenken, als es vielleicht sonst der Fall wäre.
Darum sollen nur die Gedankengänge, von denen mir die Reformbewegung
auf wichtigen Seiten geleitet scheint, in einigen Richtungen wenigstens ver¬
folgt werden.

Doch zuvor noch einige Worte über die Form, in der sich diese Gedanken
in weitem Umfange zu äußern pflegen. Es muß doch einmal an weithin sicht¬
barer und hörbarer Stelle ausgesprochen werden, daß der Ton, wie er uns
aus einem großen Teile der Schulreformliteratur entgegenschallt, keineswegs
bloß aus den Artikeln der Winkelpresse und den pilzartig aufschießenden
Reformbroschüren und -Zeitschriften aä Koo, auch von einer Publizistik her, die
sonst ihre unzweifelhaften Verdienste hat und auf ihre Würde und ihre Höhe
sich etwas einbildet, daß dieser Ton der Würde und Höhe der Sache gar wenig
entspricht. Da wird die deutsche Lehrerschaft, soweit sie nicht dem bevorzugten
Volksschullehrerstande angehört, in ihrem für die Beurteilung des Ganzen als
maßgebend betrachteten Teile schlankweg geistiger und selbst körperlicher Mi߬
handlung, der Verkümmerung der Jugendfreude, ja der Zerstörung des Lebens¬
glücks der Schulen bezichtigt. Mancher unreife Skribent, dem das Bewußtsein der
Unzulänglichkeit seines Wollens und Könnens in der Schule wie der bekannte
Zopf nach hinten herum baumelt, benutzt den Aberglauben an das Gedruckte,
der im Volke der Denker so stark grassiert, und die Neigung zur Suggestion, an
der die ganze Zeit krankt, um sich unter der Hülle der Anonymität eine billige
Satisfaktion zu verschaffen, und andrerseits erfahren nicht wenige unsrer kleinen
Schlingel, vielleicht zu eigner Überraschung, zum erstenmal aus dem Wochen¬
blättchen, was für brave Jungen sie sind, und was für dumme Gesellen oder
böswillige Menschenschinder ihre Lehrer. Und das sollte nicht gemeingefährlich,
nicht gemeinschädlich sein? Zu diesem rüden Tone steht -- ach, nur allzu
häufig! -- in schneidendem Gegensatze die jämmerliche Unkenntnis der tatsäch¬
lichen Verhältnisse, die nicht selten geradezu in ihr Gegenteil verkehrt werden.
Der Hang zu falscher Verallgemeinerung, der dem menschlichen Denken stets
anhaften wird, aber dem Zeitalter der exakten Forschung und der induktiven
Methode besonders übel ansteht, die Neigung, die bisher vielleicht allzusehr
in den Hintergrund gerückte Seite einer Sache, die mehrere Seiten hat, aufs
einseitigste hervorzukehren, nichts andres daneben gelten zu lassen und so einen
an sich gesunden Gedanken durch unheilvolle Übertreibung zu einem Gifte zu
gestalten -- all das führt geradezu zu jener Untergrabung der Grundlagen
eines wahren, eines gesunden, eines stetigen Fortschritts und zugleich zur
Fälschung der geschichtlichen Wahrheit; denn wer nach einem oder zweien
Menschenaltern aus den Brandschriften dieser Sorte von Reformern ein Bild
des deutschen Unterrichts- und Erziehungswesens unsrer höhern Stunde aus
dem Ende des neunzehnten, dem Beginne des zwanzigsten Jahrhunderts ent¬
werfen wollte, müßte ein Zerrbild schaffen, wie es uns etwa aus einem


Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung

Organismus, aber ich kann, ich darf nicht — der äußern Einrichtungen und
Mittel mehr Aufmerksamkeit schenken, als es vielleicht sonst der Fall wäre.
Darum sollen nur die Gedankengänge, von denen mir die Reformbewegung
auf wichtigen Seiten geleitet scheint, in einigen Richtungen wenigstens ver¬
folgt werden.

Doch zuvor noch einige Worte über die Form, in der sich diese Gedanken
in weitem Umfange zu äußern pflegen. Es muß doch einmal an weithin sicht¬
barer und hörbarer Stelle ausgesprochen werden, daß der Ton, wie er uns
aus einem großen Teile der Schulreformliteratur entgegenschallt, keineswegs
bloß aus den Artikeln der Winkelpresse und den pilzartig aufschießenden
Reformbroschüren und -Zeitschriften aä Koo, auch von einer Publizistik her, die
sonst ihre unzweifelhaften Verdienste hat und auf ihre Würde und ihre Höhe
sich etwas einbildet, daß dieser Ton der Würde und Höhe der Sache gar wenig
entspricht. Da wird die deutsche Lehrerschaft, soweit sie nicht dem bevorzugten
Volksschullehrerstande angehört, in ihrem für die Beurteilung des Ganzen als
maßgebend betrachteten Teile schlankweg geistiger und selbst körperlicher Mi߬
handlung, der Verkümmerung der Jugendfreude, ja der Zerstörung des Lebens¬
glücks der Schulen bezichtigt. Mancher unreife Skribent, dem das Bewußtsein der
Unzulänglichkeit seines Wollens und Könnens in der Schule wie der bekannte
Zopf nach hinten herum baumelt, benutzt den Aberglauben an das Gedruckte,
der im Volke der Denker so stark grassiert, und die Neigung zur Suggestion, an
der die ganze Zeit krankt, um sich unter der Hülle der Anonymität eine billige
Satisfaktion zu verschaffen, und andrerseits erfahren nicht wenige unsrer kleinen
Schlingel, vielleicht zu eigner Überraschung, zum erstenmal aus dem Wochen¬
blättchen, was für brave Jungen sie sind, und was für dumme Gesellen oder
böswillige Menschenschinder ihre Lehrer. Und das sollte nicht gemeingefährlich,
nicht gemeinschädlich sein? Zu diesem rüden Tone steht — ach, nur allzu
häufig! — in schneidendem Gegensatze die jämmerliche Unkenntnis der tatsäch¬
lichen Verhältnisse, die nicht selten geradezu in ihr Gegenteil verkehrt werden.
Der Hang zu falscher Verallgemeinerung, der dem menschlichen Denken stets
anhaften wird, aber dem Zeitalter der exakten Forschung und der induktiven
Methode besonders übel ansteht, die Neigung, die bisher vielleicht allzusehr
in den Hintergrund gerückte Seite einer Sache, die mehrere Seiten hat, aufs
einseitigste hervorzukehren, nichts andres daneben gelten zu lassen und so einen
an sich gesunden Gedanken durch unheilvolle Übertreibung zu einem Gifte zu
gestalten — all das führt geradezu zu jener Untergrabung der Grundlagen
eines wahren, eines gesunden, eines stetigen Fortschritts und zugleich zur
Fälschung der geschichtlichen Wahrheit; denn wer nach einem oder zweien
Menschenaltern aus den Brandschriften dieser Sorte von Reformern ein Bild
des deutschen Unterrichts- und Erziehungswesens unsrer höhern Stunde aus
dem Ende des neunzehnten, dem Beginne des zwanzigsten Jahrhunderts ent¬
werfen wollte, müßte ein Zerrbild schaffen, wie es uns etwa aus einem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0572" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303988"/>
          <fw type="header" place="top"> Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2537" prev="#ID_2536"> Organismus, aber ich kann, ich darf nicht &#x2014; der äußern Einrichtungen und<lb/>
Mittel mehr Aufmerksamkeit schenken, als es vielleicht sonst der Fall wäre.<lb/>
Darum sollen nur die Gedankengänge, von denen mir die Reformbewegung<lb/>
auf wichtigen Seiten geleitet scheint, in einigen Richtungen wenigstens ver¬<lb/>
folgt werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2538" next="#ID_2539"> Doch zuvor noch einige Worte über die Form, in der sich diese Gedanken<lb/>
in weitem Umfange zu äußern pflegen. Es muß doch einmal an weithin sicht¬<lb/>
barer und hörbarer Stelle ausgesprochen werden, daß der Ton, wie er uns<lb/>
aus einem großen Teile der Schulreformliteratur entgegenschallt, keineswegs<lb/>
bloß aus den Artikeln der Winkelpresse und den pilzartig aufschießenden<lb/>
Reformbroschüren und -Zeitschriften aä Koo, auch von einer Publizistik her, die<lb/>
sonst ihre unzweifelhaften Verdienste hat und auf ihre Würde und ihre Höhe<lb/>
sich etwas einbildet, daß dieser Ton der Würde und Höhe der Sache gar wenig<lb/>
entspricht. Da wird die deutsche Lehrerschaft, soweit sie nicht dem bevorzugten<lb/>
Volksschullehrerstande angehört, in ihrem für die Beurteilung des Ganzen als<lb/>
maßgebend betrachteten Teile schlankweg geistiger und selbst körperlicher Mi߬<lb/>
handlung, der Verkümmerung der Jugendfreude, ja der Zerstörung des Lebens¬<lb/>
glücks der Schulen bezichtigt. Mancher unreife Skribent, dem das Bewußtsein der<lb/>
Unzulänglichkeit seines Wollens und Könnens in der Schule wie der bekannte<lb/>
Zopf nach hinten herum baumelt, benutzt den Aberglauben an das Gedruckte,<lb/>
der im Volke der Denker so stark grassiert, und die Neigung zur Suggestion, an<lb/>
der die ganze Zeit krankt, um sich unter der Hülle der Anonymität eine billige<lb/>
Satisfaktion zu verschaffen, und andrerseits erfahren nicht wenige unsrer kleinen<lb/>
Schlingel, vielleicht zu eigner Überraschung, zum erstenmal aus dem Wochen¬<lb/>
blättchen, was für brave Jungen sie sind, und was für dumme Gesellen oder<lb/>
böswillige Menschenschinder ihre Lehrer. Und das sollte nicht gemeingefährlich,<lb/>
nicht gemeinschädlich sein? Zu diesem rüden Tone steht &#x2014; ach, nur allzu<lb/>
häufig! &#x2014; in schneidendem Gegensatze die jämmerliche Unkenntnis der tatsäch¬<lb/>
lichen Verhältnisse, die nicht selten geradezu in ihr Gegenteil verkehrt werden.<lb/>
Der Hang zu falscher Verallgemeinerung, der dem menschlichen Denken stets<lb/>
anhaften wird, aber dem Zeitalter der exakten Forschung und der induktiven<lb/>
Methode besonders übel ansteht, die Neigung, die bisher vielleicht allzusehr<lb/>
in den Hintergrund gerückte Seite einer Sache, die mehrere Seiten hat, aufs<lb/>
einseitigste hervorzukehren, nichts andres daneben gelten zu lassen und so einen<lb/>
an sich gesunden Gedanken durch unheilvolle Übertreibung zu einem Gifte zu<lb/>
gestalten &#x2014; all das führt geradezu zu jener Untergrabung der Grundlagen<lb/>
eines wahren, eines gesunden, eines stetigen Fortschritts und zugleich zur<lb/>
Fälschung der geschichtlichen Wahrheit; denn wer nach einem oder zweien<lb/>
Menschenaltern aus den Brandschriften dieser Sorte von Reformern ein Bild<lb/>
des deutschen Unterrichts- und Erziehungswesens unsrer höhern Stunde aus<lb/>
dem Ende des neunzehnten, dem Beginne des zwanzigsten Jahrhunderts ent¬<lb/>
werfen wollte, müßte ein Zerrbild schaffen, wie es uns etwa aus einem</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0572] Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung Organismus, aber ich kann, ich darf nicht — der äußern Einrichtungen und Mittel mehr Aufmerksamkeit schenken, als es vielleicht sonst der Fall wäre. Darum sollen nur die Gedankengänge, von denen mir die Reformbewegung auf wichtigen Seiten geleitet scheint, in einigen Richtungen wenigstens ver¬ folgt werden. Doch zuvor noch einige Worte über die Form, in der sich diese Gedanken in weitem Umfange zu äußern pflegen. Es muß doch einmal an weithin sicht¬ barer und hörbarer Stelle ausgesprochen werden, daß der Ton, wie er uns aus einem großen Teile der Schulreformliteratur entgegenschallt, keineswegs bloß aus den Artikeln der Winkelpresse und den pilzartig aufschießenden Reformbroschüren und -Zeitschriften aä Koo, auch von einer Publizistik her, die sonst ihre unzweifelhaften Verdienste hat und auf ihre Würde und ihre Höhe sich etwas einbildet, daß dieser Ton der Würde und Höhe der Sache gar wenig entspricht. Da wird die deutsche Lehrerschaft, soweit sie nicht dem bevorzugten Volksschullehrerstande angehört, in ihrem für die Beurteilung des Ganzen als maßgebend betrachteten Teile schlankweg geistiger und selbst körperlicher Mi߬ handlung, der Verkümmerung der Jugendfreude, ja der Zerstörung des Lebens¬ glücks der Schulen bezichtigt. Mancher unreife Skribent, dem das Bewußtsein der Unzulänglichkeit seines Wollens und Könnens in der Schule wie der bekannte Zopf nach hinten herum baumelt, benutzt den Aberglauben an das Gedruckte, der im Volke der Denker so stark grassiert, und die Neigung zur Suggestion, an der die ganze Zeit krankt, um sich unter der Hülle der Anonymität eine billige Satisfaktion zu verschaffen, und andrerseits erfahren nicht wenige unsrer kleinen Schlingel, vielleicht zu eigner Überraschung, zum erstenmal aus dem Wochen¬ blättchen, was für brave Jungen sie sind, und was für dumme Gesellen oder böswillige Menschenschinder ihre Lehrer. Und das sollte nicht gemeingefährlich, nicht gemeinschädlich sein? Zu diesem rüden Tone steht — ach, nur allzu häufig! — in schneidendem Gegensatze die jämmerliche Unkenntnis der tatsäch¬ lichen Verhältnisse, die nicht selten geradezu in ihr Gegenteil verkehrt werden. Der Hang zu falscher Verallgemeinerung, der dem menschlichen Denken stets anhaften wird, aber dem Zeitalter der exakten Forschung und der induktiven Methode besonders übel ansteht, die Neigung, die bisher vielleicht allzusehr in den Hintergrund gerückte Seite einer Sache, die mehrere Seiten hat, aufs einseitigste hervorzukehren, nichts andres daneben gelten zu lassen und so einen an sich gesunden Gedanken durch unheilvolle Übertreibung zu einem Gifte zu gestalten — all das führt geradezu zu jener Untergrabung der Grundlagen eines wahren, eines gesunden, eines stetigen Fortschritts und zugleich zur Fälschung der geschichtlichen Wahrheit; denn wer nach einem oder zweien Menschenaltern aus den Brandschriften dieser Sorte von Reformern ein Bild des deutschen Unterrichts- und Erziehungswesens unsrer höhern Stunde aus dem Ende des neunzehnten, dem Beginne des zwanzigsten Jahrhunderts ent¬ werfen wollte, müßte ein Zerrbild schaffen, wie es uns etwa aus einem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/572
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/572>, abgerufen am 23.07.2024.