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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Adolf Stern

jener Hang zum Konstruieren überwunden und drückt den genommnen Flug
hin und wieder herab, aber oft genug gelingt hier Stern etwas restlos Schönes
und Lebensvolles. Mit gleicher Kunst handhabt er die historische wie die moderne
Novelle, und wenn man jene Worte über den historischen Roman irmtgM
inutitnäi8 auf die historische Novelle überträgt, so hat Stern hier oft bis zum
Letzten den strengen künstlerischen Anforderungen genügt, die er selbst sich und
andern gesetzt hat. Ganz wundervoll weiß Stern ohne großes Wortgedränge
die Stimmung zu geben, in der sich seine Handlung bewegt, so überall in den
venezianischen Novellen, so geradezu glänzend in dem Eingang der Novelle
"Vor Leyden". Die große dichterische Kunst, uns eine eigenartige und zunächst
rätselhafte Situation genau so allmählich erfassen zu lassen, wie sie der mit¬
erlebende Zuschauer erfassen mußte, übt er hier mit Meisterstärke aus, und
ähnlich fein und echt setzt zum Beispiel das "Weihnachtsvratorium" ein, ohne
daß freilich hier die Durchkomposition ganz so gelungen wäre. Und wie lebendig
wirkt das Stückchen Dreißigjähriger Krieg, das in der "Flut des Lebens" von
Stern hingestellt wird. Natur und die Stimme der Menschenbrust wirken
immer wieder zusammen, um den richtigen Eindruck zu geben, und wenn Gegen¬
sätze aufeinanderstoßen, so empfinden wir hier immer wieder die echte Wieder¬
gabe des Lebens.

Nun ist ja gerade dieser Begriff "echte Wiedergabe des Lebens" so streitig
in der Ästhetik und in der Literaturgeschichte wie kaum ein zweiter. Mit einer
gewissen Ausschließlichkeit wird von der einen Seite der Naturalismus in seinen
verschiednen Färbungen, von der andern ein bestimmter abgeklärter Realismus,
von der dritten gar unwirkliche Schönfärberei, von der vierten ein Mittelding
von allem diesem verlangt, und die Reihe ließe sich noch fortspinnen. Mir scheint,
daß uns der Reichtum deutscher Prosadichtung allmählich gelehrt hat, daß kein
Stil der Darstellung der einzige und allein berechtigte zu sein den Anspruch hat.
Wer das Leben in einer Heysischen Meisternovelle nicht herausempfindet, weil
er es nur in dem modernen Realismus Fontanes puiser fühlt, oder wer Raabe
weniger lebenswahr als Keller findet, weil er krauser ist als dieser, wer Gerhart
Hauptmanns "Bahnwärter Thiel" so ausschließlich dem Leben abgelauscht findet,
daß ihm Wildenbruchs "Francesca von Rimini" erlogen und leblos erscheint -- mit
dem kann ich freilich nicht rechten, und am wenigsten bei Gelegenheit Adolf
Sterns. Wer aber findet, daß (persönlicher Vorliebe unbeschadet) jeder dieser
Dichter das Recht auf seinen Stil hat, wenn er ihn nur aus einer wahrhaft
poetischen Natur, einem menschlichen Herzen und einer nie ins Publikum schielenden
Hingebung an sein Gedicht heransgestaltet, der wird den poetischen Realismus
von Adolf Sterns besten Novellen als echt und lebensvoll empfinden müssen.
Sind bei den Romanen Einflüsse Spielhagens, Tiecks festzustellen, erinnern die
modernen Werke zum Beispiel auch an August Niemanns ältere Arbeiten ("Bakchen
und Thyrsosträger"), die sie an poetischem Gehalt freilich weit übertreffen, so
wird bei den Novellen an Riehl zu denken sein, ohne daß ich aber hier eine


Adolf Stern

jener Hang zum Konstruieren überwunden und drückt den genommnen Flug
hin und wieder herab, aber oft genug gelingt hier Stern etwas restlos Schönes
und Lebensvolles. Mit gleicher Kunst handhabt er die historische wie die moderne
Novelle, und wenn man jene Worte über den historischen Roman irmtgM
inutitnäi8 auf die historische Novelle überträgt, so hat Stern hier oft bis zum
Letzten den strengen künstlerischen Anforderungen genügt, die er selbst sich und
andern gesetzt hat. Ganz wundervoll weiß Stern ohne großes Wortgedränge
die Stimmung zu geben, in der sich seine Handlung bewegt, so überall in den
venezianischen Novellen, so geradezu glänzend in dem Eingang der Novelle
„Vor Leyden". Die große dichterische Kunst, uns eine eigenartige und zunächst
rätselhafte Situation genau so allmählich erfassen zu lassen, wie sie der mit¬
erlebende Zuschauer erfassen mußte, übt er hier mit Meisterstärke aus, und
ähnlich fein und echt setzt zum Beispiel das „Weihnachtsvratorium" ein, ohne
daß freilich hier die Durchkomposition ganz so gelungen wäre. Und wie lebendig
wirkt das Stückchen Dreißigjähriger Krieg, das in der „Flut des Lebens" von
Stern hingestellt wird. Natur und die Stimme der Menschenbrust wirken
immer wieder zusammen, um den richtigen Eindruck zu geben, und wenn Gegen¬
sätze aufeinanderstoßen, so empfinden wir hier immer wieder die echte Wieder¬
gabe des Lebens.

Nun ist ja gerade dieser Begriff „echte Wiedergabe des Lebens" so streitig
in der Ästhetik und in der Literaturgeschichte wie kaum ein zweiter. Mit einer
gewissen Ausschließlichkeit wird von der einen Seite der Naturalismus in seinen
verschiednen Färbungen, von der andern ein bestimmter abgeklärter Realismus,
von der dritten gar unwirkliche Schönfärberei, von der vierten ein Mittelding
von allem diesem verlangt, und die Reihe ließe sich noch fortspinnen. Mir scheint,
daß uns der Reichtum deutscher Prosadichtung allmählich gelehrt hat, daß kein
Stil der Darstellung der einzige und allein berechtigte zu sein den Anspruch hat.
Wer das Leben in einer Heysischen Meisternovelle nicht herausempfindet, weil
er es nur in dem modernen Realismus Fontanes puiser fühlt, oder wer Raabe
weniger lebenswahr als Keller findet, weil er krauser ist als dieser, wer Gerhart
Hauptmanns „Bahnwärter Thiel" so ausschließlich dem Leben abgelauscht findet,
daß ihm Wildenbruchs „Francesca von Rimini" erlogen und leblos erscheint — mit
dem kann ich freilich nicht rechten, und am wenigsten bei Gelegenheit Adolf
Sterns. Wer aber findet, daß (persönlicher Vorliebe unbeschadet) jeder dieser
Dichter das Recht auf seinen Stil hat, wenn er ihn nur aus einer wahrhaft
poetischen Natur, einem menschlichen Herzen und einer nie ins Publikum schielenden
Hingebung an sein Gedicht heransgestaltet, der wird den poetischen Realismus
von Adolf Sterns besten Novellen als echt und lebensvoll empfinden müssen.
Sind bei den Romanen Einflüsse Spielhagens, Tiecks festzustellen, erinnern die
modernen Werke zum Beispiel auch an August Niemanns ältere Arbeiten („Bakchen
und Thyrsosträger"), die sie an poetischem Gehalt freilich weit übertreffen, so
wird bei den Novellen an Riehl zu denken sein, ohne daß ich aber hier eine


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[0526] Adolf Stern jener Hang zum Konstruieren überwunden und drückt den genommnen Flug hin und wieder herab, aber oft genug gelingt hier Stern etwas restlos Schönes und Lebensvolles. Mit gleicher Kunst handhabt er die historische wie die moderne Novelle, und wenn man jene Worte über den historischen Roman irmtgM inutitnäi8 auf die historische Novelle überträgt, so hat Stern hier oft bis zum Letzten den strengen künstlerischen Anforderungen genügt, die er selbst sich und andern gesetzt hat. Ganz wundervoll weiß Stern ohne großes Wortgedränge die Stimmung zu geben, in der sich seine Handlung bewegt, so überall in den venezianischen Novellen, so geradezu glänzend in dem Eingang der Novelle „Vor Leyden". Die große dichterische Kunst, uns eine eigenartige und zunächst rätselhafte Situation genau so allmählich erfassen zu lassen, wie sie der mit¬ erlebende Zuschauer erfassen mußte, übt er hier mit Meisterstärke aus, und ähnlich fein und echt setzt zum Beispiel das „Weihnachtsvratorium" ein, ohne daß freilich hier die Durchkomposition ganz so gelungen wäre. Und wie lebendig wirkt das Stückchen Dreißigjähriger Krieg, das in der „Flut des Lebens" von Stern hingestellt wird. Natur und die Stimme der Menschenbrust wirken immer wieder zusammen, um den richtigen Eindruck zu geben, und wenn Gegen¬ sätze aufeinanderstoßen, so empfinden wir hier immer wieder die echte Wieder¬ gabe des Lebens. Nun ist ja gerade dieser Begriff „echte Wiedergabe des Lebens" so streitig in der Ästhetik und in der Literaturgeschichte wie kaum ein zweiter. Mit einer gewissen Ausschließlichkeit wird von der einen Seite der Naturalismus in seinen verschiednen Färbungen, von der andern ein bestimmter abgeklärter Realismus, von der dritten gar unwirkliche Schönfärberei, von der vierten ein Mittelding von allem diesem verlangt, und die Reihe ließe sich noch fortspinnen. Mir scheint, daß uns der Reichtum deutscher Prosadichtung allmählich gelehrt hat, daß kein Stil der Darstellung der einzige und allein berechtigte zu sein den Anspruch hat. Wer das Leben in einer Heysischen Meisternovelle nicht herausempfindet, weil er es nur in dem modernen Realismus Fontanes puiser fühlt, oder wer Raabe weniger lebenswahr als Keller findet, weil er krauser ist als dieser, wer Gerhart Hauptmanns „Bahnwärter Thiel" so ausschließlich dem Leben abgelauscht findet, daß ihm Wildenbruchs „Francesca von Rimini" erlogen und leblos erscheint — mit dem kann ich freilich nicht rechten, und am wenigsten bei Gelegenheit Adolf Sterns. Wer aber findet, daß (persönlicher Vorliebe unbeschadet) jeder dieser Dichter das Recht auf seinen Stil hat, wenn er ihn nur aus einer wahrhaft poetischen Natur, einem menschlichen Herzen und einer nie ins Publikum schielenden Hingebung an sein Gedicht heransgestaltet, der wird den poetischen Realismus von Adolf Sterns besten Novellen als echt und lebensvoll empfinden müssen. Sind bei den Romanen Einflüsse Spielhagens, Tiecks festzustellen, erinnern die modernen Werke zum Beispiel auch an August Niemanns ältere Arbeiten („Bakchen und Thyrsosträger"), die sie an poetischem Gehalt freilich weit übertreffen, so wird bei den Novellen an Riehl zu denken sein, ohne daß ich aber hier eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/526>, abgerufen am 23.07.2024.