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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Wahlrecht und Idealismus

den wichtigsten Gebieten, dem wirtschaftlichen Ausbau des Staats und der
Sicherung der Ostmarken, mit Verständnis und Patriotismus. Daß es die
Interessen des Staats auch gegen unfertige und deswegen die Grundlagen des
Staatswesens gefährdende Regierungspläne überzeugungstreu zu vertreten fähig
geblieben ist, zeigt die Geschichte der Kanalvorlage. Bei der Beratung der
preußischen Einkommensteuergesetznovelle im Dezember 1905 ließ sich der Finanz¬
minister von Rheinbaben folgendermaßen vernehmen: "Die größern Einkommen
von über 9500 Mark, die bisher nur 31 Prozent der Steuerlast aufgebracht
hatten, brachten (nach dem Inkrafttreten des Einkommensteuergesetzes von 1891)
mit einem Schlage 45 Prozent auf, also fast um die Hülste mehr. Meine
Herren, das ist ein Gesetz, das erlassen worden ist von einem auf dem Drei¬
klassenwahlrecht beruhenden Parlament; es ist ein glänzendes Zeugnis für die
Selbstlosigkeit der besitzenden Klassen und dieses Parlaments, daß sie sich selbst
diese großen Lasten auferlegt haben. Das möchte ich hier gegenüber all den
Deduktionen, als ob die besitzenden Klassen bei uns in Preußen und in Deutsch¬
land sich ihren Verpflichtungen entziehen, ausdrücklich feststellen." Wer ein
solches, mit beweiskräftigen Tatsachen belegtes Zeugnis vorweisen kann, braucht
den Vergleich mit andern Parlamenten nicht zu scheuen, mögen sich diese auch
damit schmeicheln, als Produkte des allgemeinen gleichen Stimmrechts eine
photographisch genauere Darstellung der Volksmeinung zu bilden.

Daß für das indirekte Wahlverfahren Gründe sprechen, läßt sich bei un¬
befangner Betrachtung wohl nicht verkennen. Denn für große Massen der
Wühler wird es immer zutreffend bleiben, daß die Frage, ob sie weit umher
im deutschen Vaterland einen Mann kennen, den sie als Gesetzgeber ins Parla¬
ment schicken wollen, vollständig über ihrem Horizont liegt, während sie die
Frage klar zu beantworten vermögen, ob sie unter ihrer nächsten Umgebung
einen Mann anzugeben wissen, den sie für das Wahlgeschäft befähigt erachten.
Es kann aber zugegeben werden, daß die Einführung direkter Wahl nicht von
grundsätzlicher und kaum von großer politischer Bedeutung ist.

Ein Unheil würde aber die Einführung der geheimen Stimmabgabe sein.
Bismarcks Stellung zu dieser Frage ist bekannt. Er hat sich die vom kon¬
stituierenden Reichstag in die Verfassung des Norddeutschen Bundes hinein¬
gebrachte Heimlichkeit der Wahl von vornherein nur widerwillig gefallen lassen
und sich in den "Gedanken und Erinnerungen" aufs entschiedenste dagegen
ausgesprochen. Der Gedanke, daß diese Heimlichkeit mit den besten Eigenschaften
des germanischen Blutes in Widerspruch stehe, klingt auch in den Ausführungen an,
mit denen Graf Posadowsky, damals noch Landrat im Posenschen, im Jahre 1883
im preußischen Abgeordnetenhause dem fortschrittlichen Antrag auf Einführung
der geheimen Abstimmung bei den Wahlen zum Abgeordnetenhause und zu den
Kommunalvertretungen begegnete. Der Antrag überrasche ihn eigentlich von
der linken Seite des Hauses. "Sie waren es doch, die immer das Prinzip
der Öffentlichkeit und Mündlichkeit auf ihre Fahnen geschrieben haben, absolute


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den wichtigsten Gebieten, dem wirtschaftlichen Ausbau des Staats und der
Sicherung der Ostmarken, mit Verständnis und Patriotismus. Daß es die
Interessen des Staats auch gegen unfertige und deswegen die Grundlagen des
Staatswesens gefährdende Regierungspläne überzeugungstreu zu vertreten fähig
geblieben ist, zeigt die Geschichte der Kanalvorlage. Bei der Beratung der
preußischen Einkommensteuergesetznovelle im Dezember 1905 ließ sich der Finanz¬
minister von Rheinbaben folgendermaßen vernehmen: „Die größern Einkommen
von über 9500 Mark, die bisher nur 31 Prozent der Steuerlast aufgebracht
hatten, brachten (nach dem Inkrafttreten des Einkommensteuergesetzes von 1891)
mit einem Schlage 45 Prozent auf, also fast um die Hülste mehr. Meine
Herren, das ist ein Gesetz, das erlassen worden ist von einem auf dem Drei¬
klassenwahlrecht beruhenden Parlament; es ist ein glänzendes Zeugnis für die
Selbstlosigkeit der besitzenden Klassen und dieses Parlaments, daß sie sich selbst
diese großen Lasten auferlegt haben. Das möchte ich hier gegenüber all den
Deduktionen, als ob die besitzenden Klassen bei uns in Preußen und in Deutsch¬
land sich ihren Verpflichtungen entziehen, ausdrücklich feststellen." Wer ein
solches, mit beweiskräftigen Tatsachen belegtes Zeugnis vorweisen kann, braucht
den Vergleich mit andern Parlamenten nicht zu scheuen, mögen sich diese auch
damit schmeicheln, als Produkte des allgemeinen gleichen Stimmrechts eine
photographisch genauere Darstellung der Volksmeinung zu bilden.

Daß für das indirekte Wahlverfahren Gründe sprechen, läßt sich bei un¬
befangner Betrachtung wohl nicht verkennen. Denn für große Massen der
Wühler wird es immer zutreffend bleiben, daß die Frage, ob sie weit umher
im deutschen Vaterland einen Mann kennen, den sie als Gesetzgeber ins Parla¬
ment schicken wollen, vollständig über ihrem Horizont liegt, während sie die
Frage klar zu beantworten vermögen, ob sie unter ihrer nächsten Umgebung
einen Mann anzugeben wissen, den sie für das Wahlgeschäft befähigt erachten.
Es kann aber zugegeben werden, daß die Einführung direkter Wahl nicht von
grundsätzlicher und kaum von großer politischer Bedeutung ist.

Ein Unheil würde aber die Einführung der geheimen Stimmabgabe sein.
Bismarcks Stellung zu dieser Frage ist bekannt. Er hat sich die vom kon¬
stituierenden Reichstag in die Verfassung des Norddeutschen Bundes hinein¬
gebrachte Heimlichkeit der Wahl von vornherein nur widerwillig gefallen lassen
und sich in den „Gedanken und Erinnerungen" aufs entschiedenste dagegen
ausgesprochen. Der Gedanke, daß diese Heimlichkeit mit den besten Eigenschaften
des germanischen Blutes in Widerspruch stehe, klingt auch in den Ausführungen an,
mit denen Graf Posadowsky, damals noch Landrat im Posenschen, im Jahre 1883
im preußischen Abgeordnetenhause dem fortschrittlichen Antrag auf Einführung
der geheimen Abstimmung bei den Wahlen zum Abgeordnetenhause und zu den
Kommunalvertretungen begegnete. Der Antrag überrasche ihn eigentlich von
der linken Seite des Hauses. „Sie waren es doch, die immer das Prinzip
der Öffentlichkeit und Mündlichkeit auf ihre Fahnen geschrieben haben, absolute


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/508>, abgerufen am 23.07.2024.