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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Wahlrecht und Idealismus

Macht unter den Füßen fortgezogen. Jene Wandlung war die Tat des politischen
Genies, dieser Vorgang lag in natürlichen Umständen und besondern wirt¬
schaftlichen Verhältnissen begründet. Das allgemeine gleiche Wahlrecht gibt
von vornherein den Parteien einen ungeheuern Vorsprung, die aufs Ganze
gehen, den Massen den Himmel auf Erden versprechen oder die Hölle
im Himmel androhen. Es gewährt dem Stimmensang durch Vorspieglung
sozialistischer Utopien und der klerikalen Beeinflussung den weitesten Spielraum
und drängt die Parteien, die die Grenzen des Erreichbaren in ihren Forderungen
und Versprechungen beachten und den Gewissenszwang nicht für sich arbeiten
lassen können, ohne weiteres in das Hintertreffen. Ein so unermeßliches An¬
wachsen der in dem allgemeinen gleichen Stimmrecht liegenden Gefahr konnte
1867 freilich niemand voraussehen, denn daß die nächste Generation eine mit
ihrem Internationalismus, ihrer Feindschaft gegen den historischen monarchischen
Staat und der Betonung des Klasseninteresses geradezu renommierende Millionen-
Partei sehen werde, lag außerhalb der Berechnungen dieser in politischen Kämpfen
lebenden, die soziale Entwicklung nicht ahnenden Zeit.

Wie blutiger Hohn klingt es uns jetzt, wenn wir in Bismarcks Rede für
das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht im verfassunggebenden Reichstage des
Norddeutschen Bundes von der ziemlich allgemeinen Wahrnehmung lesen, daß
das direkte Wahlrecht bedeutendere Kapazitäten in das Parlament bringe als
das indirekte. Deutlich verspürt man die Erinnerung an die Fülle von Geistes¬
adel, die sich einst in der Paulskirche zusammengefunden hatte, in der "deutschen
Nationalversammlung", die der Historiker nur leider nicht als eine wirkliche
Vertretung des deutschen Volks in allen seinen Teilen anerkennen kann. Be¬
gegnen wir jetzt noch in irgendeinem demokratischen Blättchen der Meinung,
daß das Niveau der Parlamente um so höher sei, je demokratischer das Wahl¬
recht, so regen wir uns nicht sonderlich auf und überlassen es diesen Zeitungs¬
auguren, sich zuzublinzeln. Die nicht alle werden, können wir ihnen als dank¬
bares Publikum nicht abspenstig machen, sie werden auch künftig ein Bild im
Simplicissimus. das das preußische Herrenhaus als eine Versammlung von
Trotteln darstellt, als einen feinen Witz belachen.

Sein Hauptargument gegen den indirekten Wahlmodus hatte Bismarck in
dem schon einmal erwähnten Schreiben an Graf Bernstorff dargelegt. "Die
Träger der Revolution sind die Wahlmännerkollegien, welche der Arbeit der
Umsturzpartei ein über das Land verbreitetes und leicht zu handhabendes Netz
gewähren -- wie es 1789 die Pariser Äövtsurs gezeigt haben. Ich stehe nicht
an. indirekte Wahlen für eins der wesentlichsten Hilfsmittel der Revolution zu
erklären." Auch diese Auffassung ist durch den weitern Verlauf der Geschichte
ac! absuräuw geführt worden. Das preußische Abgeordnetenhaus hat sich, in¬
folge der freilich hauptsächlich Bismarcks Verdienst darstellenden politischen Er¬
ziehung der gebildeten und besitzenden Klassen, immer mehr zu einem Bollwerk
des monarchischen Staates entwickelt und erfüllt seit Jahren seine Aufgaben auf


Wahlrecht und Idealismus

Macht unter den Füßen fortgezogen. Jene Wandlung war die Tat des politischen
Genies, dieser Vorgang lag in natürlichen Umständen und besondern wirt¬
schaftlichen Verhältnissen begründet. Das allgemeine gleiche Wahlrecht gibt
von vornherein den Parteien einen ungeheuern Vorsprung, die aufs Ganze
gehen, den Massen den Himmel auf Erden versprechen oder die Hölle
im Himmel androhen. Es gewährt dem Stimmensang durch Vorspieglung
sozialistischer Utopien und der klerikalen Beeinflussung den weitesten Spielraum
und drängt die Parteien, die die Grenzen des Erreichbaren in ihren Forderungen
und Versprechungen beachten und den Gewissenszwang nicht für sich arbeiten
lassen können, ohne weiteres in das Hintertreffen. Ein so unermeßliches An¬
wachsen der in dem allgemeinen gleichen Stimmrecht liegenden Gefahr konnte
1867 freilich niemand voraussehen, denn daß die nächste Generation eine mit
ihrem Internationalismus, ihrer Feindschaft gegen den historischen monarchischen
Staat und der Betonung des Klasseninteresses geradezu renommierende Millionen-
Partei sehen werde, lag außerhalb der Berechnungen dieser in politischen Kämpfen
lebenden, die soziale Entwicklung nicht ahnenden Zeit.

Wie blutiger Hohn klingt es uns jetzt, wenn wir in Bismarcks Rede für
das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht im verfassunggebenden Reichstage des
Norddeutschen Bundes von der ziemlich allgemeinen Wahrnehmung lesen, daß
das direkte Wahlrecht bedeutendere Kapazitäten in das Parlament bringe als
das indirekte. Deutlich verspürt man die Erinnerung an die Fülle von Geistes¬
adel, die sich einst in der Paulskirche zusammengefunden hatte, in der „deutschen
Nationalversammlung", die der Historiker nur leider nicht als eine wirkliche
Vertretung des deutschen Volks in allen seinen Teilen anerkennen kann. Be¬
gegnen wir jetzt noch in irgendeinem demokratischen Blättchen der Meinung,
daß das Niveau der Parlamente um so höher sei, je demokratischer das Wahl¬
recht, so regen wir uns nicht sonderlich auf und überlassen es diesen Zeitungs¬
auguren, sich zuzublinzeln. Die nicht alle werden, können wir ihnen als dank¬
bares Publikum nicht abspenstig machen, sie werden auch künftig ein Bild im
Simplicissimus. das das preußische Herrenhaus als eine Versammlung von
Trotteln darstellt, als einen feinen Witz belachen.

Sein Hauptargument gegen den indirekten Wahlmodus hatte Bismarck in
dem schon einmal erwähnten Schreiben an Graf Bernstorff dargelegt. „Die
Träger der Revolution sind die Wahlmännerkollegien, welche der Arbeit der
Umsturzpartei ein über das Land verbreitetes und leicht zu handhabendes Netz
gewähren — wie es 1789 die Pariser Äövtsurs gezeigt haben. Ich stehe nicht
an. indirekte Wahlen für eins der wesentlichsten Hilfsmittel der Revolution zu
erklären." Auch diese Auffassung ist durch den weitern Verlauf der Geschichte
ac! absuräuw geführt worden. Das preußische Abgeordnetenhaus hat sich, in¬
folge der freilich hauptsächlich Bismarcks Verdienst darstellenden politischen Er¬
ziehung der gebildeten und besitzenden Klassen, immer mehr zu einem Bollwerk
des monarchischen Staates entwickelt und erfüllt seit Jahren seine Aufgaben auf


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[0507] Wahlrecht und Idealismus Macht unter den Füßen fortgezogen. Jene Wandlung war die Tat des politischen Genies, dieser Vorgang lag in natürlichen Umständen und besondern wirt¬ schaftlichen Verhältnissen begründet. Das allgemeine gleiche Wahlrecht gibt von vornherein den Parteien einen ungeheuern Vorsprung, die aufs Ganze gehen, den Massen den Himmel auf Erden versprechen oder die Hölle im Himmel androhen. Es gewährt dem Stimmensang durch Vorspieglung sozialistischer Utopien und der klerikalen Beeinflussung den weitesten Spielraum und drängt die Parteien, die die Grenzen des Erreichbaren in ihren Forderungen und Versprechungen beachten und den Gewissenszwang nicht für sich arbeiten lassen können, ohne weiteres in das Hintertreffen. Ein so unermeßliches An¬ wachsen der in dem allgemeinen gleichen Stimmrecht liegenden Gefahr konnte 1867 freilich niemand voraussehen, denn daß die nächste Generation eine mit ihrem Internationalismus, ihrer Feindschaft gegen den historischen monarchischen Staat und der Betonung des Klasseninteresses geradezu renommierende Millionen- Partei sehen werde, lag außerhalb der Berechnungen dieser in politischen Kämpfen lebenden, die soziale Entwicklung nicht ahnenden Zeit. Wie blutiger Hohn klingt es uns jetzt, wenn wir in Bismarcks Rede für das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht im verfassunggebenden Reichstage des Norddeutschen Bundes von der ziemlich allgemeinen Wahrnehmung lesen, daß das direkte Wahlrecht bedeutendere Kapazitäten in das Parlament bringe als das indirekte. Deutlich verspürt man die Erinnerung an die Fülle von Geistes¬ adel, die sich einst in der Paulskirche zusammengefunden hatte, in der „deutschen Nationalversammlung", die der Historiker nur leider nicht als eine wirkliche Vertretung des deutschen Volks in allen seinen Teilen anerkennen kann. Be¬ gegnen wir jetzt noch in irgendeinem demokratischen Blättchen der Meinung, daß das Niveau der Parlamente um so höher sei, je demokratischer das Wahl¬ recht, so regen wir uns nicht sonderlich auf und überlassen es diesen Zeitungs¬ auguren, sich zuzublinzeln. Die nicht alle werden, können wir ihnen als dank¬ bares Publikum nicht abspenstig machen, sie werden auch künftig ein Bild im Simplicissimus. das das preußische Herrenhaus als eine Versammlung von Trotteln darstellt, als einen feinen Witz belachen. Sein Hauptargument gegen den indirekten Wahlmodus hatte Bismarck in dem schon einmal erwähnten Schreiben an Graf Bernstorff dargelegt. „Die Träger der Revolution sind die Wahlmännerkollegien, welche der Arbeit der Umsturzpartei ein über das Land verbreitetes und leicht zu handhabendes Netz gewähren — wie es 1789 die Pariser Äövtsurs gezeigt haben. Ich stehe nicht an. indirekte Wahlen für eins der wesentlichsten Hilfsmittel der Revolution zu erklären." Auch diese Auffassung ist durch den weitern Verlauf der Geschichte ac! absuräuw geführt worden. Das preußische Abgeordnetenhaus hat sich, in¬ folge der freilich hauptsächlich Bismarcks Verdienst darstellenden politischen Er¬ ziehung der gebildeten und besitzenden Klassen, immer mehr zu einem Bollwerk des monarchischen Staates entwickelt und erfüllt seit Jahren seine Aufgaben auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/507>, abgerufen am 23.07.2024.