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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Wahlrecht und Idealismus

allgemeinen Wahlrechts gewonnen haben. Ob diese Beobachtung richtig ist,
möge jeder nach seinen Erfahrungen beantworten. Man wird, glaube ich, finden,
daß sich die Urteilsfähigkeit der Massen nicht annähernd in demselben Maße
gesteigert hat, in dem dieFähigkeit der Agitatoren, urteilslose Massen zu belügen,
im Zeitalter des allgemeinen gleichen Wahlrechts vervollkommnet worden ist.
Daß Hamburg aus Grund der Stimmabgabe der überwältigenden Mehrzahl
seiner Bevölkerung im Reichstage durch drei Sozialdemokraten vertreten wird,
gibt vielleicht denen, die von der gleichen Einsicht aller träumen, manchmal zu
denken. Mir liegt das Beispiel eines überwiegend ländlichen mitteldeutschen
Reichstagswahlkreises näher, der jahrzehntelang einen Abgeordneten in den
Reichstag entsandte, der nach seiner offiziellen Parteizugehörigkeit und seinen
Abstimmungen -- oratorische Betätigung versagte er sich glücklicherweise -- als
deutschfreisinnig angesprochen werden mußte, jedenfalls eine deutschfreisinnige
Stimme repräsentierte. Die werbende Kraft seiner Persönlichkeit bestand in der
Tatsache, daß er ein bäuerlicher Besitzer war. die Interessen dieses Standes
"also" besser als jeder andre Kandidat zu vertreten der Mann war.

Es ist hierbei immer davon ausgegangen, daß der UrWähler Hödur das
Beste des Vaterlands will, daß es seine bewußte Absicht nicht ist. das All¬
gemeinwohl seinen Sonderinteressen zu opfern. Wenn sich der Patriot rück¬
blickend die Hoffnungen vergegenwärtigt, die Bismarck und mit ihm so viele der
Besten an die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts knüpften, so
schnürt ihm der Schmerz die Brust zusammen. In dem Partikulansmus der
Dynastien und Fürsten und in dem öden Doktrinarismus der durch den Zensus
des Preußischen Wahlrechts privilegierten Schicht der kryptorepublikanischen
größern und mittlern Kapitalisten sah er die Gefahr, und wie Roon auf dem
Schlachtfelde von Königgrätz ihm jubelnd zurief: Diesmal hat uns der brave
Musketier noch herausgerissen, so baute er auf den gesunden, Staats- und kömgs-
treuen Sinn des Kerns und der Massen des Volks. ..In einem Lande mit
monarchischen Traditionen und loyaler Gesinnung wird das allgemeine Stunm-
recht. indem es die Einflüsse der liberalen Bourgeoisieklasscn beseitigt, auch zu
monarchischen Wahlen führen, ebenso wie in Ländern, wo ^ Massen revo ukonar
fühlen, zu anarchischen. In Preußen aber sind neun Zehntel des Volks dem
Könige treu und durch den künstlichen Mechanismus der Wahl um den Aus¬
druck ihrer Meinung gebracht.- (Note an Graf Bernstorff vom 19 Sep¬
tember 1866) Daß die politische Entwicklung ihm Unrecht gegeben hat. steht
jeder. Der alte Bundestag hatte sich einst bei seinem Scheintod im Jahre 1348
von der bayrischen Regierung nachsagen lassen müssen: ..Anfangs em Gegen¬
stand des Mißtrauens, dann der kalten Anwiderung." So mancher deutsche
Patriot prophezeite dem neuen Bundesrat eine ähnliche Beurteilung durch
spätere Geschlechter - fünfundzwanzig Jahre nach der Aufrichtung des Reichs
konnte es der schroffste Unitarier, der inzwischen aus einem Saulus em
Paulus geworden war. Heinrich von Treitschke. aussprechen: "Noch niemals


Grenzboten IV 1907
Wahlrecht und Idealismus

allgemeinen Wahlrechts gewonnen haben. Ob diese Beobachtung richtig ist,
möge jeder nach seinen Erfahrungen beantworten. Man wird, glaube ich, finden,
daß sich die Urteilsfähigkeit der Massen nicht annähernd in demselben Maße
gesteigert hat, in dem dieFähigkeit der Agitatoren, urteilslose Massen zu belügen,
im Zeitalter des allgemeinen gleichen Wahlrechts vervollkommnet worden ist.
Daß Hamburg aus Grund der Stimmabgabe der überwältigenden Mehrzahl
seiner Bevölkerung im Reichstage durch drei Sozialdemokraten vertreten wird,
gibt vielleicht denen, die von der gleichen Einsicht aller träumen, manchmal zu
denken. Mir liegt das Beispiel eines überwiegend ländlichen mitteldeutschen
Reichstagswahlkreises näher, der jahrzehntelang einen Abgeordneten in den
Reichstag entsandte, der nach seiner offiziellen Parteizugehörigkeit und seinen
Abstimmungen — oratorische Betätigung versagte er sich glücklicherweise — als
deutschfreisinnig angesprochen werden mußte, jedenfalls eine deutschfreisinnige
Stimme repräsentierte. Die werbende Kraft seiner Persönlichkeit bestand in der
Tatsache, daß er ein bäuerlicher Besitzer war. die Interessen dieses Standes
»also" besser als jeder andre Kandidat zu vertreten der Mann war.

Es ist hierbei immer davon ausgegangen, daß der UrWähler Hödur das
Beste des Vaterlands will, daß es seine bewußte Absicht nicht ist. das All¬
gemeinwohl seinen Sonderinteressen zu opfern. Wenn sich der Patriot rück¬
blickend die Hoffnungen vergegenwärtigt, die Bismarck und mit ihm so viele der
Besten an die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts knüpften, so
schnürt ihm der Schmerz die Brust zusammen. In dem Partikulansmus der
Dynastien und Fürsten und in dem öden Doktrinarismus der durch den Zensus
des Preußischen Wahlrechts privilegierten Schicht der kryptorepublikanischen
größern und mittlern Kapitalisten sah er die Gefahr, und wie Roon auf dem
Schlachtfelde von Königgrätz ihm jubelnd zurief: Diesmal hat uns der brave
Musketier noch herausgerissen, so baute er auf den gesunden, Staats- und kömgs-
treuen Sinn des Kerns und der Massen des Volks. ..In einem Lande mit
monarchischen Traditionen und loyaler Gesinnung wird das allgemeine Stunm-
recht. indem es die Einflüsse der liberalen Bourgeoisieklasscn beseitigt, auch zu
monarchischen Wahlen führen, ebenso wie in Ländern, wo ^ Massen revo ukonar
fühlen, zu anarchischen. In Preußen aber sind neun Zehntel des Volks dem
Könige treu und durch den künstlichen Mechanismus der Wahl um den Aus¬
druck ihrer Meinung gebracht.- (Note an Graf Bernstorff vom 19 Sep¬
tember 1866) Daß die politische Entwicklung ihm Unrecht gegeben hat. steht
jeder. Der alte Bundestag hatte sich einst bei seinem Scheintod im Jahre 1348
von der bayrischen Regierung nachsagen lassen müssen: ..Anfangs em Gegen¬
stand des Mißtrauens, dann der kalten Anwiderung." So mancher deutsche
Patriot prophezeite dem neuen Bundesrat eine ähnliche Beurteilung durch
spätere Geschlechter - fünfundzwanzig Jahre nach der Aufrichtung des Reichs
konnte es der schroffste Unitarier, der inzwischen aus einem Saulus em
Paulus geworden war. Heinrich von Treitschke. aussprechen: „Noch niemals


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[0505] Wahlrecht und Idealismus allgemeinen Wahlrechts gewonnen haben. Ob diese Beobachtung richtig ist, möge jeder nach seinen Erfahrungen beantworten. Man wird, glaube ich, finden, daß sich die Urteilsfähigkeit der Massen nicht annähernd in demselben Maße gesteigert hat, in dem dieFähigkeit der Agitatoren, urteilslose Massen zu belügen, im Zeitalter des allgemeinen gleichen Wahlrechts vervollkommnet worden ist. Daß Hamburg aus Grund der Stimmabgabe der überwältigenden Mehrzahl seiner Bevölkerung im Reichstage durch drei Sozialdemokraten vertreten wird, gibt vielleicht denen, die von der gleichen Einsicht aller träumen, manchmal zu denken. Mir liegt das Beispiel eines überwiegend ländlichen mitteldeutschen Reichstagswahlkreises näher, der jahrzehntelang einen Abgeordneten in den Reichstag entsandte, der nach seiner offiziellen Parteizugehörigkeit und seinen Abstimmungen — oratorische Betätigung versagte er sich glücklicherweise — als deutschfreisinnig angesprochen werden mußte, jedenfalls eine deutschfreisinnige Stimme repräsentierte. Die werbende Kraft seiner Persönlichkeit bestand in der Tatsache, daß er ein bäuerlicher Besitzer war. die Interessen dieses Standes »also" besser als jeder andre Kandidat zu vertreten der Mann war. Es ist hierbei immer davon ausgegangen, daß der UrWähler Hödur das Beste des Vaterlands will, daß es seine bewußte Absicht nicht ist. das All¬ gemeinwohl seinen Sonderinteressen zu opfern. Wenn sich der Patriot rück¬ blickend die Hoffnungen vergegenwärtigt, die Bismarck und mit ihm so viele der Besten an die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts knüpften, so schnürt ihm der Schmerz die Brust zusammen. In dem Partikulansmus der Dynastien und Fürsten und in dem öden Doktrinarismus der durch den Zensus des Preußischen Wahlrechts privilegierten Schicht der kryptorepublikanischen größern und mittlern Kapitalisten sah er die Gefahr, und wie Roon auf dem Schlachtfelde von Königgrätz ihm jubelnd zurief: Diesmal hat uns der brave Musketier noch herausgerissen, so baute er auf den gesunden, Staats- und kömgs- treuen Sinn des Kerns und der Massen des Volks. ..In einem Lande mit monarchischen Traditionen und loyaler Gesinnung wird das allgemeine Stunm- recht. indem es die Einflüsse der liberalen Bourgeoisieklasscn beseitigt, auch zu monarchischen Wahlen führen, ebenso wie in Ländern, wo ^ Massen revo ukonar fühlen, zu anarchischen. In Preußen aber sind neun Zehntel des Volks dem Könige treu und durch den künstlichen Mechanismus der Wahl um den Aus¬ druck ihrer Meinung gebracht.- (Note an Graf Bernstorff vom 19 Sep¬ tember 1866) Daß die politische Entwicklung ihm Unrecht gegeben hat. steht jeder. Der alte Bundestag hatte sich einst bei seinem Scheintod im Jahre 1348 von der bayrischen Regierung nachsagen lassen müssen: ..Anfangs em Gegen¬ stand des Mißtrauens, dann der kalten Anwiderung." So mancher deutsche Patriot prophezeite dem neuen Bundesrat eine ähnliche Beurteilung durch spätere Geschlechter - fünfundzwanzig Jahre nach der Aufrichtung des Reichs konnte es der schroffste Unitarier, der inzwischen aus einem Saulus em Paulus geworden war. Heinrich von Treitschke. aussprechen: „Noch niemals Grenzboten IV 1907

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/505>, abgerufen am 23.07.2024.