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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Wahlrecht und Idealismus

Wohl nur eine Ausflucht: die dürftigen Gründe, die in dem jetzigen Streit um
die Änderung des preußischen Wahlrechts für und wider vorgetragen werden,
lassen nicht gerade auf einen emdg-rras alö rivlissss schließen. Tatsächlich ist
seit Jahren die öffentliche Kritik des Neichstagswahlrechts so gut wie ver¬
stummt. Die Erwägung, daß, wie es der württembergische Minister von Mitt¬
nacht kurz und bündig ausgedrückt hat, die Masse nie zugeben werde, ihr
Wahlrecht sei schädlich, hat alle Reichstagsparteien dahin geführt, daß sie sich,
um nicht den Ast, auf dem sie sitzen, abzusägen, "voll und ganz" auf den
Boden des Reichstagswahlrechts gestellt haben. Bei jeder Reichstagswahl kann
man die Beobachtung machen, daß es kaum ein Kandidat wagt, sich das Recht
der Kritik gegenüber dem bestehenden Wahlrecht zu wahren und damit freilich
den gegnerischen Parteien die beste Waffe in die Hände zu drücken. Daß solche
Opportunitätspolitik zu den wenn auch beklagenswerten Notwendigkeiten des
realen Lebens gehöre, wird für den Idealisten mindestens zweifelhaft sein. Zur
Abwehr der Ausdehnung des allgemeinen, gleichen, direkten, geheimen Stimm¬
rechts auf Preußen müssen sich dagegen Idealismus und rein realpolitisches
Denken vorbehaltlos verbünden, denn dieses Wahlsystem beruht auf falschen
Voraussetzungen und hat demgemäß Früchte gezeitigt, die den Appetit nach
mehr nicht erregen.

Wenn irgendein politisches Herrschaftsrecht, müßte der Einfluß der Staats¬
bürger auf die Gesetzgebung von einem Befähigungsnachweis abhängig gemacht
und danach abgestuft werden. Aus dem Lager derer, die den Idealismus im
Munde führen, indem sie einen durch Phrasen erzeugten unklaren Optimismus
mit dem Idealismus verwechseln, schallt die Antwort, dieser Nachweis sei vom
deutschen Volk in seiner Gesamtheit längst erbracht worden. Früher hieß es:
durch die allgemeine Wehrpflicht, jetzt weist man statt dessen lieber auf den
Anteil der Arbeitermassen an dem wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands hin.
Daß Militärdienst und löbliche Friedensarbeit die natürliche Ungleichheit der
Menschen nicht aufheben, liegt aus der Hand, nicht minder, daß, wenn man die
Leistungen des Einzelnen für den Staat, unabhängig von ihrer intellektuellen
Qualifikation, zur Begründung politischer Rechte ins Feld führt, damit die Be¬
rechtigung einer Abstufung dieser Rechte nicht widerlegt, sondern anerkannt wird.
Wie dann aber die Differenzierung des Wahlrechts nach den steuerlichen
Leistungen für den Staat als ihrer Natur nach unvernünftig bekämpft werden
kann, verstehe, wer da will und kann. Daß dieser Maßstab der allein richtige
ist, hat noch kein Verteidiger des preußischen Klassenwahlrechts behauptet, be¬
achtenswert ist besonders der von Wilhelm nicht betonte Mangel einer Bevor¬
rechtigung der Familienväter, als der Vertreter der die Grundlage des Staates
bildenden gesellschaftlichen Organismen. Das allgemeine gleiche Recht aller ist
aber gewiß nichts besseres.

Einem Professor in Jena war die Entdeckung vorbehalten, daß die untern
und die mittlern Schichten unsers Volkes an politischer Einsicht infolge des


Wahlrecht und Idealismus

Wohl nur eine Ausflucht: die dürftigen Gründe, die in dem jetzigen Streit um
die Änderung des preußischen Wahlrechts für und wider vorgetragen werden,
lassen nicht gerade auf einen emdg-rras alö rivlissss schließen. Tatsächlich ist
seit Jahren die öffentliche Kritik des Neichstagswahlrechts so gut wie ver¬
stummt. Die Erwägung, daß, wie es der württembergische Minister von Mitt¬
nacht kurz und bündig ausgedrückt hat, die Masse nie zugeben werde, ihr
Wahlrecht sei schädlich, hat alle Reichstagsparteien dahin geführt, daß sie sich,
um nicht den Ast, auf dem sie sitzen, abzusägen, „voll und ganz" auf den
Boden des Reichstagswahlrechts gestellt haben. Bei jeder Reichstagswahl kann
man die Beobachtung machen, daß es kaum ein Kandidat wagt, sich das Recht
der Kritik gegenüber dem bestehenden Wahlrecht zu wahren und damit freilich
den gegnerischen Parteien die beste Waffe in die Hände zu drücken. Daß solche
Opportunitätspolitik zu den wenn auch beklagenswerten Notwendigkeiten des
realen Lebens gehöre, wird für den Idealisten mindestens zweifelhaft sein. Zur
Abwehr der Ausdehnung des allgemeinen, gleichen, direkten, geheimen Stimm¬
rechts auf Preußen müssen sich dagegen Idealismus und rein realpolitisches
Denken vorbehaltlos verbünden, denn dieses Wahlsystem beruht auf falschen
Voraussetzungen und hat demgemäß Früchte gezeitigt, die den Appetit nach
mehr nicht erregen.

Wenn irgendein politisches Herrschaftsrecht, müßte der Einfluß der Staats¬
bürger auf die Gesetzgebung von einem Befähigungsnachweis abhängig gemacht
und danach abgestuft werden. Aus dem Lager derer, die den Idealismus im
Munde führen, indem sie einen durch Phrasen erzeugten unklaren Optimismus
mit dem Idealismus verwechseln, schallt die Antwort, dieser Nachweis sei vom
deutschen Volk in seiner Gesamtheit längst erbracht worden. Früher hieß es:
durch die allgemeine Wehrpflicht, jetzt weist man statt dessen lieber auf den
Anteil der Arbeitermassen an dem wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands hin.
Daß Militärdienst und löbliche Friedensarbeit die natürliche Ungleichheit der
Menschen nicht aufheben, liegt aus der Hand, nicht minder, daß, wenn man die
Leistungen des Einzelnen für den Staat, unabhängig von ihrer intellektuellen
Qualifikation, zur Begründung politischer Rechte ins Feld führt, damit die Be¬
rechtigung einer Abstufung dieser Rechte nicht widerlegt, sondern anerkannt wird.
Wie dann aber die Differenzierung des Wahlrechts nach den steuerlichen
Leistungen für den Staat als ihrer Natur nach unvernünftig bekämpft werden
kann, verstehe, wer da will und kann. Daß dieser Maßstab der allein richtige
ist, hat noch kein Verteidiger des preußischen Klassenwahlrechts behauptet, be¬
achtenswert ist besonders der von Wilhelm nicht betonte Mangel einer Bevor¬
rechtigung der Familienväter, als der Vertreter der die Grundlage des Staates
bildenden gesellschaftlichen Organismen. Das allgemeine gleiche Recht aller ist
aber gewiß nichts besseres.

Einem Professor in Jena war die Entdeckung vorbehalten, daß die untern
und die mittlern Schichten unsers Volkes an politischer Einsicht infolge des


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[0504] Wahlrecht und Idealismus Wohl nur eine Ausflucht: die dürftigen Gründe, die in dem jetzigen Streit um die Änderung des preußischen Wahlrechts für und wider vorgetragen werden, lassen nicht gerade auf einen emdg-rras alö rivlissss schließen. Tatsächlich ist seit Jahren die öffentliche Kritik des Neichstagswahlrechts so gut wie ver¬ stummt. Die Erwägung, daß, wie es der württembergische Minister von Mitt¬ nacht kurz und bündig ausgedrückt hat, die Masse nie zugeben werde, ihr Wahlrecht sei schädlich, hat alle Reichstagsparteien dahin geführt, daß sie sich, um nicht den Ast, auf dem sie sitzen, abzusägen, „voll und ganz" auf den Boden des Reichstagswahlrechts gestellt haben. Bei jeder Reichstagswahl kann man die Beobachtung machen, daß es kaum ein Kandidat wagt, sich das Recht der Kritik gegenüber dem bestehenden Wahlrecht zu wahren und damit freilich den gegnerischen Parteien die beste Waffe in die Hände zu drücken. Daß solche Opportunitätspolitik zu den wenn auch beklagenswerten Notwendigkeiten des realen Lebens gehöre, wird für den Idealisten mindestens zweifelhaft sein. Zur Abwehr der Ausdehnung des allgemeinen, gleichen, direkten, geheimen Stimm¬ rechts auf Preußen müssen sich dagegen Idealismus und rein realpolitisches Denken vorbehaltlos verbünden, denn dieses Wahlsystem beruht auf falschen Voraussetzungen und hat demgemäß Früchte gezeitigt, die den Appetit nach mehr nicht erregen. Wenn irgendein politisches Herrschaftsrecht, müßte der Einfluß der Staats¬ bürger auf die Gesetzgebung von einem Befähigungsnachweis abhängig gemacht und danach abgestuft werden. Aus dem Lager derer, die den Idealismus im Munde führen, indem sie einen durch Phrasen erzeugten unklaren Optimismus mit dem Idealismus verwechseln, schallt die Antwort, dieser Nachweis sei vom deutschen Volk in seiner Gesamtheit längst erbracht worden. Früher hieß es: durch die allgemeine Wehrpflicht, jetzt weist man statt dessen lieber auf den Anteil der Arbeitermassen an dem wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands hin. Daß Militärdienst und löbliche Friedensarbeit die natürliche Ungleichheit der Menschen nicht aufheben, liegt aus der Hand, nicht minder, daß, wenn man die Leistungen des Einzelnen für den Staat, unabhängig von ihrer intellektuellen Qualifikation, zur Begründung politischer Rechte ins Feld führt, damit die Be¬ rechtigung einer Abstufung dieser Rechte nicht widerlegt, sondern anerkannt wird. Wie dann aber die Differenzierung des Wahlrechts nach den steuerlichen Leistungen für den Staat als ihrer Natur nach unvernünftig bekämpft werden kann, verstehe, wer da will und kann. Daß dieser Maßstab der allein richtige ist, hat noch kein Verteidiger des preußischen Klassenwahlrechts behauptet, be¬ achtenswert ist besonders der von Wilhelm nicht betonte Mangel einer Bevor¬ rechtigung der Familienväter, als der Vertreter der die Grundlage des Staates bildenden gesellschaftlichen Organismen. Das allgemeine gleiche Recht aller ist aber gewiß nichts besseres. Einem Professor in Jena war die Entdeckung vorbehalten, daß die untern und die mittlern Schichten unsers Volkes an politischer Einsicht infolge des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/504>, abgerufen am 23.07.2024.