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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Wahlrecht und Idealismus

Daß er dies Wahlrecht einführen müsse, weil es die Reichsverfassung für
die Reichstagswahlen angenommen habe, ist staatsrechtlich betrachtet natürlich
ebenfalls ein Trugschluß. Ob es überhaupt mit dem Wortlaut und dem Geist
der Reichsverfassung vereinbar wäre, von Reichs wegen auf einen Einzelstaat
einen Zwang in dieser innern Frage auszuüben, darüber sich zu unterhalten
ist praktisch im vorliegenden Falle ziemlich überflüssig. Denn selbst wenn man
theoretisch zur Bejahung der Kompetenzfrage gelangt, so ist ein solcher Eingriff
in das Selbstbestimmungsrecht des preußischen Staates doch nur auf Grund¬
lage einer neu in die Reichsverfassung aufzunehmenden Bestimmung denkbar.
Eine solche Verfassungsänderung ist aber nach Artikel 78 der Reichsverfassung
gegen die preußischen Stimmen im Bundesrat nicht durchzusetzen.

Etwas andres ist es freilich, ob nicht bei dem engen Zusammenhang
zwischen dem Reich und der Prüsidialmacht Preußen -- das Reich ist ja doch
nur das verlängerte Preußen, sagte Wilhelm der Erste -- eine ungefähre
Kongruenz des Reichstags und der preußischen Volksvertretung, wie man sie
von der Übereinstimmung der Wahlsysteme im Reich und in Preußen wohl
erwarten könnte, politisch notwendig oder doch erwünschter wäre als die jetzt
sicherlich viel größere Wahrscheinlichkeit, daß im Reichstag andre Parteien die
Majorität bilden als im preußischen Abgeordnetenhause. Diese Erwägung ist
nicht neu. Heinrich von Sybel hat schon in den Verhandlungen über die Ver¬
fassung des Norddeutschen Bundes im konstituierenden Reichstag 1867 auf die
Gefahren hingewiesen, die "aus etwa divergierenden und kollidierenden Richtungen
in beiden Versammlungen entspringen könnten", und damit der Befürchtung
Ausdruck verliehen, daß ein Kanzler, der sich im Reichstag auf Parteien zu
stützen genötigt sei, die sich im preußischen Abgeordnetenhause in der Minder¬
heit befinden, notwendig als preußischer Ministerpräsident in Konflikt mit dem
Landtage geraten werde und umgekehrt. Die Medaille hat aber eine sehr
beachtenswerte Kehrseite. Von der Majorität des preußischen Abgeordneten¬
hauses assistiert hätte der Reichstag unzweifelhaft ein weit leichteres Spiel
gegenüber den verbündeten Regierungen, als wenn die Neichsregierung durch
die Rücksicht auf eine in ihrer Mehrheit politisch anders gerichtete preußische
Volksvertretung mitbestimmt, d. h. möglicherweise an dem bequemen Zurück¬
weichen vor dem Reichstage gehindert und in ihrer Stellung diesem gegenüber
gestärkt wird. Die preußische Landtagsmajoritnt deshalb, wie es in der liberalen
Tagespresse geschehen ist, als den Schlüssel zur Herrschaft im Reiche zu be¬
zeichnen, ist natürlich eine starke Übertreibung. Ein richtiger Kern steckt aber
darin: die Schaffung eines dem Reichstag homogenen preußischen Abgeordneten¬
hauses würde aller Wahrscheinlichkeit nach die Reichsregierung durch Aus¬
schaltung der Rücksichtnahme auf die preußische Volksvertretung weniger kom¬
pliziert gestalten, aber dadurch zugleich das politische Gewicht des Reichstags
in hohem Grade verstärken. Der zunächst so lieblich anmutende Gedanke
einer gleichgestimmten Wahlverwandtschaft zwischen Reichstag und preußischem


Wahlrecht und Idealismus

Daß er dies Wahlrecht einführen müsse, weil es die Reichsverfassung für
die Reichstagswahlen angenommen habe, ist staatsrechtlich betrachtet natürlich
ebenfalls ein Trugschluß. Ob es überhaupt mit dem Wortlaut und dem Geist
der Reichsverfassung vereinbar wäre, von Reichs wegen auf einen Einzelstaat
einen Zwang in dieser innern Frage auszuüben, darüber sich zu unterhalten
ist praktisch im vorliegenden Falle ziemlich überflüssig. Denn selbst wenn man
theoretisch zur Bejahung der Kompetenzfrage gelangt, so ist ein solcher Eingriff
in das Selbstbestimmungsrecht des preußischen Staates doch nur auf Grund¬
lage einer neu in die Reichsverfassung aufzunehmenden Bestimmung denkbar.
Eine solche Verfassungsänderung ist aber nach Artikel 78 der Reichsverfassung
gegen die preußischen Stimmen im Bundesrat nicht durchzusetzen.

Etwas andres ist es freilich, ob nicht bei dem engen Zusammenhang
zwischen dem Reich und der Prüsidialmacht Preußen — das Reich ist ja doch
nur das verlängerte Preußen, sagte Wilhelm der Erste — eine ungefähre
Kongruenz des Reichstags und der preußischen Volksvertretung, wie man sie
von der Übereinstimmung der Wahlsysteme im Reich und in Preußen wohl
erwarten könnte, politisch notwendig oder doch erwünschter wäre als die jetzt
sicherlich viel größere Wahrscheinlichkeit, daß im Reichstag andre Parteien die
Majorität bilden als im preußischen Abgeordnetenhause. Diese Erwägung ist
nicht neu. Heinrich von Sybel hat schon in den Verhandlungen über die Ver¬
fassung des Norddeutschen Bundes im konstituierenden Reichstag 1867 auf die
Gefahren hingewiesen, die „aus etwa divergierenden und kollidierenden Richtungen
in beiden Versammlungen entspringen könnten", und damit der Befürchtung
Ausdruck verliehen, daß ein Kanzler, der sich im Reichstag auf Parteien zu
stützen genötigt sei, die sich im preußischen Abgeordnetenhause in der Minder¬
heit befinden, notwendig als preußischer Ministerpräsident in Konflikt mit dem
Landtage geraten werde und umgekehrt. Die Medaille hat aber eine sehr
beachtenswerte Kehrseite. Von der Majorität des preußischen Abgeordneten¬
hauses assistiert hätte der Reichstag unzweifelhaft ein weit leichteres Spiel
gegenüber den verbündeten Regierungen, als wenn die Neichsregierung durch
die Rücksicht auf eine in ihrer Mehrheit politisch anders gerichtete preußische
Volksvertretung mitbestimmt, d. h. möglicherweise an dem bequemen Zurück¬
weichen vor dem Reichstage gehindert und in ihrer Stellung diesem gegenüber
gestärkt wird. Die preußische Landtagsmajoritnt deshalb, wie es in der liberalen
Tagespresse geschehen ist, als den Schlüssel zur Herrschaft im Reiche zu be¬
zeichnen, ist natürlich eine starke Übertreibung. Ein richtiger Kern steckt aber
darin: die Schaffung eines dem Reichstag homogenen preußischen Abgeordneten¬
hauses würde aller Wahrscheinlichkeit nach die Reichsregierung durch Aus¬
schaltung der Rücksichtnahme auf die preußische Volksvertretung weniger kom¬
pliziert gestalten, aber dadurch zugleich das politische Gewicht des Reichstags
in hohem Grade verstärken. Der zunächst so lieblich anmutende Gedanke
einer gleichgestimmten Wahlverwandtschaft zwischen Reichstag und preußischem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/500>, abgerufen am 22.07.2024.