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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und die Boisserie

fern gerückt war, ja ihm manchen Ausruf des Abscheus entrissen hatte, müßte
nicht der hohe, freie, für alles Große empfängliche Geist gewesen sein, wenn er
das Bedeutende der ihm vorgelegten Blätter nicht erkannt hätte. Besonders
das Tüchtige und Nemliche der Arbeit mußte sein Wohlgefallen erwecken, nach¬
dem das Eis des anfänglichen Vorurteils und Mißtrauens gegen den Zögling
der Romantik gebrochen war. Und das schnell und vollständig zu besorgen,
war die ungewöhnlich anziehende und liebenswürdige Persönlichkeit Boisserees
wie keine andre geeignet. Hören wir seinen eignen Bericht: "Ich komme eben
von Goethe, schreibt er am 3. Mai 1811 an Melchior, der mich recht steif
und kalt empfing. Ich ließ mich nicht irre machen und war wieder gebunden
und nicht untertänig. Der alte Herr ließ mich eine Weile warten, dann kam
er mit gepuderten Kopf, seine Ordensbänder am Rock, die Anrede war so steif
vornehm wie möglich. Ich brachte ihm eine Menge Grüße, recht schön, sagte
er. Wir kamen gleich auf die Zeichnungen, das Kupferstichwesen, die Schwierig¬
keiten, den Vertrag mit Cotta und alle die äußern Dinge. Ja ja, schön, hin hin.
Darauf kamen wir auf das Ding selbst, auf das Schicksal der alten Kunst und
ihre Geschichte. Ich hatte mir einmal vorgenommen, der Vornehmheit ebenso
vornehm zu begegnen, sprach von der Schönheit und Vortrefflichkeit der Kunst
in dem Mittelalter so kurz als möglich, verwies ihn darauf, daß er sich ja
durch die Zeichnungen selbst davon überzeugt haben werde -- er machte bei
dem allen ein Gesicht, als ob er mich fressen wollte. Erst als wir von der
alten Malerei sprachen, laute er etwas auf, bei dem Lobe der neugriechischen
Kunst lächelte er."

Man sieht hieraus, daß sich Sulpiz nicht scheute, den Stier bei den Hörnern
zu fassen, und er stand sich gut dabei. Schon unter dem 6. Mai heißt es: "Mit
dem alten Herrn geht es mir vortrefflich, bekam ich den ersten Tag nur einen
Finger, den andern hatte ich schon den ganzen Arm." So wird der Verkehr
immer herzlicher und vertrauter. Sulpiz ist öfter bei Goethe zu Tisch, es wird
eine Ausstellung der Zeichnungen bei Hofe veranstaltet, wozu Sulpiz mit Un¬
geduld weitere Blätter von Quaglio aus München erwartet. In dem Tagebuche
aus jener Zeit findet sich die schöne Stelle: "Nachmittags nach Tische saßen
wir allein, er lobte mit aller Wärme meine Arbeit. Ich hatte das erhebende
Gefühl des Sieges einer schönen großen Sache über die Vorurteile eines der
geistreichsten Menschen, mit dem ich in diesen Tagen recht eigentlich einen Kampf
hatte bestehen müssen. Ich hätte ihn gewiß nicht errungen, wäre ich nicht durch
so genaue Bekanntschaft mit meinem Gegner, mit dessen Gesinnungen ich
besonders durch Reinhard vertraut war, gar trefflich vorbereitet gewesen. Ich
gewann hauptsächlich dadurch -- was auch meiner eignen innersten Neigung
und Überzeugung am gemäßesten ist --, daß ich rein die Sache wirken ließ
und immer auf die Gelegenheit bedacht war, wenn ich sie am besten wirken
lassen konnte. Er äußerte sich auch ganz demgemäß über das Werk: Ja, was
Teufel, man weiß da, woran man sich zu halten hat, die Gründlichkeit und


Goethe und die Boisserie

fern gerückt war, ja ihm manchen Ausruf des Abscheus entrissen hatte, müßte
nicht der hohe, freie, für alles Große empfängliche Geist gewesen sein, wenn er
das Bedeutende der ihm vorgelegten Blätter nicht erkannt hätte. Besonders
das Tüchtige und Nemliche der Arbeit mußte sein Wohlgefallen erwecken, nach¬
dem das Eis des anfänglichen Vorurteils und Mißtrauens gegen den Zögling
der Romantik gebrochen war. Und das schnell und vollständig zu besorgen,
war die ungewöhnlich anziehende und liebenswürdige Persönlichkeit Boisserees
wie keine andre geeignet. Hören wir seinen eignen Bericht: „Ich komme eben
von Goethe, schreibt er am 3. Mai 1811 an Melchior, der mich recht steif
und kalt empfing. Ich ließ mich nicht irre machen und war wieder gebunden
und nicht untertänig. Der alte Herr ließ mich eine Weile warten, dann kam
er mit gepuderten Kopf, seine Ordensbänder am Rock, die Anrede war so steif
vornehm wie möglich. Ich brachte ihm eine Menge Grüße, recht schön, sagte
er. Wir kamen gleich auf die Zeichnungen, das Kupferstichwesen, die Schwierig¬
keiten, den Vertrag mit Cotta und alle die äußern Dinge. Ja ja, schön, hin hin.
Darauf kamen wir auf das Ding selbst, auf das Schicksal der alten Kunst und
ihre Geschichte. Ich hatte mir einmal vorgenommen, der Vornehmheit ebenso
vornehm zu begegnen, sprach von der Schönheit und Vortrefflichkeit der Kunst
in dem Mittelalter so kurz als möglich, verwies ihn darauf, daß er sich ja
durch die Zeichnungen selbst davon überzeugt haben werde — er machte bei
dem allen ein Gesicht, als ob er mich fressen wollte. Erst als wir von der
alten Malerei sprachen, laute er etwas auf, bei dem Lobe der neugriechischen
Kunst lächelte er."

Man sieht hieraus, daß sich Sulpiz nicht scheute, den Stier bei den Hörnern
zu fassen, und er stand sich gut dabei. Schon unter dem 6. Mai heißt es: „Mit
dem alten Herrn geht es mir vortrefflich, bekam ich den ersten Tag nur einen
Finger, den andern hatte ich schon den ganzen Arm." So wird der Verkehr
immer herzlicher und vertrauter. Sulpiz ist öfter bei Goethe zu Tisch, es wird
eine Ausstellung der Zeichnungen bei Hofe veranstaltet, wozu Sulpiz mit Un¬
geduld weitere Blätter von Quaglio aus München erwartet. In dem Tagebuche
aus jener Zeit findet sich die schöne Stelle: „Nachmittags nach Tische saßen
wir allein, er lobte mit aller Wärme meine Arbeit. Ich hatte das erhebende
Gefühl des Sieges einer schönen großen Sache über die Vorurteile eines der
geistreichsten Menschen, mit dem ich in diesen Tagen recht eigentlich einen Kampf
hatte bestehen müssen. Ich hätte ihn gewiß nicht errungen, wäre ich nicht durch
so genaue Bekanntschaft mit meinem Gegner, mit dessen Gesinnungen ich
besonders durch Reinhard vertraut war, gar trefflich vorbereitet gewesen. Ich
gewann hauptsächlich dadurch — was auch meiner eignen innersten Neigung
und Überzeugung am gemäßesten ist —, daß ich rein die Sache wirken ließ
und immer auf die Gelegenheit bedacht war, wenn ich sie am besten wirken
lassen konnte. Er äußerte sich auch ganz demgemäß über das Werk: Ja, was
Teufel, man weiß da, woran man sich zu halten hat, die Gründlichkeit und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/48>, abgerufen am 25.08.2024.