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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Recht und Sitte der Naturvölker

Primitiven Werkzeugen hergestellt haben, den muß ihre Begabung in Erstaunen
setzen. Was sie später einmal mit dieser Begabung werden leisten können, das,
meint der große Geograph, werde man nach einigen Generationen erfahren,
wenn sich die zwölf Millionen befreiten Negersklaven im Genuß der Freiheit
und der modernen Kulturerrungenschaften zu hundert Millionen vervielfältigt
haben werden. "Man darf die Meinung aussprechen, daß die rassenvergleichenden
Studien der letzten Jahre das Gewicht der herkömmlich angenommnen anthro¬
pologischen Nassenunterschiede vermindern, und daß sie jedenfalls der Auffassung
keine Nahrung geben, die in den sogenannten niedern Nassen der Menschheit
einen Übergang vom Tier zum Menschen erblickt fdcirum auch die Theorie von
der Entwicklung des Menschen aus einer Tierart nicht stützen). Die allgemeine
Tierähnlichkeit des Menschen in körperlicher Beziehung soll damit nicht bestritten
werden, wohl aber die Annahme, daß einzelne Teile der Menschheit so viel tier¬
ähnlicher seien als andre. Auf Züge, die tierisch zu nennen sind, stößt man
beim Studium der Völker aller Nassen." Zurückgeblieben sind die sogenannten
Naturvölker, und das ist nicht zu verwundern. Die einen wohnen in der un¬
wirtlichen arktischen Region, wo das Leben zu schwer, Dichtigkeit der An-
siedlungen, eine Hauptbedingung für das Entstehen höherer Kultur, unmöglich
ist. Die meisten bewohnen die Tropen, wo das Leben zu leicht, dafür aber
anhaltende Arbeit, geistige wie körperliche, zu anstrengend ist. Es fehlte dem¬
nach sowohl der Zwang als auch die Lust zum Fortschritt, und es unterblieb
der entscheidende Schritt: die Erfindung der Schrift. Ohne schriftliche Über¬
lieferung aber bleibt das Völkerleben nicht bloß überhaupt unhistorisch, es
kommt auch nicht zur Ansammlung der Ergebnisse der Denkarbeit und der Er¬
fahrungen vieler Geschlechter und darum auch zu keiner Wissenschaft, die wiederum
die Voraussetzung der höhern Technik ist. Nicht daß Lesen und Schreiben an
sich etwas höchst wertvolles wäre, und daß ein Mensch, der beider Künste
mächtig ist, dadurch schon den Allalphabeten in der Kultur überragte; das Um¬
gekehrte ist oft genug dagewesen. Die Wichtigkeit und ungeheure Wirkung des
Buchstabenwesens besteht nur darin, daß es sowohl die aufeinanderfolgenden Ge¬
schlechter als auch die gleichzeitig lebenden Individuen miteinander verbindet.
Mancher unsrer aus der Schule entlassenen Jungen mag stumpfsinniger sein als ein
lebhafter und findiger Negerbursche, aber er weiß trotzdem, was Kopernikus ge¬
lehrt hat. Der einzelne Fabrikarbeiter mag ein einfältiger Tropf sein, aber
wenn einige hunderttausend solcher Tröpfe durch die Lektüre einer Tageszeitung
zu einer Partei vereinigt worden sind, so stellen sie eine politische Macht dar
und zwingen die Regierung zu Maßregeln, durch die sie materiell und infolge¬
dessen zuletzt auch geistig gehoben werden. Im Wirtschafts- und Rechtsleben
offenbart sich nun freilich die Kultur der Farbigen nicht so anschaulich wie in
den Proben ihrer Gewerbeerzeugnisse, die uns ein ethnographisches Museum
zeigt, aber wenn wir uns die einzelnen Züge aus Berichten wie den von
Steinmetz gesammelten zusammensuchen, so wirken sie nicht weniger überzeugend.


Recht und Sitte der Naturvölker

Primitiven Werkzeugen hergestellt haben, den muß ihre Begabung in Erstaunen
setzen. Was sie später einmal mit dieser Begabung werden leisten können, das,
meint der große Geograph, werde man nach einigen Generationen erfahren,
wenn sich die zwölf Millionen befreiten Negersklaven im Genuß der Freiheit
und der modernen Kulturerrungenschaften zu hundert Millionen vervielfältigt
haben werden. „Man darf die Meinung aussprechen, daß die rassenvergleichenden
Studien der letzten Jahre das Gewicht der herkömmlich angenommnen anthro¬
pologischen Nassenunterschiede vermindern, und daß sie jedenfalls der Auffassung
keine Nahrung geben, die in den sogenannten niedern Nassen der Menschheit
einen Übergang vom Tier zum Menschen erblickt fdcirum auch die Theorie von
der Entwicklung des Menschen aus einer Tierart nicht stützen). Die allgemeine
Tierähnlichkeit des Menschen in körperlicher Beziehung soll damit nicht bestritten
werden, wohl aber die Annahme, daß einzelne Teile der Menschheit so viel tier¬
ähnlicher seien als andre. Auf Züge, die tierisch zu nennen sind, stößt man
beim Studium der Völker aller Nassen." Zurückgeblieben sind die sogenannten
Naturvölker, und das ist nicht zu verwundern. Die einen wohnen in der un¬
wirtlichen arktischen Region, wo das Leben zu schwer, Dichtigkeit der An-
siedlungen, eine Hauptbedingung für das Entstehen höherer Kultur, unmöglich
ist. Die meisten bewohnen die Tropen, wo das Leben zu leicht, dafür aber
anhaltende Arbeit, geistige wie körperliche, zu anstrengend ist. Es fehlte dem¬
nach sowohl der Zwang als auch die Lust zum Fortschritt, und es unterblieb
der entscheidende Schritt: die Erfindung der Schrift. Ohne schriftliche Über¬
lieferung aber bleibt das Völkerleben nicht bloß überhaupt unhistorisch, es
kommt auch nicht zur Ansammlung der Ergebnisse der Denkarbeit und der Er¬
fahrungen vieler Geschlechter und darum auch zu keiner Wissenschaft, die wiederum
die Voraussetzung der höhern Technik ist. Nicht daß Lesen und Schreiben an
sich etwas höchst wertvolles wäre, und daß ein Mensch, der beider Künste
mächtig ist, dadurch schon den Allalphabeten in der Kultur überragte; das Um¬
gekehrte ist oft genug dagewesen. Die Wichtigkeit und ungeheure Wirkung des
Buchstabenwesens besteht nur darin, daß es sowohl die aufeinanderfolgenden Ge¬
schlechter als auch die gleichzeitig lebenden Individuen miteinander verbindet.
Mancher unsrer aus der Schule entlassenen Jungen mag stumpfsinniger sein als ein
lebhafter und findiger Negerbursche, aber er weiß trotzdem, was Kopernikus ge¬
lehrt hat. Der einzelne Fabrikarbeiter mag ein einfältiger Tropf sein, aber
wenn einige hunderttausend solcher Tröpfe durch die Lektüre einer Tageszeitung
zu einer Partei vereinigt worden sind, so stellen sie eine politische Macht dar
und zwingen die Regierung zu Maßregeln, durch die sie materiell und infolge¬
dessen zuletzt auch geistig gehoben werden. Im Wirtschafts- und Rechtsleben
offenbart sich nun freilich die Kultur der Farbigen nicht so anschaulich wie in
den Proben ihrer Gewerbeerzeugnisse, die uns ein ethnographisches Museum
zeigt, aber wenn wir uns die einzelnen Züge aus Berichten wie den von
Steinmetz gesammelten zusammensuchen, so wirken sie nicht weniger überzeugend.


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[0465] Recht und Sitte der Naturvölker Primitiven Werkzeugen hergestellt haben, den muß ihre Begabung in Erstaunen setzen. Was sie später einmal mit dieser Begabung werden leisten können, das, meint der große Geograph, werde man nach einigen Generationen erfahren, wenn sich die zwölf Millionen befreiten Negersklaven im Genuß der Freiheit und der modernen Kulturerrungenschaften zu hundert Millionen vervielfältigt haben werden. „Man darf die Meinung aussprechen, daß die rassenvergleichenden Studien der letzten Jahre das Gewicht der herkömmlich angenommnen anthro¬ pologischen Nassenunterschiede vermindern, und daß sie jedenfalls der Auffassung keine Nahrung geben, die in den sogenannten niedern Nassen der Menschheit einen Übergang vom Tier zum Menschen erblickt fdcirum auch die Theorie von der Entwicklung des Menschen aus einer Tierart nicht stützen). Die allgemeine Tierähnlichkeit des Menschen in körperlicher Beziehung soll damit nicht bestritten werden, wohl aber die Annahme, daß einzelne Teile der Menschheit so viel tier¬ ähnlicher seien als andre. Auf Züge, die tierisch zu nennen sind, stößt man beim Studium der Völker aller Nassen." Zurückgeblieben sind die sogenannten Naturvölker, und das ist nicht zu verwundern. Die einen wohnen in der un¬ wirtlichen arktischen Region, wo das Leben zu schwer, Dichtigkeit der An- siedlungen, eine Hauptbedingung für das Entstehen höherer Kultur, unmöglich ist. Die meisten bewohnen die Tropen, wo das Leben zu leicht, dafür aber anhaltende Arbeit, geistige wie körperliche, zu anstrengend ist. Es fehlte dem¬ nach sowohl der Zwang als auch die Lust zum Fortschritt, und es unterblieb der entscheidende Schritt: die Erfindung der Schrift. Ohne schriftliche Über¬ lieferung aber bleibt das Völkerleben nicht bloß überhaupt unhistorisch, es kommt auch nicht zur Ansammlung der Ergebnisse der Denkarbeit und der Er¬ fahrungen vieler Geschlechter und darum auch zu keiner Wissenschaft, die wiederum die Voraussetzung der höhern Technik ist. Nicht daß Lesen und Schreiben an sich etwas höchst wertvolles wäre, und daß ein Mensch, der beider Künste mächtig ist, dadurch schon den Allalphabeten in der Kultur überragte; das Um¬ gekehrte ist oft genug dagewesen. Die Wichtigkeit und ungeheure Wirkung des Buchstabenwesens besteht nur darin, daß es sowohl die aufeinanderfolgenden Ge¬ schlechter als auch die gleichzeitig lebenden Individuen miteinander verbindet. Mancher unsrer aus der Schule entlassenen Jungen mag stumpfsinniger sein als ein lebhafter und findiger Negerbursche, aber er weiß trotzdem, was Kopernikus ge¬ lehrt hat. Der einzelne Fabrikarbeiter mag ein einfältiger Tropf sein, aber wenn einige hunderttausend solcher Tröpfe durch die Lektüre einer Tageszeitung zu einer Partei vereinigt worden sind, so stellen sie eine politische Macht dar und zwingen die Regierung zu Maßregeln, durch die sie materiell und infolge¬ dessen zuletzt auch geistig gehoben werden. Im Wirtschafts- und Rechtsleben offenbart sich nun freilich die Kultur der Farbigen nicht so anschaulich wie in den Proben ihrer Gewerbeerzeugnisse, die uns ein ethnographisches Museum zeigt, aber wenn wir uns die einzelnen Züge aus Berichten wie den von Steinmetz gesammelten zusammensuchen, so wirken sie nicht weniger überzeugend.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/465>, abgerufen am 23.07.2024.