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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Neuer deutscher Idealismus

Minister und Negierung, überhaupt über alles, was nicht auf demokratischer
und freihändlerischer Seite steht. Daraus hat sich ein gewisser politischer
Snobismus herausgebildet, der sich allem politisch überlegen dünkt und darum
freisinnig wählt und mit der Sozialdemokratie kokettiert. Über diesen Stand-
Punkt ist die Masse der Wählerschaft in Berlin noch nicht hinausgekommen
und hat noch nicht erkannt, daß die Zeit angebrochen ist, wo der seit zwei
Menschenaltern bewährte "Männerstolz vor Königsthronen" einer entschieden
Wendung nach der andern Richtung bedarf. Darum hat auch Berlin bei der
neuen Wendung so viel wie nichts geleistet, nirgends ist ein größerer Prozent¬
satz von Wählern zu Hause geblieben als in der Reichshauptstadt. Hinterher
hat man freilich über die Wahlsiege andrer Kundgebungen vor dem Schlosse
und Aufzüge vor dem Reichskanzlerpalais veranstaltet. Im Westen und im
Südwesten des Reiches ist man leider über den alltäglichen Parteienstreit nicht
hinausgekommen, obgleich dort Zentrum und Liberale die gleichen Gründe hatten,
sich wie im Osten gegen die Partei des Umsturzes zusammenzuschließen. Diesem
Umstände ist es allein zuzuschreiben, daß die Sozialdemokraten nicht auf den
dritten Teil ihres Bestandes von 1903 zurückgeführt worden sind. Man hat
im Westen die Stimmung der Bevölkerung nicht so zu benutzen verstanden,
obwohl sie keineswegs anders lag als im Osten. Nun muß das Resultat
hingenommen werden, wie es ist, und nachträgliches Bedauern hat keinen Zweck.
Das Teilresultat ist ja immerhin günstig genug, um so mehr nach der un¬
glaublichen Verhetzung, die das ganze Jahr hindurch mit Fleischnot und der¬
gleichen betrieben worden war. Man sieht, es ist noch viel gesunder Sinn im
deutschen Volke, er muß nur erst wieder geweckt werden, und das tritt immer
ein, wenn es Michel tüchtig auf die Haut brennt. Dann vergißt er sogar sein
Erbübel, die Unzufriedenheit, und gerade in Lagen, in denen andre Völker erst
recht unzufrieden werden.

Die vielfach überraschende Wirkung des Wahlresultats beherrscht die ge¬
samte öffentliche Meinung, obgleich die dadurch geschaffne nationale Mehrheit
im Reichstage gar nicht so bedeutend ist, bis zum heutigen Tage und nach
aller Voraussicht auch noch weiter hinaus. Das ist nach den Erfahrungen des
letzten Jahrzehnts doch schon recht viel. Anscheinend ist den bisherigen Stimmungs¬
machern die Lust vergangen, in der frühern Weise weiter zu wirtschaften, und
die wenigen Ausnahmen bestätigen die Regel. Die "Prinzipien" werden natürlich
beibehalten, aber leiser betont. So ist der ganze Sommer vorübergegangen,
ohne daß auch nur ein einziger nennenswerter Agitationszug unternommen
worden wäre. Sogar die Ministerveränderungen wurden mit fast objektiver
Ruhe behandelt, und der einzige Sensationsstoff des Jahres, die angeblichen
Enthüllungen einer Wochenschrift über die Liebenberger Tafelrunde, fanden nicht
den gedeihlichen Boden, der sich in den letzten Jahren ähnlichen Dingen wie
den Angriffen auf den Grafen Mirbach und den Landwirtschaftsminister Pod-
bielski dargeboten hatte. Also auch hier schien das nationale Gewitter vom


Neuer deutscher Idealismus

Minister und Negierung, überhaupt über alles, was nicht auf demokratischer
und freihändlerischer Seite steht. Daraus hat sich ein gewisser politischer
Snobismus herausgebildet, der sich allem politisch überlegen dünkt und darum
freisinnig wählt und mit der Sozialdemokratie kokettiert. Über diesen Stand-
Punkt ist die Masse der Wählerschaft in Berlin noch nicht hinausgekommen
und hat noch nicht erkannt, daß die Zeit angebrochen ist, wo der seit zwei
Menschenaltern bewährte „Männerstolz vor Königsthronen" einer entschieden
Wendung nach der andern Richtung bedarf. Darum hat auch Berlin bei der
neuen Wendung so viel wie nichts geleistet, nirgends ist ein größerer Prozent¬
satz von Wählern zu Hause geblieben als in der Reichshauptstadt. Hinterher
hat man freilich über die Wahlsiege andrer Kundgebungen vor dem Schlosse
und Aufzüge vor dem Reichskanzlerpalais veranstaltet. Im Westen und im
Südwesten des Reiches ist man leider über den alltäglichen Parteienstreit nicht
hinausgekommen, obgleich dort Zentrum und Liberale die gleichen Gründe hatten,
sich wie im Osten gegen die Partei des Umsturzes zusammenzuschließen. Diesem
Umstände ist es allein zuzuschreiben, daß die Sozialdemokraten nicht auf den
dritten Teil ihres Bestandes von 1903 zurückgeführt worden sind. Man hat
im Westen die Stimmung der Bevölkerung nicht so zu benutzen verstanden,
obwohl sie keineswegs anders lag als im Osten. Nun muß das Resultat
hingenommen werden, wie es ist, und nachträgliches Bedauern hat keinen Zweck.
Das Teilresultat ist ja immerhin günstig genug, um so mehr nach der un¬
glaublichen Verhetzung, die das ganze Jahr hindurch mit Fleischnot und der¬
gleichen betrieben worden war. Man sieht, es ist noch viel gesunder Sinn im
deutschen Volke, er muß nur erst wieder geweckt werden, und das tritt immer
ein, wenn es Michel tüchtig auf die Haut brennt. Dann vergißt er sogar sein
Erbübel, die Unzufriedenheit, und gerade in Lagen, in denen andre Völker erst
recht unzufrieden werden.

Die vielfach überraschende Wirkung des Wahlresultats beherrscht die ge¬
samte öffentliche Meinung, obgleich die dadurch geschaffne nationale Mehrheit
im Reichstage gar nicht so bedeutend ist, bis zum heutigen Tage und nach
aller Voraussicht auch noch weiter hinaus. Das ist nach den Erfahrungen des
letzten Jahrzehnts doch schon recht viel. Anscheinend ist den bisherigen Stimmungs¬
machern die Lust vergangen, in der frühern Weise weiter zu wirtschaften, und
die wenigen Ausnahmen bestätigen die Regel. Die „Prinzipien" werden natürlich
beibehalten, aber leiser betont. So ist der ganze Sommer vorübergegangen,
ohne daß auch nur ein einziger nennenswerter Agitationszug unternommen
worden wäre. Sogar die Ministerveränderungen wurden mit fast objektiver
Ruhe behandelt, und der einzige Sensationsstoff des Jahres, die angeblichen
Enthüllungen einer Wochenschrift über die Liebenberger Tafelrunde, fanden nicht
den gedeihlichen Boden, der sich in den letzten Jahren ähnlichen Dingen wie
den Angriffen auf den Grafen Mirbach und den Landwirtschaftsminister Pod-
bielski dargeboten hatte. Also auch hier schien das nationale Gewitter vom


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[0449] Neuer deutscher Idealismus Minister und Negierung, überhaupt über alles, was nicht auf demokratischer und freihändlerischer Seite steht. Daraus hat sich ein gewisser politischer Snobismus herausgebildet, der sich allem politisch überlegen dünkt und darum freisinnig wählt und mit der Sozialdemokratie kokettiert. Über diesen Stand- Punkt ist die Masse der Wählerschaft in Berlin noch nicht hinausgekommen und hat noch nicht erkannt, daß die Zeit angebrochen ist, wo der seit zwei Menschenaltern bewährte „Männerstolz vor Königsthronen" einer entschieden Wendung nach der andern Richtung bedarf. Darum hat auch Berlin bei der neuen Wendung so viel wie nichts geleistet, nirgends ist ein größerer Prozent¬ satz von Wählern zu Hause geblieben als in der Reichshauptstadt. Hinterher hat man freilich über die Wahlsiege andrer Kundgebungen vor dem Schlosse und Aufzüge vor dem Reichskanzlerpalais veranstaltet. Im Westen und im Südwesten des Reiches ist man leider über den alltäglichen Parteienstreit nicht hinausgekommen, obgleich dort Zentrum und Liberale die gleichen Gründe hatten, sich wie im Osten gegen die Partei des Umsturzes zusammenzuschließen. Diesem Umstände ist es allein zuzuschreiben, daß die Sozialdemokraten nicht auf den dritten Teil ihres Bestandes von 1903 zurückgeführt worden sind. Man hat im Westen die Stimmung der Bevölkerung nicht so zu benutzen verstanden, obwohl sie keineswegs anders lag als im Osten. Nun muß das Resultat hingenommen werden, wie es ist, und nachträgliches Bedauern hat keinen Zweck. Das Teilresultat ist ja immerhin günstig genug, um so mehr nach der un¬ glaublichen Verhetzung, die das ganze Jahr hindurch mit Fleischnot und der¬ gleichen betrieben worden war. Man sieht, es ist noch viel gesunder Sinn im deutschen Volke, er muß nur erst wieder geweckt werden, und das tritt immer ein, wenn es Michel tüchtig auf die Haut brennt. Dann vergißt er sogar sein Erbübel, die Unzufriedenheit, und gerade in Lagen, in denen andre Völker erst recht unzufrieden werden. Die vielfach überraschende Wirkung des Wahlresultats beherrscht die ge¬ samte öffentliche Meinung, obgleich die dadurch geschaffne nationale Mehrheit im Reichstage gar nicht so bedeutend ist, bis zum heutigen Tage und nach aller Voraussicht auch noch weiter hinaus. Das ist nach den Erfahrungen des letzten Jahrzehnts doch schon recht viel. Anscheinend ist den bisherigen Stimmungs¬ machern die Lust vergangen, in der frühern Weise weiter zu wirtschaften, und die wenigen Ausnahmen bestätigen die Regel. Die „Prinzipien" werden natürlich beibehalten, aber leiser betont. So ist der ganze Sommer vorübergegangen, ohne daß auch nur ein einziger nennenswerter Agitationszug unternommen worden wäre. Sogar die Ministerveränderungen wurden mit fast objektiver Ruhe behandelt, und der einzige Sensationsstoff des Jahres, die angeblichen Enthüllungen einer Wochenschrift über die Liebenberger Tafelrunde, fanden nicht den gedeihlichen Boden, der sich in den letzten Jahren ähnlichen Dingen wie den Angriffen auf den Grafen Mirbach und den Landwirtschaftsminister Pod- bielski dargeboten hatte. Also auch hier schien das nationale Gewitter vom

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/449>, abgerufen am 01.10.2024.