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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Neuer deutscher Idealismus

Der Erfolg war freilich bloß der, daß alle, die mit Vieh und Fleisch handelten,
das übermäßige Geschrei über die Fleischnvt als günstige Gelegenheit ansahen,
mit den Preisen wohl auch über Gebühr aufzuschlagen. Wie schwer einmal
gestiegne Preise wieder auf die richtige Höhe zurückzuführen siud, weiß alle Welt,
und wir haben jetzt die Tatsache vor uns.

Die Freihcmdelsagitatoren und alle die, die mitmachten, weil es dem
Parteikatechismus entsprach, waren damit ganz zufrieden. Die Sozialdemo¬
kraten hatten ihre besondre Freude daran, denn andre lieferten ihnen die
Agitation gratis, sie selbst brauchten sich gar nicht zu genieren, denn sie wurden
von der freihändlerischen Presse in Ton und Verdächtigung nahezu übertroffen.
Diese war in ihren Mitteln nicht wählerisch und unterstützte auch jegliche
Schürung der Unzufriedenheit zu andern Zwecken als willkommne Zugabe. So
war es mit den zunächst von der Zentrumspresse betriebnen Kolonialskandalen,
obgleich sich die liberale Presse sonst sehr ablehnend verhält gegen alles, was
vom Zentrum kommt. Aber diesmal wollte man dem preußischen Landwirt¬
schaftsminister von Podbielski an den Leib, und darum wurde dessen längst
bekannte Beteiligung an der Firma von Tippelskirch und Cie. hervorgesucht, aus¬
geschmückt und breitgetreten. Die Untersuchung hat ergeben, daß von Be¬
stechungen und dergleichen gar keine Rede gewesen ist, aber die Hetze wurde
gegen Podbielski begonnen und fortgesetzt, nicht wegen der Kolonien, sondern
weil die Fleischnotagitation zum großen Teil wegen seiner Festigkeit dem
Scheitern entgegenging. Als dann im Winter die parlamentarische Zeit wieder
begann, war der Fleischnothetze schon der Stoff ausgegangen; im Reichstage
wurde kaum noch xrc> toring, darüber geredet, ein voll besetztes Haus ist kein
Boden mehr für leere Agitationen. Die kolonialen Fragen nahmen infolge
der Haltung des Zentrums auch bald ein ganz andres Gesicht an, als sie
während des Sommers in der Agitation gezeigt hatten. Als der Reichstag
aufgelöst worden war, zerfielen Fleischnot und persönliches Regiment samt dem
übrigen Krimskrams, mit dem die Agitation den ganzen Sommer hindurch
die Köpfe beschwert hatte, in nichts, man freute sich, daß man eine tatkräftige
Regierung hatte, und war entschlossen, den Druck, den die Sozialdemokratie
auf alle andern Volksschichten und im Verein mit dem Zentrum auch auf
die Regierung und alle öffentlichen Verhältnisse ausübte, zu brechen. Dieser
feste Wille hat die große Wandlung hervorgebracht, die eingangs erwähnt
worden ist, und namentlich im Osten die großen Wahlerfolge erreicht. Nur in
Berlin nicht.

Die Reichshauptstadt ist eben der Sitz der sozialdemokratischen und ftei-
händlerischen Agitation, und dem Berliner kommt kaum ein anders gefärbtes
Blatt zu Gesicht. Von landwirtschaftlichen Verhältnissen weiß er darum auch
kaum mehr, als daß der Agrarier ein höchst begehrlicher Mensch sein soll, der
andern Leuten Fleisch und Brot verteuert. Dafür kennt er aber alle Börsen¬
witze und Kalauer der Witzblätter und Tingeltangel über Kaiser und Kanzler,


Neuer deutscher Idealismus

Der Erfolg war freilich bloß der, daß alle, die mit Vieh und Fleisch handelten,
das übermäßige Geschrei über die Fleischnvt als günstige Gelegenheit ansahen,
mit den Preisen wohl auch über Gebühr aufzuschlagen. Wie schwer einmal
gestiegne Preise wieder auf die richtige Höhe zurückzuführen siud, weiß alle Welt,
und wir haben jetzt die Tatsache vor uns.

Die Freihcmdelsagitatoren und alle die, die mitmachten, weil es dem
Parteikatechismus entsprach, waren damit ganz zufrieden. Die Sozialdemo¬
kraten hatten ihre besondre Freude daran, denn andre lieferten ihnen die
Agitation gratis, sie selbst brauchten sich gar nicht zu genieren, denn sie wurden
von der freihändlerischen Presse in Ton und Verdächtigung nahezu übertroffen.
Diese war in ihren Mitteln nicht wählerisch und unterstützte auch jegliche
Schürung der Unzufriedenheit zu andern Zwecken als willkommne Zugabe. So
war es mit den zunächst von der Zentrumspresse betriebnen Kolonialskandalen,
obgleich sich die liberale Presse sonst sehr ablehnend verhält gegen alles, was
vom Zentrum kommt. Aber diesmal wollte man dem preußischen Landwirt¬
schaftsminister von Podbielski an den Leib, und darum wurde dessen längst
bekannte Beteiligung an der Firma von Tippelskirch und Cie. hervorgesucht, aus¬
geschmückt und breitgetreten. Die Untersuchung hat ergeben, daß von Be¬
stechungen und dergleichen gar keine Rede gewesen ist, aber die Hetze wurde
gegen Podbielski begonnen und fortgesetzt, nicht wegen der Kolonien, sondern
weil die Fleischnotagitation zum großen Teil wegen seiner Festigkeit dem
Scheitern entgegenging. Als dann im Winter die parlamentarische Zeit wieder
begann, war der Fleischnothetze schon der Stoff ausgegangen; im Reichstage
wurde kaum noch xrc> toring, darüber geredet, ein voll besetztes Haus ist kein
Boden mehr für leere Agitationen. Die kolonialen Fragen nahmen infolge
der Haltung des Zentrums auch bald ein ganz andres Gesicht an, als sie
während des Sommers in der Agitation gezeigt hatten. Als der Reichstag
aufgelöst worden war, zerfielen Fleischnot und persönliches Regiment samt dem
übrigen Krimskrams, mit dem die Agitation den ganzen Sommer hindurch
die Köpfe beschwert hatte, in nichts, man freute sich, daß man eine tatkräftige
Regierung hatte, und war entschlossen, den Druck, den die Sozialdemokratie
auf alle andern Volksschichten und im Verein mit dem Zentrum auch auf
die Regierung und alle öffentlichen Verhältnisse ausübte, zu brechen. Dieser
feste Wille hat die große Wandlung hervorgebracht, die eingangs erwähnt
worden ist, und namentlich im Osten die großen Wahlerfolge erreicht. Nur in
Berlin nicht.

Die Reichshauptstadt ist eben der Sitz der sozialdemokratischen und ftei-
händlerischen Agitation, und dem Berliner kommt kaum ein anders gefärbtes
Blatt zu Gesicht. Von landwirtschaftlichen Verhältnissen weiß er darum auch
kaum mehr, als daß der Agrarier ein höchst begehrlicher Mensch sein soll, der
andern Leuten Fleisch und Brot verteuert. Dafür kennt er aber alle Börsen¬
witze und Kalauer der Witzblätter und Tingeltangel über Kaiser und Kanzler,


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[0448] Neuer deutscher Idealismus Der Erfolg war freilich bloß der, daß alle, die mit Vieh und Fleisch handelten, das übermäßige Geschrei über die Fleischnvt als günstige Gelegenheit ansahen, mit den Preisen wohl auch über Gebühr aufzuschlagen. Wie schwer einmal gestiegne Preise wieder auf die richtige Höhe zurückzuführen siud, weiß alle Welt, und wir haben jetzt die Tatsache vor uns. Die Freihcmdelsagitatoren und alle die, die mitmachten, weil es dem Parteikatechismus entsprach, waren damit ganz zufrieden. Die Sozialdemo¬ kraten hatten ihre besondre Freude daran, denn andre lieferten ihnen die Agitation gratis, sie selbst brauchten sich gar nicht zu genieren, denn sie wurden von der freihändlerischen Presse in Ton und Verdächtigung nahezu übertroffen. Diese war in ihren Mitteln nicht wählerisch und unterstützte auch jegliche Schürung der Unzufriedenheit zu andern Zwecken als willkommne Zugabe. So war es mit den zunächst von der Zentrumspresse betriebnen Kolonialskandalen, obgleich sich die liberale Presse sonst sehr ablehnend verhält gegen alles, was vom Zentrum kommt. Aber diesmal wollte man dem preußischen Landwirt¬ schaftsminister von Podbielski an den Leib, und darum wurde dessen längst bekannte Beteiligung an der Firma von Tippelskirch und Cie. hervorgesucht, aus¬ geschmückt und breitgetreten. Die Untersuchung hat ergeben, daß von Be¬ stechungen und dergleichen gar keine Rede gewesen ist, aber die Hetze wurde gegen Podbielski begonnen und fortgesetzt, nicht wegen der Kolonien, sondern weil die Fleischnotagitation zum großen Teil wegen seiner Festigkeit dem Scheitern entgegenging. Als dann im Winter die parlamentarische Zeit wieder begann, war der Fleischnothetze schon der Stoff ausgegangen; im Reichstage wurde kaum noch xrc> toring, darüber geredet, ein voll besetztes Haus ist kein Boden mehr für leere Agitationen. Die kolonialen Fragen nahmen infolge der Haltung des Zentrums auch bald ein ganz andres Gesicht an, als sie während des Sommers in der Agitation gezeigt hatten. Als der Reichstag aufgelöst worden war, zerfielen Fleischnot und persönliches Regiment samt dem übrigen Krimskrams, mit dem die Agitation den ganzen Sommer hindurch die Köpfe beschwert hatte, in nichts, man freute sich, daß man eine tatkräftige Regierung hatte, und war entschlossen, den Druck, den die Sozialdemokratie auf alle andern Volksschichten und im Verein mit dem Zentrum auch auf die Regierung und alle öffentlichen Verhältnisse ausübte, zu brechen. Dieser feste Wille hat die große Wandlung hervorgebracht, die eingangs erwähnt worden ist, und namentlich im Osten die großen Wahlerfolge erreicht. Nur in Berlin nicht. Die Reichshauptstadt ist eben der Sitz der sozialdemokratischen und ftei- händlerischen Agitation, und dem Berliner kommt kaum ein anders gefärbtes Blatt zu Gesicht. Von landwirtschaftlichen Verhältnissen weiß er darum auch kaum mehr, als daß der Agrarier ein höchst begehrlicher Mensch sein soll, der andern Leuten Fleisch und Brot verteuert. Dafür kennt er aber alle Börsen¬ witze und Kalauer der Witzblätter und Tingeltangel über Kaiser und Kanzler,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/448>, abgerufen am 23.07.2024.