Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.kämpfe gegen die Sozialdemokratie nahegelegt. Der Artikel schloß mit dem Überall, wo man bei den Wahlen die Lage so auffaßte, wurden auch die kämpfe gegen die Sozialdemokratie nahegelegt. Der Artikel schloß mit dem Überall, wo man bei den Wahlen die Lage so auffaßte, wurden auch die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0446" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303862"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_2017" prev="#ID_2016"> kämpfe gegen die Sozialdemokratie nahegelegt. Der Artikel schloß mit dem<lb/> Satze: „Daß ein solcher Zusammenschluß überhaupt nur unter der alten Devise<lb/> der Nationalliberalen: Für Kaiser und Reich! möglich ist, braucht nicht weiter<lb/> ausgeführt zu werden." Der Ruf ist bald darauf erklungen, aber nicht von<lb/> einer Partei aus, sondern von der Reichsregierung, als sie den Reichstag auf¬<lb/> löste, weil das Zentrum die allezeit willigen Genossen dazu benutzt hatte, sich<lb/> an der neuen Kolonialverwaltung zu rächen. Fürst Bülow hatte die nur der<lb/> Erlösung harrende Stimmung der Bevölkerung erkannt und rief sie durch die<lb/> Neichstagsauflösung wach. Er hatte wohl auch an die Worte Bismarcks in<lb/> der großen Septennatsdebatte (am 11. Januar 1887) gedacht: „Es ist ganz<lb/> richtig, man muß für eine so wichtige Frage eigentlich vorher auflösen und die<lb/> Neuwahlen aä boo veranlassen. Wir sind überhaupt viel zu ängstlich in bezug<lb/> auf die Auflösungen. In England löst man jeden Donnerstag ein Parlament<lb/> auf, wenn man glaubt, mit dem Nachfolger sich leichter verständigen zu können<lb/> als mit dem gegenwärtigen." Nun war ja von vornherein nicht anzunehmen,<lb/> daß die südwestafrikanische Angelegenheit eine ebenso tief greifende Wirkung auf<lb/> die Wähler ausüben könne wie seinerzeit die Septennatsfrage, und darum gab<lb/> es innerhalb wie außerhalb der leitenden Kreise Leute genug, die die Auflösung<lb/> mit nicht geringer Besorgnis betrachteten, um so mehr, da das Zentrum in<lb/> seinem festen Besitzstande nicht erschüttert werden konnte, und die darum das<lb/> Paktieren mit dieser ausschlaggebenden Partei für klüger hielten. Alle, die so<lb/> dachten, kannten eben die Stimmung der Bevölkerung nicht, die nur auf den Ruf<lb/> wartete, der sozialdemokratischen Überhebung einen Denkzettel zu geben. Dadurch<lb/> mußte das Zentrum des wichtigsten Verbündeten beraubt, damit seine Stellung<lb/> gebrochen und der nationale Zweck der Neichsregierung erreicht werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_2018" next="#ID_2019"> Überall, wo man bei den Wahlen die Lage so auffaßte, wurden auch die<lb/> überraschendsten Erfolge erreicht. So war es namentlich im Osten der Fall.<lb/> Dort traten die Parteiinteressen vollständig gegen die nationale Frage zurück,<lb/> die Einigkeit kam zustande trotz der verbitternden Nachwirkung aus der Zeit<lb/> der zollpolitischen Kämpfe. Selbst wo nicht auf den Sieg zu rechnen war,<lb/> wurde wenigstens fest zusammengehalten. So war es im Osten, durch ganz<lb/> Sachsen und Thüringen hindurch bis weit nach dem Westen. Nur die Reichs-<lb/> hauptstadt machte die übliche Ausnahme. Man scheint einen gewissen Stolz<lb/> darin zu finden, daß Berlin — auch Paris nicht ausgenommen — die einzige<lb/> europäische Hauptstadt ist, die unbelehrbar revolutionär wählt. Die führenden<lb/> Berliner Zeitungen haben in allen von den sozialdemokratischen Führern mut¬<lb/> willig heraufbeschwornen Machtkämpfen gegen die Arbeitgeber auch immer von<lb/> Mitgefühl für die angeblich drangsalierten Arbeiter getrieft. Sie scheinen eben keine<lb/> Ahnung von der Stimmungswandlnng gehabt zu haben, die sich inzwischen im<lb/> deutschen Bürgertum vollzogen hatte. Sie waren unbelehrt geblieben durch die<lb/> Tatsachen, daß in keiner Neichstagsnachwahl die Genossen die frühere Stimmen-<lb/> zahl wieder erreichten, daß sie bei zahlreichen Landtags- und Städtewahlen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0446]
kämpfe gegen die Sozialdemokratie nahegelegt. Der Artikel schloß mit dem
Satze: „Daß ein solcher Zusammenschluß überhaupt nur unter der alten Devise
der Nationalliberalen: Für Kaiser und Reich! möglich ist, braucht nicht weiter
ausgeführt zu werden." Der Ruf ist bald darauf erklungen, aber nicht von
einer Partei aus, sondern von der Reichsregierung, als sie den Reichstag auf¬
löste, weil das Zentrum die allezeit willigen Genossen dazu benutzt hatte, sich
an der neuen Kolonialverwaltung zu rächen. Fürst Bülow hatte die nur der
Erlösung harrende Stimmung der Bevölkerung erkannt und rief sie durch die
Neichstagsauflösung wach. Er hatte wohl auch an die Worte Bismarcks in
der großen Septennatsdebatte (am 11. Januar 1887) gedacht: „Es ist ganz
richtig, man muß für eine so wichtige Frage eigentlich vorher auflösen und die
Neuwahlen aä boo veranlassen. Wir sind überhaupt viel zu ängstlich in bezug
auf die Auflösungen. In England löst man jeden Donnerstag ein Parlament
auf, wenn man glaubt, mit dem Nachfolger sich leichter verständigen zu können
als mit dem gegenwärtigen." Nun war ja von vornherein nicht anzunehmen,
daß die südwestafrikanische Angelegenheit eine ebenso tief greifende Wirkung auf
die Wähler ausüben könne wie seinerzeit die Septennatsfrage, und darum gab
es innerhalb wie außerhalb der leitenden Kreise Leute genug, die die Auflösung
mit nicht geringer Besorgnis betrachteten, um so mehr, da das Zentrum in
seinem festen Besitzstande nicht erschüttert werden konnte, und die darum das
Paktieren mit dieser ausschlaggebenden Partei für klüger hielten. Alle, die so
dachten, kannten eben die Stimmung der Bevölkerung nicht, die nur auf den Ruf
wartete, der sozialdemokratischen Überhebung einen Denkzettel zu geben. Dadurch
mußte das Zentrum des wichtigsten Verbündeten beraubt, damit seine Stellung
gebrochen und der nationale Zweck der Neichsregierung erreicht werden.
Überall, wo man bei den Wahlen die Lage so auffaßte, wurden auch die
überraschendsten Erfolge erreicht. So war es namentlich im Osten der Fall.
Dort traten die Parteiinteressen vollständig gegen die nationale Frage zurück,
die Einigkeit kam zustande trotz der verbitternden Nachwirkung aus der Zeit
der zollpolitischen Kämpfe. Selbst wo nicht auf den Sieg zu rechnen war,
wurde wenigstens fest zusammengehalten. So war es im Osten, durch ganz
Sachsen und Thüringen hindurch bis weit nach dem Westen. Nur die Reichs-
hauptstadt machte die übliche Ausnahme. Man scheint einen gewissen Stolz
darin zu finden, daß Berlin — auch Paris nicht ausgenommen — die einzige
europäische Hauptstadt ist, die unbelehrbar revolutionär wählt. Die führenden
Berliner Zeitungen haben in allen von den sozialdemokratischen Führern mut¬
willig heraufbeschwornen Machtkämpfen gegen die Arbeitgeber auch immer von
Mitgefühl für die angeblich drangsalierten Arbeiter getrieft. Sie scheinen eben keine
Ahnung von der Stimmungswandlnng gehabt zu haben, die sich inzwischen im
deutschen Bürgertum vollzogen hatte. Sie waren unbelehrt geblieben durch die
Tatsachen, daß in keiner Neichstagsnachwahl die Genossen die frühere Stimmen-
zahl wieder erreichten, daß sie bei zahlreichen Landtags- und Städtewahlen
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