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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Windthorst

besorgt werden, ohne eine gehässige Ausnahmcgesetzgebung gegen einen acht¬
baren Stand oder gar gegen eine ganze nach Millionen zahlende Konfession.
Eine in überstürzender Hast dahinstürmende Gesetzmacherei, die nicht aus dem
Bedürfnis, sondern aus leidenschaftlichen Stimmungen hervorgeht, und bei
der neben brauchbaren und nützlichen Maßregeln verfrühte und an sich ver¬
werfliche, ganz unhaltbare herauskommen, kann dem Schicksal der Rückivärts-
revidiernng nicht entgehn, um so weniger, wenn, wie bei der Maigcsetzgebung
geschehen ist, die wesentlichste der Bedingungen übersehen wird, an die das
Recht der Revolution geknüpft ist. Gewiß, man kaun sich bei einer großen
Neuordnung nicht an den Einspruch jedes einzelnen Schulze und Müller
kehren, man braucht sogar den eines kleinen Fürsten nicht zu beachten, aber
man kann Gesetze nicht durchführen, die gegen ein Drittel oder zwei Fünftel
der Staatsangehörigen gerichtet sind und von diesen entschieden gemißbilligt
werden, besonders wenn es sich um Leistungen handelt, die nicht erzwingbar
sind. Eine unbeliebte Steiler kann durch Exekution beigetrieben werden, aber
man kann die Leute nicht zwingen, den Gottesdienst eines "Staatspfarrers"
zu besuchen und ihre Kinder von ihm taufen zu lassen, und der aufs trockne
gesetzte Staatspfarrer kompromittiert durch sein bloßes Dasein so empfindlich
die Autorität der Regierung, daß man ihn um jeden Preis los werden muß.
Das Maß des Mißgeschicks voll zu macheu, hatte sich die Regierung mehr
und mehr von ihren begeisterten Helfern, den Liberalen, fortreißen lassen, die,
mit Martin spähn zu reden, mehr Weltanschauung als praktische Politik
trieben, wobei das schlimmste war, daß die Weltanschauung, die sie statt des
Katechismus dem Volke aufnötigen wollten, im Nebel lag, und daß sie als
Kaufpreis für neue und immer schärfere Kulturkampfmaßregeln ein Volksrecht,
eine Freiheit nach der andern dahin gaben. Die Folge davon war, daß das
Volk den Liberalen den Rücken kehrte und zu den Sozialdemokraten ab¬
schwenkte, soweit es nicht schon dem Zentrum, den Welsen, den Polen, den
Protestlern gehörte. Den Liberalen rief von Gerlach 1873 einmal zu: "Jetzt
heißt es Polizei vorne, Polizei hinten, Polizei links, Polizei rechts,
Ministerinlentscheidungen, ein Spezialgerichtshof ohne Berufung. Sind das
jene hochherzigen Liberalen von 1848, die kaum vor dem Throne stille
standen? Gibt es denn für die Linke keine Geisteskümpfe mehr? Nur Polizei,
Geld- und Gefängnisstrafen auf dem Gebiete des Glaubens und des Geistes?"
Es ist wirklich nur, wie Windthorst einmal sagte, die Logik der Tatsachen gewesen,
die dahin führte, daß schon 1882 der fortschrittliche Professor Hänel verwundert
konstatieren mußte: "Jetzt auf einmal will es niemand gewesen sein."

Obwohl Windthorst eine Kainpfnatnr war, obwohl es ihm Scharfsinn,
Schlagfertigkeit und virtuose Dialektik zum Genuß machten, mit einem eben¬
bürtigen Gegner seiue Klinge kreuzen zu können, beklagte er dennoch die ihm
zugefallne Oppositions- und Defensivstellung als ein llebils dsnööoiuin oder
oklioiuin. Positive Bauarbeit, zu der er, wie der hannöversche Abschnitt seiner


Windthorst

besorgt werden, ohne eine gehässige Ausnahmcgesetzgebung gegen einen acht¬
baren Stand oder gar gegen eine ganze nach Millionen zahlende Konfession.
Eine in überstürzender Hast dahinstürmende Gesetzmacherei, die nicht aus dem
Bedürfnis, sondern aus leidenschaftlichen Stimmungen hervorgeht, und bei
der neben brauchbaren und nützlichen Maßregeln verfrühte und an sich ver¬
werfliche, ganz unhaltbare herauskommen, kann dem Schicksal der Rückivärts-
revidiernng nicht entgehn, um so weniger, wenn, wie bei der Maigcsetzgebung
geschehen ist, die wesentlichste der Bedingungen übersehen wird, an die das
Recht der Revolution geknüpft ist. Gewiß, man kaun sich bei einer großen
Neuordnung nicht an den Einspruch jedes einzelnen Schulze und Müller
kehren, man braucht sogar den eines kleinen Fürsten nicht zu beachten, aber
man kann Gesetze nicht durchführen, die gegen ein Drittel oder zwei Fünftel
der Staatsangehörigen gerichtet sind und von diesen entschieden gemißbilligt
werden, besonders wenn es sich um Leistungen handelt, die nicht erzwingbar
sind. Eine unbeliebte Steiler kann durch Exekution beigetrieben werden, aber
man kann die Leute nicht zwingen, den Gottesdienst eines „Staatspfarrers"
zu besuchen und ihre Kinder von ihm taufen zu lassen, und der aufs trockne
gesetzte Staatspfarrer kompromittiert durch sein bloßes Dasein so empfindlich
die Autorität der Regierung, daß man ihn um jeden Preis los werden muß.
Das Maß des Mißgeschicks voll zu macheu, hatte sich die Regierung mehr
und mehr von ihren begeisterten Helfern, den Liberalen, fortreißen lassen, die,
mit Martin spähn zu reden, mehr Weltanschauung als praktische Politik
trieben, wobei das schlimmste war, daß die Weltanschauung, die sie statt des
Katechismus dem Volke aufnötigen wollten, im Nebel lag, und daß sie als
Kaufpreis für neue und immer schärfere Kulturkampfmaßregeln ein Volksrecht,
eine Freiheit nach der andern dahin gaben. Die Folge davon war, daß das
Volk den Liberalen den Rücken kehrte und zu den Sozialdemokraten ab¬
schwenkte, soweit es nicht schon dem Zentrum, den Welsen, den Polen, den
Protestlern gehörte. Den Liberalen rief von Gerlach 1873 einmal zu: „Jetzt
heißt es Polizei vorne, Polizei hinten, Polizei links, Polizei rechts,
Ministerinlentscheidungen, ein Spezialgerichtshof ohne Berufung. Sind das
jene hochherzigen Liberalen von 1848, die kaum vor dem Throne stille
standen? Gibt es denn für die Linke keine Geisteskümpfe mehr? Nur Polizei,
Geld- und Gefängnisstrafen auf dem Gebiete des Glaubens und des Geistes?"
Es ist wirklich nur, wie Windthorst einmal sagte, die Logik der Tatsachen gewesen,
die dahin führte, daß schon 1882 der fortschrittliche Professor Hänel verwundert
konstatieren mußte: „Jetzt auf einmal will es niemand gewesen sein."

Obwohl Windthorst eine Kainpfnatnr war, obwohl es ihm Scharfsinn,
Schlagfertigkeit und virtuose Dialektik zum Genuß machten, mit einem eben¬
bürtigen Gegner seiue Klinge kreuzen zu können, beklagte er dennoch die ihm
zugefallne Oppositions- und Defensivstellung als ein llebils dsnööoiuin oder
oklioiuin. Positive Bauarbeit, zu der er, wie der hannöversche Abschnitt seiner


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[0357] Windthorst besorgt werden, ohne eine gehässige Ausnahmcgesetzgebung gegen einen acht¬ baren Stand oder gar gegen eine ganze nach Millionen zahlende Konfession. Eine in überstürzender Hast dahinstürmende Gesetzmacherei, die nicht aus dem Bedürfnis, sondern aus leidenschaftlichen Stimmungen hervorgeht, und bei der neben brauchbaren und nützlichen Maßregeln verfrühte und an sich ver¬ werfliche, ganz unhaltbare herauskommen, kann dem Schicksal der Rückivärts- revidiernng nicht entgehn, um so weniger, wenn, wie bei der Maigcsetzgebung geschehen ist, die wesentlichste der Bedingungen übersehen wird, an die das Recht der Revolution geknüpft ist. Gewiß, man kaun sich bei einer großen Neuordnung nicht an den Einspruch jedes einzelnen Schulze und Müller kehren, man braucht sogar den eines kleinen Fürsten nicht zu beachten, aber man kann Gesetze nicht durchführen, die gegen ein Drittel oder zwei Fünftel der Staatsangehörigen gerichtet sind und von diesen entschieden gemißbilligt werden, besonders wenn es sich um Leistungen handelt, die nicht erzwingbar sind. Eine unbeliebte Steiler kann durch Exekution beigetrieben werden, aber man kann die Leute nicht zwingen, den Gottesdienst eines „Staatspfarrers" zu besuchen und ihre Kinder von ihm taufen zu lassen, und der aufs trockne gesetzte Staatspfarrer kompromittiert durch sein bloßes Dasein so empfindlich die Autorität der Regierung, daß man ihn um jeden Preis los werden muß. Das Maß des Mißgeschicks voll zu macheu, hatte sich die Regierung mehr und mehr von ihren begeisterten Helfern, den Liberalen, fortreißen lassen, die, mit Martin spähn zu reden, mehr Weltanschauung als praktische Politik trieben, wobei das schlimmste war, daß die Weltanschauung, die sie statt des Katechismus dem Volke aufnötigen wollten, im Nebel lag, und daß sie als Kaufpreis für neue und immer schärfere Kulturkampfmaßregeln ein Volksrecht, eine Freiheit nach der andern dahin gaben. Die Folge davon war, daß das Volk den Liberalen den Rücken kehrte und zu den Sozialdemokraten ab¬ schwenkte, soweit es nicht schon dem Zentrum, den Welsen, den Polen, den Protestlern gehörte. Den Liberalen rief von Gerlach 1873 einmal zu: „Jetzt heißt es Polizei vorne, Polizei hinten, Polizei links, Polizei rechts, Ministerinlentscheidungen, ein Spezialgerichtshof ohne Berufung. Sind das jene hochherzigen Liberalen von 1848, die kaum vor dem Throne stille standen? Gibt es denn für die Linke keine Geisteskümpfe mehr? Nur Polizei, Geld- und Gefängnisstrafen auf dem Gebiete des Glaubens und des Geistes?" Es ist wirklich nur, wie Windthorst einmal sagte, die Logik der Tatsachen gewesen, die dahin führte, daß schon 1882 der fortschrittliche Professor Hänel verwundert konstatieren mußte: „Jetzt auf einmal will es niemand gewesen sein." Obwohl Windthorst eine Kainpfnatnr war, obwohl es ihm Scharfsinn, Schlagfertigkeit und virtuose Dialektik zum Genuß machten, mit einem eben¬ bürtigen Gegner seiue Klinge kreuzen zu können, beklagte er dennoch die ihm zugefallne Oppositions- und Defensivstellung als ein llebils dsnööoiuin oder oklioiuin. Positive Bauarbeit, zu der er, wie der hannöversche Abschnitt seiner

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/357>, abgerufen am 25.08.2024.