Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
windthorst

als Nechtsmensch, als überzeugter Verteidiger der unbedingten Geltung des
Positiven Rechts. Die darin sich offenbarende Gesinnung ist höchst achtungs¬
wert, und die entsprechende Wirksamkeit ist berechtigt und notwendig -- bis
zu einer gewissen Grenze. Die Grenze liegt dort, wo das positive Recht in
Widerspruch gerät mit den Anforderungen und Bedürfnissen der Gegenwart.
Das Leben bleibt ewig im Fluß, und mit den Verhältnissen und Bedürfnissen
hat sich das Recht zu untern, das diese Verhältnisse und die Befriedigung der
Bedürfnisse regelte soll. Das leugnete freilich auch Windthorst nicht, aber er
verlangte, daß alle Veränderungen verfassungsmäßig vor sich gingen und unter
der Beistimmung aller Beteiligten, daß alte Verträge nur durch neue frei¬
willige Verträge zwischen allen Kontrahenten ersetzt würden. Aber diese
Forderung ist unerfüllbar. In dein Zeitpunkte, wo eine politische, juristische,
volkswirtschaftliche oder soziale Neubildung notwendig wird, gibt es immer
noch einzelne Personen und Gruppen von Personen, die am Alten hängen,
entweder bloß mit dem Gemüte, oder weil ihr Interesse damit verflochten ist,
und die demnach ihre Einwilligung ungezwungen nicht geben. Darum wird
bei jeder großen Neubildung so manchem Gewalt angetan. Mit andern
Worten: jeder große weltgeschichtliche Fortschritt trägt mehr oder weniger den
Charakter einer Revolution und setzt die Vertreter des starren positiven Rechts,
die jede Revolution unbedingt verwerfen, ins Unrecht. Bismarcks Genie er¬
kannte dieses Recht der Menschheit, der Volker, Rechte der Einzelnen und
ganzer Staaten zu brechen. Man vergleiche seine Korrespondenz mit Leopold
von Gerlach in den Gedanken und Erinnerungen (I, 178 bis 214) und die
schöne Betrachtung auf Seite 324: "Ich habe stets den Eindruck des Un¬
natürlichen von der Tatsache gehabt, daß die Grenze, die den niedersüchsischcn
Altinürker bei Salzwedel von dem kurbrandenburgischen Niedersachsen bei
Lüchow, in Moor und Heide dem Auge unerkennbar, trennt, doch den zu
beiden Seiten plattdeutsch redenden Niedersachsen an zwei verschiedne, einander
unter Umstünden feindliche völkerrechtliche Gebilde verweisen will, deren eines
von Berlin, und das andre früher von London, später von Hannover regiert
wurde, das eine Auge rechts nach Osten, das andre Auge links nach Westen
bereit stand, und daß friedliche und gleichartige, im Konnubium verkehrende
Bauern dieser Gegend, der eine für welfisch-Habsburgische, der andre für
hohenzollersche Interessen aufeinander schießen sollten." Windthorst liebte es,
auf den Westfälischen Frieden und den Neichsdcputationshauptschluß sowie auf
alle alten Partikularverträge zurückzugehn, und wollte zum Beispiel die Er¬
richtung eines gemeinsamen deutschen Gerichtshofes, die er an sich billigte,
nicht eher genehmigen, als bis alle deutscheu Regierungen und Volksver¬
tretungen ihre Einwilligung gegeben hätten. Bei einem solchen Verfahren
Hütte Reuß-Schleiz für sich allein schon jeden Akt der Reichsgesetzgebung ver¬
eiteln können, und die Verfassung des Deutschen Reiches wäre niemals fertig
geworden.


windthorst

als Nechtsmensch, als überzeugter Verteidiger der unbedingten Geltung des
Positiven Rechts. Die darin sich offenbarende Gesinnung ist höchst achtungs¬
wert, und die entsprechende Wirksamkeit ist berechtigt und notwendig — bis
zu einer gewissen Grenze. Die Grenze liegt dort, wo das positive Recht in
Widerspruch gerät mit den Anforderungen und Bedürfnissen der Gegenwart.
Das Leben bleibt ewig im Fluß, und mit den Verhältnissen und Bedürfnissen
hat sich das Recht zu untern, das diese Verhältnisse und die Befriedigung der
Bedürfnisse regelte soll. Das leugnete freilich auch Windthorst nicht, aber er
verlangte, daß alle Veränderungen verfassungsmäßig vor sich gingen und unter
der Beistimmung aller Beteiligten, daß alte Verträge nur durch neue frei¬
willige Verträge zwischen allen Kontrahenten ersetzt würden. Aber diese
Forderung ist unerfüllbar. In dein Zeitpunkte, wo eine politische, juristische,
volkswirtschaftliche oder soziale Neubildung notwendig wird, gibt es immer
noch einzelne Personen und Gruppen von Personen, die am Alten hängen,
entweder bloß mit dem Gemüte, oder weil ihr Interesse damit verflochten ist,
und die demnach ihre Einwilligung ungezwungen nicht geben. Darum wird
bei jeder großen Neubildung so manchem Gewalt angetan. Mit andern
Worten: jeder große weltgeschichtliche Fortschritt trägt mehr oder weniger den
Charakter einer Revolution und setzt die Vertreter des starren positiven Rechts,
die jede Revolution unbedingt verwerfen, ins Unrecht. Bismarcks Genie er¬
kannte dieses Recht der Menschheit, der Volker, Rechte der Einzelnen und
ganzer Staaten zu brechen. Man vergleiche seine Korrespondenz mit Leopold
von Gerlach in den Gedanken und Erinnerungen (I, 178 bis 214) und die
schöne Betrachtung auf Seite 324: „Ich habe stets den Eindruck des Un¬
natürlichen von der Tatsache gehabt, daß die Grenze, die den niedersüchsischcn
Altinürker bei Salzwedel von dem kurbrandenburgischen Niedersachsen bei
Lüchow, in Moor und Heide dem Auge unerkennbar, trennt, doch den zu
beiden Seiten plattdeutsch redenden Niedersachsen an zwei verschiedne, einander
unter Umstünden feindliche völkerrechtliche Gebilde verweisen will, deren eines
von Berlin, und das andre früher von London, später von Hannover regiert
wurde, das eine Auge rechts nach Osten, das andre Auge links nach Westen
bereit stand, und daß friedliche und gleichartige, im Konnubium verkehrende
Bauern dieser Gegend, der eine für welfisch-Habsburgische, der andre für
hohenzollersche Interessen aufeinander schießen sollten." Windthorst liebte es,
auf den Westfälischen Frieden und den Neichsdcputationshauptschluß sowie auf
alle alten Partikularverträge zurückzugehn, und wollte zum Beispiel die Er¬
richtung eines gemeinsamen deutschen Gerichtshofes, die er an sich billigte,
nicht eher genehmigen, als bis alle deutscheu Regierungen und Volksver¬
tretungen ihre Einwilligung gegeben hätten. Bei einem solchen Verfahren
Hütte Reuß-Schleiz für sich allein schon jeden Akt der Reichsgesetzgebung ver¬
eiteln können, und die Verfassung des Deutschen Reiches wäre niemals fertig
geworden.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0355" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303771"/>
          <fw type="header" place="top"> windthorst</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1565" prev="#ID_1564"> als Nechtsmensch, als überzeugter Verteidiger der unbedingten Geltung des<lb/>
Positiven Rechts. Die darin sich offenbarende Gesinnung ist höchst achtungs¬<lb/>
wert, und die entsprechende Wirksamkeit ist berechtigt und notwendig &#x2014; bis<lb/>
zu einer gewissen Grenze. Die Grenze liegt dort, wo das positive Recht in<lb/>
Widerspruch gerät mit den Anforderungen und Bedürfnissen der Gegenwart.<lb/>
Das Leben bleibt ewig im Fluß, und mit den Verhältnissen und Bedürfnissen<lb/>
hat sich das Recht zu untern, das diese Verhältnisse und die Befriedigung der<lb/>
Bedürfnisse regelte soll. Das leugnete freilich auch Windthorst nicht, aber er<lb/>
verlangte, daß alle Veränderungen verfassungsmäßig vor sich gingen und unter<lb/>
der Beistimmung aller Beteiligten, daß alte Verträge nur durch neue frei¬<lb/>
willige Verträge zwischen allen Kontrahenten ersetzt würden. Aber diese<lb/>
Forderung ist unerfüllbar. In dein Zeitpunkte, wo eine politische, juristische,<lb/>
volkswirtschaftliche oder soziale Neubildung notwendig wird, gibt es immer<lb/>
noch einzelne Personen und Gruppen von Personen, die am Alten hängen,<lb/>
entweder bloß mit dem Gemüte, oder weil ihr Interesse damit verflochten ist,<lb/>
und die demnach ihre Einwilligung ungezwungen nicht geben. Darum wird<lb/>
bei jeder großen Neubildung so manchem Gewalt angetan. Mit andern<lb/>
Worten: jeder große weltgeschichtliche Fortschritt trägt mehr oder weniger den<lb/>
Charakter einer Revolution und setzt die Vertreter des starren positiven Rechts,<lb/>
die jede Revolution unbedingt verwerfen, ins Unrecht. Bismarcks Genie er¬<lb/>
kannte dieses Recht der Menschheit, der Volker, Rechte der Einzelnen und<lb/>
ganzer Staaten zu brechen. Man vergleiche seine Korrespondenz mit Leopold<lb/>
von Gerlach in den Gedanken und Erinnerungen (I, 178 bis 214) und die<lb/>
schöne Betrachtung auf Seite 324: &#x201E;Ich habe stets den Eindruck des Un¬<lb/>
natürlichen von der Tatsache gehabt, daß die Grenze, die den niedersüchsischcn<lb/>
Altinürker bei Salzwedel von dem kurbrandenburgischen Niedersachsen bei<lb/>
Lüchow, in Moor und Heide dem Auge unerkennbar, trennt, doch den zu<lb/>
beiden Seiten plattdeutsch redenden Niedersachsen an zwei verschiedne, einander<lb/>
unter Umstünden feindliche völkerrechtliche Gebilde verweisen will, deren eines<lb/>
von Berlin, und das andre früher von London, später von Hannover regiert<lb/>
wurde, das eine Auge rechts nach Osten, das andre Auge links nach Westen<lb/>
bereit stand, und daß friedliche und gleichartige, im Konnubium verkehrende<lb/>
Bauern dieser Gegend, der eine für welfisch-Habsburgische, der andre für<lb/>
hohenzollersche Interessen aufeinander schießen sollten." Windthorst liebte es,<lb/>
auf den Westfälischen Frieden und den Neichsdcputationshauptschluß sowie auf<lb/>
alle alten Partikularverträge zurückzugehn, und wollte zum Beispiel die Er¬<lb/>
richtung eines gemeinsamen deutschen Gerichtshofes, die er an sich billigte,<lb/>
nicht eher genehmigen, als bis alle deutscheu Regierungen und Volksver¬<lb/>
tretungen ihre Einwilligung gegeben hätten. Bei einem solchen Verfahren<lb/>
Hütte Reuß-Schleiz für sich allein schon jeden Akt der Reichsgesetzgebung ver¬<lb/>
eiteln können, und die Verfassung des Deutschen Reiches wäre niemals fertig<lb/>
geworden.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0355] windthorst als Nechtsmensch, als überzeugter Verteidiger der unbedingten Geltung des Positiven Rechts. Die darin sich offenbarende Gesinnung ist höchst achtungs¬ wert, und die entsprechende Wirksamkeit ist berechtigt und notwendig — bis zu einer gewissen Grenze. Die Grenze liegt dort, wo das positive Recht in Widerspruch gerät mit den Anforderungen und Bedürfnissen der Gegenwart. Das Leben bleibt ewig im Fluß, und mit den Verhältnissen und Bedürfnissen hat sich das Recht zu untern, das diese Verhältnisse und die Befriedigung der Bedürfnisse regelte soll. Das leugnete freilich auch Windthorst nicht, aber er verlangte, daß alle Veränderungen verfassungsmäßig vor sich gingen und unter der Beistimmung aller Beteiligten, daß alte Verträge nur durch neue frei¬ willige Verträge zwischen allen Kontrahenten ersetzt würden. Aber diese Forderung ist unerfüllbar. In dein Zeitpunkte, wo eine politische, juristische, volkswirtschaftliche oder soziale Neubildung notwendig wird, gibt es immer noch einzelne Personen und Gruppen von Personen, die am Alten hängen, entweder bloß mit dem Gemüte, oder weil ihr Interesse damit verflochten ist, und die demnach ihre Einwilligung ungezwungen nicht geben. Darum wird bei jeder großen Neubildung so manchem Gewalt angetan. Mit andern Worten: jeder große weltgeschichtliche Fortschritt trägt mehr oder weniger den Charakter einer Revolution und setzt die Vertreter des starren positiven Rechts, die jede Revolution unbedingt verwerfen, ins Unrecht. Bismarcks Genie er¬ kannte dieses Recht der Menschheit, der Volker, Rechte der Einzelnen und ganzer Staaten zu brechen. Man vergleiche seine Korrespondenz mit Leopold von Gerlach in den Gedanken und Erinnerungen (I, 178 bis 214) und die schöne Betrachtung auf Seite 324: „Ich habe stets den Eindruck des Un¬ natürlichen von der Tatsache gehabt, daß die Grenze, die den niedersüchsischcn Altinürker bei Salzwedel von dem kurbrandenburgischen Niedersachsen bei Lüchow, in Moor und Heide dem Auge unerkennbar, trennt, doch den zu beiden Seiten plattdeutsch redenden Niedersachsen an zwei verschiedne, einander unter Umstünden feindliche völkerrechtliche Gebilde verweisen will, deren eines von Berlin, und das andre früher von London, später von Hannover regiert wurde, das eine Auge rechts nach Osten, das andre Auge links nach Westen bereit stand, und daß friedliche und gleichartige, im Konnubium verkehrende Bauern dieser Gegend, der eine für welfisch-Habsburgische, der andre für hohenzollersche Interessen aufeinander schießen sollten." Windthorst liebte es, auf den Westfälischen Frieden und den Neichsdcputationshauptschluß sowie auf alle alten Partikularverträge zurückzugehn, und wollte zum Beispiel die Er¬ richtung eines gemeinsamen deutschen Gerichtshofes, die er an sich billigte, nicht eher genehmigen, als bis alle deutscheu Regierungen und Volksver¬ tretungen ihre Einwilligung gegeben hätten. Bei einem solchen Verfahren Hütte Reuß-Schleiz für sich allein schon jeden Akt der Reichsgesetzgebung ver¬ eiteln können, und die Verfassung des Deutschen Reiches wäre niemals fertig geworden.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/355
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/355>, abgerufen am 23.07.2024.