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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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unberechenbaren Charakter des Königs nicht wissen konnten, ob es werde er¬
füllt werden können. Hüsgen schreibt: "Das Ministerium hatte sein Verbleiben
im Amte von der unveränderten Annahme der Vorlage abhängig gemacht."
Demnach war es nach deren Ablehnung verpflichtet, zurückzutreten. Das
scheint Hüsgen beim Schreiben sofort vergessen zu haben, denn auf der
folgenden Seite schreibt er, der Kammermehrheit sei bei der Sache nicht wohl
gewesen. "Die Einsichtigern mochten sich wohl die Frage vorlegen, was nun
kommen würde, wenn der König ohne den besonnenen Rat seiner bewährten
Minister lediglich den Einflüssen der Adelspartei und der Einwirkungen eines
auswärtigen zielbewußter Meisters im diplomatischen Ränkespiel ausgesetzt
sein würde." Windthorst selbst hat es am 29. Januar 1886 im preußischen
Abgeordnetenhause dem Reichskanzler auf den Kopf zugesagt, daß er es ge¬
wesen sei, der seinen Sturz bewirkt habe. "Hat denn der Herr Reichskanzler
die Szene vergessen, wo er dem verstorbnen Könige von Hannover ein
Privatissimum darüber las, wie er die Politik zu ändern habe, und wie er
das Ministerium beseitigen könne, dem ich zum erstenmal angehörte?" Das
Ministerium hat sich ja selbst beseitigt, wenn es sein Versprechen, bei Ab¬
lehnung der Vorlage zurückzutreten, ernst gemeint hatte. Es scheint ihm aber
nicht ernst gewesen zu sein, und es scheint gehofft zu haben, daß der König
es zum Bleiben nötigen werde. Ein sicheres Urteil darüber, welchen Einfluß
Bismarcks Privatissimum auf den Sturz der Minister gehabt habe, ist nicht
möglich, weil Hüsgen das Datum der entscheidenden Kammersitzung nicht
mitteilt, und weil der Inhalt der Unterredung Bismarcks mit dem blinden
Könige nicht bekannt ist. Bismarck selbst teilt in den Gedanken und Er¬
innerungen (Volksausgabe I, 109) nnr mit, der König habe von ihm als
Sachkundigen in bundestüglichen Geschäften einen Vortrag verlangt über die
Art und Weise, wie die Verfassung von 1843 mit Hilfe von Bundesbeschlüssen
revidiert werden könne. Er habe seine Ansicht entwickelt und ans Verlangen
des Königs das Vorgetragne niedergeschrieben. Diese Unterredung hat im
September (nach Horst Kohls Anmerkung wahrscheinlich am 9. oder 10.) statt¬
gefunden, das Ministerium Sehele wurde am 21. November entlassen.

Der König leitete nun in Übereinstimmung mit dem Bundestage die
Reaktion ein. Das Kabinett Kiclmannsegg, in dem auch die Herren von Borries
und von der Decken wieder Platz nahmen, ersetzte die wichtigsten Bestimmungen
der Verfassung von 1848 durch die entsprechenden ans der von 1840. Windt¬
horst wurde in die neue Kammer wiedergewählt und bekämpfte als Führer
der Opposition die Vorlagen des Ministeriums, namentlich die geforderte Er¬
höhung der Zivilliste und die Errichtnna, eines Staatsgcrichtshofs zur Ma߬
reglung unbotmäßiger Staatsdiener. Die unbotmäßige Kammer wurde auf¬
gelöst und bei den Neuwahlen durch den Druck der Regierungsorgane eine
gefügige Mehrheit erreicht. Eine willkürliche Deklaration des Staatsdiener¬
gesetzes machte den Eintritt der gewählten Beamten in die Kammer von der


Windthorst

unberechenbaren Charakter des Königs nicht wissen konnten, ob es werde er¬
füllt werden können. Hüsgen schreibt: „Das Ministerium hatte sein Verbleiben
im Amte von der unveränderten Annahme der Vorlage abhängig gemacht."
Demnach war es nach deren Ablehnung verpflichtet, zurückzutreten. Das
scheint Hüsgen beim Schreiben sofort vergessen zu haben, denn auf der
folgenden Seite schreibt er, der Kammermehrheit sei bei der Sache nicht wohl
gewesen. „Die Einsichtigern mochten sich wohl die Frage vorlegen, was nun
kommen würde, wenn der König ohne den besonnenen Rat seiner bewährten
Minister lediglich den Einflüssen der Adelspartei und der Einwirkungen eines
auswärtigen zielbewußter Meisters im diplomatischen Ränkespiel ausgesetzt
sein würde." Windthorst selbst hat es am 29. Januar 1886 im preußischen
Abgeordnetenhause dem Reichskanzler auf den Kopf zugesagt, daß er es ge¬
wesen sei, der seinen Sturz bewirkt habe. „Hat denn der Herr Reichskanzler
die Szene vergessen, wo er dem verstorbnen Könige von Hannover ein
Privatissimum darüber las, wie er die Politik zu ändern habe, und wie er
das Ministerium beseitigen könne, dem ich zum erstenmal angehörte?" Das
Ministerium hat sich ja selbst beseitigt, wenn es sein Versprechen, bei Ab¬
lehnung der Vorlage zurückzutreten, ernst gemeint hatte. Es scheint ihm aber
nicht ernst gewesen zu sein, und es scheint gehofft zu haben, daß der König
es zum Bleiben nötigen werde. Ein sicheres Urteil darüber, welchen Einfluß
Bismarcks Privatissimum auf den Sturz der Minister gehabt habe, ist nicht
möglich, weil Hüsgen das Datum der entscheidenden Kammersitzung nicht
mitteilt, und weil der Inhalt der Unterredung Bismarcks mit dem blinden
Könige nicht bekannt ist. Bismarck selbst teilt in den Gedanken und Er¬
innerungen (Volksausgabe I, 109) nnr mit, der König habe von ihm als
Sachkundigen in bundestüglichen Geschäften einen Vortrag verlangt über die
Art und Weise, wie die Verfassung von 1843 mit Hilfe von Bundesbeschlüssen
revidiert werden könne. Er habe seine Ansicht entwickelt und ans Verlangen
des Königs das Vorgetragne niedergeschrieben. Diese Unterredung hat im
September (nach Horst Kohls Anmerkung wahrscheinlich am 9. oder 10.) statt¬
gefunden, das Ministerium Sehele wurde am 21. November entlassen.

Der König leitete nun in Übereinstimmung mit dem Bundestage die
Reaktion ein. Das Kabinett Kiclmannsegg, in dem auch die Herren von Borries
und von der Decken wieder Platz nahmen, ersetzte die wichtigsten Bestimmungen
der Verfassung von 1848 durch die entsprechenden ans der von 1840. Windt¬
horst wurde in die neue Kammer wiedergewählt und bekämpfte als Führer
der Opposition die Vorlagen des Ministeriums, namentlich die geforderte Er¬
höhung der Zivilliste und die Errichtnna, eines Staatsgcrichtshofs zur Ma߬
reglung unbotmäßiger Staatsdiener. Die unbotmäßige Kammer wurde auf¬
gelöst und bei den Neuwahlen durch den Druck der Regierungsorgane eine
gefügige Mehrheit erreicht. Eine willkürliche Deklaration des Staatsdiener¬
gesetzes machte den Eintritt der gewählten Beamten in die Kammer von der


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[0352] Windthorst unberechenbaren Charakter des Königs nicht wissen konnten, ob es werde er¬ füllt werden können. Hüsgen schreibt: „Das Ministerium hatte sein Verbleiben im Amte von der unveränderten Annahme der Vorlage abhängig gemacht." Demnach war es nach deren Ablehnung verpflichtet, zurückzutreten. Das scheint Hüsgen beim Schreiben sofort vergessen zu haben, denn auf der folgenden Seite schreibt er, der Kammermehrheit sei bei der Sache nicht wohl gewesen. „Die Einsichtigern mochten sich wohl die Frage vorlegen, was nun kommen würde, wenn der König ohne den besonnenen Rat seiner bewährten Minister lediglich den Einflüssen der Adelspartei und der Einwirkungen eines auswärtigen zielbewußter Meisters im diplomatischen Ränkespiel ausgesetzt sein würde." Windthorst selbst hat es am 29. Januar 1886 im preußischen Abgeordnetenhause dem Reichskanzler auf den Kopf zugesagt, daß er es ge¬ wesen sei, der seinen Sturz bewirkt habe. „Hat denn der Herr Reichskanzler die Szene vergessen, wo er dem verstorbnen Könige von Hannover ein Privatissimum darüber las, wie er die Politik zu ändern habe, und wie er das Ministerium beseitigen könne, dem ich zum erstenmal angehörte?" Das Ministerium hat sich ja selbst beseitigt, wenn es sein Versprechen, bei Ab¬ lehnung der Vorlage zurückzutreten, ernst gemeint hatte. Es scheint ihm aber nicht ernst gewesen zu sein, und es scheint gehofft zu haben, daß der König es zum Bleiben nötigen werde. Ein sicheres Urteil darüber, welchen Einfluß Bismarcks Privatissimum auf den Sturz der Minister gehabt habe, ist nicht möglich, weil Hüsgen das Datum der entscheidenden Kammersitzung nicht mitteilt, und weil der Inhalt der Unterredung Bismarcks mit dem blinden Könige nicht bekannt ist. Bismarck selbst teilt in den Gedanken und Er¬ innerungen (Volksausgabe I, 109) nnr mit, der König habe von ihm als Sachkundigen in bundestüglichen Geschäften einen Vortrag verlangt über die Art und Weise, wie die Verfassung von 1843 mit Hilfe von Bundesbeschlüssen revidiert werden könne. Er habe seine Ansicht entwickelt und ans Verlangen des Königs das Vorgetragne niedergeschrieben. Diese Unterredung hat im September (nach Horst Kohls Anmerkung wahrscheinlich am 9. oder 10.) statt¬ gefunden, das Ministerium Sehele wurde am 21. November entlassen. Der König leitete nun in Übereinstimmung mit dem Bundestage die Reaktion ein. Das Kabinett Kiclmannsegg, in dem auch die Herren von Borries und von der Decken wieder Platz nahmen, ersetzte die wichtigsten Bestimmungen der Verfassung von 1848 durch die entsprechenden ans der von 1840. Windt¬ horst wurde in die neue Kammer wiedergewählt und bekämpfte als Führer der Opposition die Vorlagen des Ministeriums, namentlich die geforderte Er¬ höhung der Zivilliste und die Errichtnna, eines Staatsgcrichtshofs zur Ma߬ reglung unbotmäßiger Staatsdiener. Die unbotmäßige Kammer wurde auf¬ gelöst und bei den Neuwahlen durch den Druck der Regierungsorgane eine gefügige Mehrheit erreicht. Eine willkürliche Deklaration des Staatsdiener¬ gesetzes machte den Eintritt der gewählten Beamten in die Kammer von der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/352>, abgerufen am 23.07.2024.