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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Litercinsche Rundschau

werden könne." "Der Joggeli" ist eine kleine, aber auf einen überaus feinen
Ton gestimmte Gabe des Dichters der "Zwei Seelen", den in seiner stillen
Größe immer mehr Deutsche erkennen müssen, und der gerade hier neben vielen
andern Vorzügen noch den aufweist, ganz "unredensartlich" (ein Fontanischer
Ausdruck) zu sein.

Auch von Julius R. Haarhaus liegt wieder ein neues Buch vor, Märchen¬
novellen unter der Aufschrift "Wo die Linden blühn!" (Johannes von Schalscha-
Ehrenfeld in Leipzig). Leipziger Märchennovellen also, und in der Tat webt
um diese von einer echten Poetenlaune gestalteten Phantasiestücke der Reiz des
sommerlichen Leipzigs mit seinen alten schmalen Straßen, in die der blaue
Himmel schaut, und seineu engen, dämmrigen Höfen und Gewölben. Und
Haarhaus scheut sich gar nicht, seine Märchen bis in die Gegenwart hinein¬
zuspinnen und von dem alten Wundermann Beireis einen Faden hinüber¬
zuziehen bis zu einem der absonderlichen Antiquare, die wohl jedem Leipziger
Studenten einmal beim Kauf oder Verkauf von Büchern vorgekommen sind.
Das ganze Wesen von Teufeln und Meerweibchen, die in und unter der Stadt
ihr Wesen treiben, die Verknüpfung von Wirklichkeit und Spiel, die doch immer
heitrem bleibt, sind eine höchst unterhaltende Lektüre ohne viele Seitenstücke,
man müßte denn schon an Hans Hoffmann und des früh abgcrufnen Walter Gott-
heit Berliner Märchen denken, die aber für Kinder bestimmt sind, während das
anmutige Buch von Haarhaus uns Große angeht.

Bei dem neuen Buch von Charlotte Niese "Menschenfrühling" (Leipzig,
Fr. Wilh. Grunow) könnte man einen Augenblick zweifelhaft sein, ob es für
Große oder für Heranwachsende bestimmt ist. Bei näherm Zusehen entdeckt
man freilich sofort, daß dieses Werk zwar von einem Kinde erzählt, aber so,
daß nur der gereifte Mensch die Geschichte dieser Kinderseele ganz verfolgen
kann. Es liegt eine große Gefahr darin, ein sogenanntes Naturkind zu
schildern, das unter lauter bewußten und berechneten Menschen immer geradeaus
sagt, was es sieht und denkt, wie diese Anneli Pankow. Aber Charlotte Niese
ist an dieser Klippe nicht gescheitert, weil die völlig echte Kindlichkeit, die un¬
betont immer wieder durchbrechende Eigenart dieses kleinen Mädchens niemals
den Gedanken an jene greulichen naiven Kinder und Backfische des altbacknen
Familienromans aufkommen läßt. Frisch und natürlich wie Anneli Pankow ist
hier die Kunst der Schriftstellerin, die mit derselben unbesorgten Geradheit,
wenn auch weniger derb in den Stoff hineingreift, wie etwa die verwandte
Amerikanerin Louisa Alcott. Das Buch steht unter dem Besten, was Charlotte
Niese je geschrieben hat, und ich wünschte es besonders in die Hände vieler
Frauen und Mütter, vieler Lehrerinnen und Erzieherinnen, aber nicht etwa
nur um der seinen pädagogischen Beobachtungen, sondern auch um des poetischen
Gehalts willen.

Wie viel von solchem poetischen Gehalt auch der bloße Unterhaltungsroman
bedarf, um zu fesseln und auch den verwöhnten Geschmack anzusprechen, wie


Litercinsche Rundschau

werden könne." „Der Joggeli" ist eine kleine, aber auf einen überaus feinen
Ton gestimmte Gabe des Dichters der „Zwei Seelen", den in seiner stillen
Größe immer mehr Deutsche erkennen müssen, und der gerade hier neben vielen
andern Vorzügen noch den aufweist, ganz „unredensartlich" (ein Fontanischer
Ausdruck) zu sein.

Auch von Julius R. Haarhaus liegt wieder ein neues Buch vor, Märchen¬
novellen unter der Aufschrift „Wo die Linden blühn!" (Johannes von Schalscha-
Ehrenfeld in Leipzig). Leipziger Märchennovellen also, und in der Tat webt
um diese von einer echten Poetenlaune gestalteten Phantasiestücke der Reiz des
sommerlichen Leipzigs mit seinen alten schmalen Straßen, in die der blaue
Himmel schaut, und seineu engen, dämmrigen Höfen und Gewölben. Und
Haarhaus scheut sich gar nicht, seine Märchen bis in die Gegenwart hinein¬
zuspinnen und von dem alten Wundermann Beireis einen Faden hinüber¬
zuziehen bis zu einem der absonderlichen Antiquare, die wohl jedem Leipziger
Studenten einmal beim Kauf oder Verkauf von Büchern vorgekommen sind.
Das ganze Wesen von Teufeln und Meerweibchen, die in und unter der Stadt
ihr Wesen treiben, die Verknüpfung von Wirklichkeit und Spiel, die doch immer
heitrem bleibt, sind eine höchst unterhaltende Lektüre ohne viele Seitenstücke,
man müßte denn schon an Hans Hoffmann und des früh abgcrufnen Walter Gott-
heit Berliner Märchen denken, die aber für Kinder bestimmt sind, während das
anmutige Buch von Haarhaus uns Große angeht.

Bei dem neuen Buch von Charlotte Niese „Menschenfrühling" (Leipzig,
Fr. Wilh. Grunow) könnte man einen Augenblick zweifelhaft sein, ob es für
Große oder für Heranwachsende bestimmt ist. Bei näherm Zusehen entdeckt
man freilich sofort, daß dieses Werk zwar von einem Kinde erzählt, aber so,
daß nur der gereifte Mensch die Geschichte dieser Kinderseele ganz verfolgen
kann. Es liegt eine große Gefahr darin, ein sogenanntes Naturkind zu
schildern, das unter lauter bewußten und berechneten Menschen immer geradeaus
sagt, was es sieht und denkt, wie diese Anneli Pankow. Aber Charlotte Niese
ist an dieser Klippe nicht gescheitert, weil die völlig echte Kindlichkeit, die un¬
betont immer wieder durchbrechende Eigenart dieses kleinen Mädchens niemals
den Gedanken an jene greulichen naiven Kinder und Backfische des altbacknen
Familienromans aufkommen läßt. Frisch und natürlich wie Anneli Pankow ist
hier die Kunst der Schriftstellerin, die mit derselben unbesorgten Geradheit,
wenn auch weniger derb in den Stoff hineingreift, wie etwa die verwandte
Amerikanerin Louisa Alcott. Das Buch steht unter dem Besten, was Charlotte
Niese je geschrieben hat, und ich wünschte es besonders in die Hände vieler
Frauen und Mütter, vieler Lehrerinnen und Erzieherinnen, aber nicht etwa
nur um der seinen pädagogischen Beobachtungen, sondern auch um des poetischen
Gehalts willen.

Wie viel von solchem poetischen Gehalt auch der bloße Unterhaltungsroman
bedarf, um zu fesseln und auch den verwöhnten Geschmack anzusprechen, wie


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[0305] Litercinsche Rundschau werden könne." „Der Joggeli" ist eine kleine, aber auf einen überaus feinen Ton gestimmte Gabe des Dichters der „Zwei Seelen", den in seiner stillen Größe immer mehr Deutsche erkennen müssen, und der gerade hier neben vielen andern Vorzügen noch den aufweist, ganz „unredensartlich" (ein Fontanischer Ausdruck) zu sein. Auch von Julius R. Haarhaus liegt wieder ein neues Buch vor, Märchen¬ novellen unter der Aufschrift „Wo die Linden blühn!" (Johannes von Schalscha- Ehrenfeld in Leipzig). Leipziger Märchennovellen also, und in der Tat webt um diese von einer echten Poetenlaune gestalteten Phantasiestücke der Reiz des sommerlichen Leipzigs mit seinen alten schmalen Straßen, in die der blaue Himmel schaut, und seineu engen, dämmrigen Höfen und Gewölben. Und Haarhaus scheut sich gar nicht, seine Märchen bis in die Gegenwart hinein¬ zuspinnen und von dem alten Wundermann Beireis einen Faden hinüber¬ zuziehen bis zu einem der absonderlichen Antiquare, die wohl jedem Leipziger Studenten einmal beim Kauf oder Verkauf von Büchern vorgekommen sind. Das ganze Wesen von Teufeln und Meerweibchen, die in und unter der Stadt ihr Wesen treiben, die Verknüpfung von Wirklichkeit und Spiel, die doch immer heitrem bleibt, sind eine höchst unterhaltende Lektüre ohne viele Seitenstücke, man müßte denn schon an Hans Hoffmann und des früh abgcrufnen Walter Gott- heit Berliner Märchen denken, die aber für Kinder bestimmt sind, während das anmutige Buch von Haarhaus uns Große angeht. Bei dem neuen Buch von Charlotte Niese „Menschenfrühling" (Leipzig, Fr. Wilh. Grunow) könnte man einen Augenblick zweifelhaft sein, ob es für Große oder für Heranwachsende bestimmt ist. Bei näherm Zusehen entdeckt man freilich sofort, daß dieses Werk zwar von einem Kinde erzählt, aber so, daß nur der gereifte Mensch die Geschichte dieser Kinderseele ganz verfolgen kann. Es liegt eine große Gefahr darin, ein sogenanntes Naturkind zu schildern, das unter lauter bewußten und berechneten Menschen immer geradeaus sagt, was es sieht und denkt, wie diese Anneli Pankow. Aber Charlotte Niese ist an dieser Klippe nicht gescheitert, weil die völlig echte Kindlichkeit, die un¬ betont immer wieder durchbrechende Eigenart dieses kleinen Mädchens niemals den Gedanken an jene greulichen naiven Kinder und Backfische des altbacknen Familienromans aufkommen läßt. Frisch und natürlich wie Anneli Pankow ist hier die Kunst der Schriftstellerin, die mit derselben unbesorgten Geradheit, wenn auch weniger derb in den Stoff hineingreift, wie etwa die verwandte Amerikanerin Louisa Alcott. Das Buch steht unter dem Besten, was Charlotte Niese je geschrieben hat, und ich wünschte es besonders in die Hände vieler Frauen und Mütter, vieler Lehrerinnen und Erzieherinnen, aber nicht etwa nur um der seinen pädagogischen Beobachtungen, sondern auch um des poetischen Gehalts willen. Wie viel von solchem poetischen Gehalt auch der bloße Unterhaltungsroman bedarf, um zu fesseln und auch den verwöhnten Geschmack anzusprechen, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/305>, abgerufen am 03.07.2024.