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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Nationale politische Erziehung

bereiste und dann seinen Landsleuten über seine Beobachtungen berichtete, da
erzählte er als besonders bemerkenswert, daß in einer großen Stadt West¬
deutschlands in einem Kreise von Mannern der guten Gesellschaft, mit denen
er einen Abend verbrachte, niemand über die Staatseinrichtungen Deutschlands
genau Bescheid gewußt habe. Es ist hart, sich so etwas von einem Ausländer
sagen lassen zu müssen, aber ungerecht ist der Vorwurf nicht. Und schließlich
muß man sich auch die Frage vorlegen: Wo sollen die Deutschen die Kenntnis
ihrer Staatseinrichtungen herbekommen? Wäre unser politisches Leben mehr
entwickelt, so würde wohl die Mehrzahl von ihnen im Laufe der Zeit Ge¬
legenheit haben, diese Kenntnis zu erwerben; so wie die Dinge liegen, fehlt
diese Gelegenheit, und aus eignem Drange beschäftigen sich in Deutschland nur
sehr wenige mit den Angelegenheiten des Staates. Daß hier ein Maugel vor¬
liegt, dem abgeholfen werden muß, kann eigentlich keinem Zweifel unterliegen,
es kann sich nur fragen, mit welchen Mitteln das zu geschehen hat.

Am 26. Februar 1907 erklärte im Reichstage der Abgeordnete Gamp,
Deutschland marschiere an der Spitze in der Sozialpolitik und in der Schul¬
politik. In der Sozialpolitik ja, das ist unbestreitbar, aber auch in der Schul¬
politik? Sollte diese Behauptung einer scharfen Kritik standhalten können?
Es würde nicht ganz leicht sein, sie zu beweisen, leichter wohl, unsrer Schule
Unterlassungssünden nachzuweisen. Wenn es dem Deutschen an einem ausge-
prägten Nationalgefühl fehlt, an politischem Interesse und politischem Ver¬
ständnis, wofür jeder neue Tag neue Beweise bringt, sollte man da nicht mit
Recht die Forderung aufstellen können, daß es die Pflicht der Schule ist, diese
Mängel auszugleichen? Wir haben die allgemeine Schulpflicht, wir haben Fort¬
bildungsschulen und Fachschulen, höhere Unterrichtsanstalten aller Art, Universi¬
täten, und wir haben die allgemeine Wehrpflicht. Jeder Deutsche ist, bevor er
als Manu ins Leben tritt, viele Jahre hindurch dem Zwange unterworfen, den
der Staat auf diesen Gebieten ausübt, und damit auch der Einwirkung des
Staates zugänglich. Wenn anerkanntermaßen der Deutsche bisher kein genügendes
Verständnis bewiesen hat für seine Rechte und besonders für seine Pflichten als
Staatsbürger, für die Stellung des Deutschen Reiches in der Welt und für
die Aufgabe", die uns aus dieser Stellung erwachsen, wenn dadurch die deutsche
Politik nicht einmal, sondern viele male in die denkbar schwierigsten Lagen ge¬
kommen ist, liegt da nicht der Gedanke nahe, daß sich der Staat die Ein¬
richtungen, durch die er Einfluß auf das heranwachsende Geschlecht hat, nutzbar
machen müßte, um dieses mit den Kenntnissen auszurüsten, die der deutsche
Mann zur Erfüllung seiner Pflichten braucht? Die Forderung, daß der Staat
sich gute Bürger erziehen müsse, ist uralt. Schon Plato hat sie gestellt, und
Fichte hat sie in seinen Reden an die deutsche Nation wiederholt. Ausdrücklich
fordert er Unterricht über Gesetzgebung und Verfassung des Staates. Der Ge¬
danke hat aber in Deutschland nicht Wurzel geschlagen, man hat ihn nicht ver¬
folgt. So sehr man sich bemüht hat, das Volksschulwesen auszubauen, das


Grenzboten IV 1907 3
Nationale politische Erziehung

bereiste und dann seinen Landsleuten über seine Beobachtungen berichtete, da
erzählte er als besonders bemerkenswert, daß in einer großen Stadt West¬
deutschlands in einem Kreise von Mannern der guten Gesellschaft, mit denen
er einen Abend verbrachte, niemand über die Staatseinrichtungen Deutschlands
genau Bescheid gewußt habe. Es ist hart, sich so etwas von einem Ausländer
sagen lassen zu müssen, aber ungerecht ist der Vorwurf nicht. Und schließlich
muß man sich auch die Frage vorlegen: Wo sollen die Deutschen die Kenntnis
ihrer Staatseinrichtungen herbekommen? Wäre unser politisches Leben mehr
entwickelt, so würde wohl die Mehrzahl von ihnen im Laufe der Zeit Ge¬
legenheit haben, diese Kenntnis zu erwerben; so wie die Dinge liegen, fehlt
diese Gelegenheit, und aus eignem Drange beschäftigen sich in Deutschland nur
sehr wenige mit den Angelegenheiten des Staates. Daß hier ein Maugel vor¬
liegt, dem abgeholfen werden muß, kann eigentlich keinem Zweifel unterliegen,
es kann sich nur fragen, mit welchen Mitteln das zu geschehen hat.

Am 26. Februar 1907 erklärte im Reichstage der Abgeordnete Gamp,
Deutschland marschiere an der Spitze in der Sozialpolitik und in der Schul¬
politik. In der Sozialpolitik ja, das ist unbestreitbar, aber auch in der Schul¬
politik? Sollte diese Behauptung einer scharfen Kritik standhalten können?
Es würde nicht ganz leicht sein, sie zu beweisen, leichter wohl, unsrer Schule
Unterlassungssünden nachzuweisen. Wenn es dem Deutschen an einem ausge-
prägten Nationalgefühl fehlt, an politischem Interesse und politischem Ver¬
ständnis, wofür jeder neue Tag neue Beweise bringt, sollte man da nicht mit
Recht die Forderung aufstellen können, daß es die Pflicht der Schule ist, diese
Mängel auszugleichen? Wir haben die allgemeine Schulpflicht, wir haben Fort¬
bildungsschulen und Fachschulen, höhere Unterrichtsanstalten aller Art, Universi¬
täten, und wir haben die allgemeine Wehrpflicht. Jeder Deutsche ist, bevor er
als Manu ins Leben tritt, viele Jahre hindurch dem Zwange unterworfen, den
der Staat auf diesen Gebieten ausübt, und damit auch der Einwirkung des
Staates zugänglich. Wenn anerkanntermaßen der Deutsche bisher kein genügendes
Verständnis bewiesen hat für seine Rechte und besonders für seine Pflichten als
Staatsbürger, für die Stellung des Deutschen Reiches in der Welt und für
die Aufgabe», die uns aus dieser Stellung erwachsen, wenn dadurch die deutsche
Politik nicht einmal, sondern viele male in die denkbar schwierigsten Lagen ge¬
kommen ist, liegt da nicht der Gedanke nahe, daß sich der Staat die Ein¬
richtungen, durch die er Einfluß auf das heranwachsende Geschlecht hat, nutzbar
machen müßte, um dieses mit den Kenntnissen auszurüsten, die der deutsche
Mann zur Erfüllung seiner Pflichten braucht? Die Forderung, daß der Staat
sich gute Bürger erziehen müsse, ist uralt. Schon Plato hat sie gestellt, und
Fichte hat sie in seinen Reden an die deutsche Nation wiederholt. Ausdrücklich
fordert er Unterricht über Gesetzgebung und Verfassung des Staates. Der Ge¬
danke hat aber in Deutschland nicht Wurzel geschlagen, man hat ihn nicht ver¬
folgt. So sehr man sich bemüht hat, das Volksschulwesen auszubauen, das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/25>, abgerufen am 23.07.2024.