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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Nationale politische Erziehung

Großindustriellen und einem Gutsbesitzer, die beide der nationalliberalen Partei
angehören, zur Jagd eingeladen, und zwar auf den Tag der UrWahlen- Ich
lehnte ab unter Hinweis auf meine Wahlpflicht und erwartete die Mitteilung,
daß ein Irrtum vorliege. Die kam aber nicht, die Jagd wurde abgehalten,
und hinterher sagten mir die Herren, daß sie an den Wahltag nicht gedacht
hätten. Keiner von ihnen machte sich Gedanken darüber, daß sie nicht nur selbst
ihrer Wahlpflicht nicht genügt, sondern auch die Treiber von der Erfüllung
dieser Pflicht abgehalten hatten. Ob das in Frankreich oder in England wohl
möglich wäre? Wohl kaum. Es ist nur möglich in einem Lande, in dem das
politische Leben sehr schwach entwickelt ist. Man sehe nur um sich und beobachte,
worüber Männer aller Kreise sprechen, wenn sie beisammen sind, was in
Deutschland am Biertische bekanntlich oft geschieht. Sie sprechen über die kleinen
Dinge des täglichen Lebens, über ihr Geschüft, über den neusten Unfall, selten
über Politik. Selbst wenn die Zeitungen eben Nachrichten gebracht haben, die
von allgemeiner Bedeutung sind, ist das Interesse nach kurzer Zeit erschöpft.
Wie oft kann man in solchen Fällen sagen hören: Wir können es ja doch
nicht ändern. Es fehlt dem Deutschen das Gefühl dafür, daß die Angelegen¬
heiten des Staates seine eignen Angelegenheiten sind, daß seine Interessen mit
denen des Staates aufs engste verbunden sind, und daß, wenn der Staat jedem
Untertanen das Recht zuerkennt, an seinem Teile an der Leitung der Stcmts-
geschüste mitzuwirken, daß dem dann auch die Pflicht gegenübersteht, über diese
Staatsgeschäfte nachzudenken, sich für sie zu interessieren und sie zu fördern.
Es fehlt dem Deutschen aber vor allen Dingen das stolze Selbstbewußtsein,
das den Engländer auszeichnet, der Wunsch und der Wille, selbst mitzuwirken
an der Regelung der öffentlichen Angelegenheiten, seinen Einfluß zur Geltung
zu bringen und dafür zu sorgen, daß die Staatsgeschäfte im Einklange mit den
Wünschen des Volkes geführt werden. Über solche Dinge hat die Regierung
nachzudenken, dafür ist sie ja da. Ist man dann mit dem, was die Regierung
tut, nicht einverstanden, so wird geschimpft, und bei der nächsten Wahl setzt sich
der Unmut nur zu oft in einen sozialdemokratischen Stimmzettel um.

Aber noch mehr. Es fehlt bei uns nicht nur an politischem Interesse und an
der Neigung zu politischer Beendigung, es fehlt auch einer geradezu erschreckend
großen Zahl von Deutschen, und zwar nicht nur der untern Klassen, sondern auch
der höhern Kreise und sogar derer, die studiert haben, an den elementarsten
Kenntnissen unsrer Staatseinrichtungen. Das ist keine Übertreibung, jeden Tag
kann man sich im Gespräch davon überzeugen, daß es so ist. Es ist natürlich
nicht merkwürdig, wenn Juristen unsre Staatsverfassung kennen, da sie ge¬
zwungen sind, sich mit ihr zu beschäftigen, aber man frage einmal nach in den
Kreisen derer, die andern studierenden Berufen angehören, und man wird schon
recht erstaunliche Erfahrungen machen. Dann gehe man zu Industriellen und
Kaufleuten, in die Kreise des Kleinbürgertums und weiter zu den Arbeitern,
und man wird Wunder erleben. Als Herr Huret vom Figaro Deutschland


Nationale politische Erziehung

Großindustriellen und einem Gutsbesitzer, die beide der nationalliberalen Partei
angehören, zur Jagd eingeladen, und zwar auf den Tag der UrWahlen- Ich
lehnte ab unter Hinweis auf meine Wahlpflicht und erwartete die Mitteilung,
daß ein Irrtum vorliege. Die kam aber nicht, die Jagd wurde abgehalten,
und hinterher sagten mir die Herren, daß sie an den Wahltag nicht gedacht
hätten. Keiner von ihnen machte sich Gedanken darüber, daß sie nicht nur selbst
ihrer Wahlpflicht nicht genügt, sondern auch die Treiber von der Erfüllung
dieser Pflicht abgehalten hatten. Ob das in Frankreich oder in England wohl
möglich wäre? Wohl kaum. Es ist nur möglich in einem Lande, in dem das
politische Leben sehr schwach entwickelt ist. Man sehe nur um sich und beobachte,
worüber Männer aller Kreise sprechen, wenn sie beisammen sind, was in
Deutschland am Biertische bekanntlich oft geschieht. Sie sprechen über die kleinen
Dinge des täglichen Lebens, über ihr Geschüft, über den neusten Unfall, selten
über Politik. Selbst wenn die Zeitungen eben Nachrichten gebracht haben, die
von allgemeiner Bedeutung sind, ist das Interesse nach kurzer Zeit erschöpft.
Wie oft kann man in solchen Fällen sagen hören: Wir können es ja doch
nicht ändern. Es fehlt dem Deutschen das Gefühl dafür, daß die Angelegen¬
heiten des Staates seine eignen Angelegenheiten sind, daß seine Interessen mit
denen des Staates aufs engste verbunden sind, und daß, wenn der Staat jedem
Untertanen das Recht zuerkennt, an seinem Teile an der Leitung der Stcmts-
geschüste mitzuwirken, daß dem dann auch die Pflicht gegenübersteht, über diese
Staatsgeschäfte nachzudenken, sich für sie zu interessieren und sie zu fördern.
Es fehlt dem Deutschen aber vor allen Dingen das stolze Selbstbewußtsein,
das den Engländer auszeichnet, der Wunsch und der Wille, selbst mitzuwirken
an der Regelung der öffentlichen Angelegenheiten, seinen Einfluß zur Geltung
zu bringen und dafür zu sorgen, daß die Staatsgeschäfte im Einklange mit den
Wünschen des Volkes geführt werden. Über solche Dinge hat die Regierung
nachzudenken, dafür ist sie ja da. Ist man dann mit dem, was die Regierung
tut, nicht einverstanden, so wird geschimpft, und bei der nächsten Wahl setzt sich
der Unmut nur zu oft in einen sozialdemokratischen Stimmzettel um.

Aber noch mehr. Es fehlt bei uns nicht nur an politischem Interesse und an
der Neigung zu politischer Beendigung, es fehlt auch einer geradezu erschreckend
großen Zahl von Deutschen, und zwar nicht nur der untern Klassen, sondern auch
der höhern Kreise und sogar derer, die studiert haben, an den elementarsten
Kenntnissen unsrer Staatseinrichtungen. Das ist keine Übertreibung, jeden Tag
kann man sich im Gespräch davon überzeugen, daß es so ist. Es ist natürlich
nicht merkwürdig, wenn Juristen unsre Staatsverfassung kennen, da sie ge¬
zwungen sind, sich mit ihr zu beschäftigen, aber man frage einmal nach in den
Kreisen derer, die andern studierenden Berufen angehören, und man wird schon
recht erstaunliche Erfahrungen machen. Dann gehe man zu Industriellen und
Kaufleuten, in die Kreise des Kleinbürgertums und weiter zu den Arbeitern,
und man wird Wunder erleben. Als Herr Huret vom Figaro Deutschland


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/24>, abgerufen am 25.08.2024.